Sprache - Sprechen - Schreiben    zurück ]    [ Stichworte ]    [ Die Hyper-Bibliothek ]    [ Systemtheorie ]     [ Meine Bücher ]     [ Meine Blogs ]
 
bild

"Es ist üblich, aber gleichwohl historisierend naiv, Text als Vergegenständlichung einer nicht-gegenständlichen Sprache aufzufassen, und so zu tun, als ob „Sprache" sehr viel mit Bewusstsein und Geist, aber nur ganz wenig mit konstruierten, materiellen Strukturen zu tun hätte." Todesco, R.: Was heisst Konstruktion. In: Rusch, G. / S.J. Schmidt (Hrsg): Konstruktivismus in Psychiatrie und Psychologie, Delfin, Suhrkamp 1999

bild bild bild

Sprache, Sprechen und Schreiben stehen hier als exemplarisches Beispiel dafür, wie ich vor dem Definieren Begriffe phänographisch trenne, die ich Wortfamilien und Wortfeldern zurechne, die ich auf Tätigkeiten zurückführen kann. Begriffe, die ich pragmatisch für anfassbare Gegenstände verwende, betrachte ich nicht als von Tätigkeiten abgeleitet. Hier geht es um Begriffe, die ich als Substantivierungen von Verben erkenne, die ich in diesem Sinne für Verdinglichungen oder Hypostasierungen von Tätigkeiten verwende. Sprache erkenne ich zunächst als Ableitung von Sprechen.

Bevor ich mir also Gedanken über das mache, was ich als Sprache bezeichne, unterscheide ich Sprache von Sprechen. Da ich bei meiner Begriffsbildung herstellende Tätigkeiten als primäre Kategorie verwende, beobachte ich anstelle des Sprechens das Schreiben, weil ich beim Schreiben materielle Gegenstände, beispielsweise Buchstaben aus Graphit herstelle.

Schreiben gehört nicht zur Wortfamilie von sprechen, es ist ein anderes Wort. In vielen Fällen kann ich aber eine Funktion erfüllen, indem ich spreche oder schreibe. Aufgrund dieser funktionellen Äquivalenz, spreche ich von einem Wortfeld, in welchem sprechen und schreiben eine wesentliche Bedeutung teilen. Die beim Schreiben hergestellten Gegenstände helfen mir, diese Bedeutung als Gegenstandsbedeutung zu verstehen.

Als Sprechen bezeichne ich dann eine Vertonung von Schriftzeichen, wie ich sie etwa beim Vorlesen erkenne. Ich muss die Schriftzeichen beim Sprechen nicht vor meinen Augen haben. Ich kann sie mir vorstellen. Beim Sprechen weiss ich, dass ich das Gesagte auch geschrieben haben könnte. Beim Schreiben stelle ich die Symbole als materielle Gegenstände her. Beim Sprechen verweise ich in dieser Notation mit Lauten auf diese symbolischen Gegenstände, was ich als Vertonung bezeichne. Ich könnte natürlich auch die Laute selbst als Symbole auffassen. Aber dann wären die Symbole keine hergestellten Gegenstände.

Ich gehe davon aus, dass sich das Sprechen und das Schreiben als Tätigkeiten entwickelt haben, also nicht in der heutigen Form auf die Welt gekommen sind. Sprechen muss keineswegs in wohlgeformten Sätzen passieren und schreiben kann ich ohne eine Grammatik zu kennen. Von Sprechen und Schreiben spreche ich aber in einem phänographischen Sinn nur, wenn ich damit auf etwas verweisen, was nicht aktuell ist. Beides beruht auf einem Verwenden von Symbolen, was in diesem Fall das Wortfeld bezeichnet.

Als Kleinkind lernte ich das Sprechen vor dem Schreiben. Mit der etwas überdehnten biogenetischen Regel von E. Haeckel könnte ich daraus folgern, dass die Menschen zuerst gesprochen und erst später geschrieben haben. Feststellen lässt sich das natürlich nicht. Hier verfolge ich aber ohnehin eine Perspektive, in welcher ich die Entwicklung der Sprache logisch-genetisch rekonstruiere. Dabei kümmert mich nicht, was in den Augen von Historikern zuerst war. Logisch-genetisch entscheidend scheint mir, dass Schreiben schon einen Sinn hat, bevor gesprochen wird, insbesondere weil ich beim Schreiben im Sinne von Aufschreiben etwas für mich tun kann, also keine Vereinbarungen mit anderen Menschen voraussetzen muss.

Eine Art Keimform des gegenständlichen Symbols erkenne ich in einer Zeichnung. Zeichnungen kann ich als Darstellung oder als Zeichen sehen. Zeichnen ist eine Tätigkeit, bei welcher ich wie beim Schreiben materielle Gegenstände herstelle. Wenn die Zeichnung nur als Zeichen dienen muss, kann sie sehr einfach sein, was die Logogramme der chinesischen Schrift als vormalige Zeichnungen zeigen. Der wohl ursprüngliche Fall von eigentlichen Symbolen sind Markierungen wie Kerben oder Gravuren, beispielsweise ein Anzahl Striche, die für eine Anzahl von Gegenständen steht, die gerade nicht zuhanden sind. Kerben auf einem Pfeilbogen können unter anderem etwa auf eine Anzahl erlegter Opfer oder auf einen bestimmten Besitzer verweisen. Es sind Symbole, die ich als Hersteller quasi mit mir selbst vereinbare. Ich weiss, woran mich die Kerben oder eben auch bestimmte Zeichnungen erinnern sollen. Auch wenn kein anderer Mensch wissen oder erkennen kann, worauf ich verwiesen habe.

bild bild
Bildquelle: Wikipedia

Der Zweck der Symbole verlangt, dass verschiedene Symbole auf verschiedene Referenzobjekte verweisen und dass ich entsprechend viele verschiedene Symbole herstellen und unterscheiden kann. Ich kann Symbole so kombinieren, dass weitere Symbole entstehen. Ich kann dabei - wie es etwa die Chinesen tun - elementare Symbole zusammensetzen. Ich kann Symbole aber auch aus "Zeichenkörper" zusammensetzen, die für sich keine Symbole sind. Das Symbol "Tisch" besteht aus einer Aufreihung von Buchstaben, die nichts bedeuten, ausser eben dass sie als Schriftzeichen verwendet werden. Das Symbol Tisch kann ich nicht auf eine davorliegenden Zeichnung zurückführen, wie das bei den chinesischen Logogrammen immer noch oft getan wird.

Ich kann Symbole herstellen, ohne etwas zu schreiben. Das mache ich inbesondere beim Zeichnen. Damit ich das Herstellen von Symbolen als Schreiben bezeichne, muss ich die Symbole als Teile eines Textes auffassen. Als Text bezeichne ich eine Anordnung von Symbolen, die unabhängig davon, wozu ich den Text verwende, einer Grammatik entspricht. Als Texte sind sich ein Computerprogramm und ein Liebesbrief in diesem abstrakten Sinn gleich. Die Grammatik definiert, welche Schriftzeichen wie angeordnet werden können und mithin, was ich schreiben kann.

Beim Schreiben verwende ich neben - oder innerhalb - einer jeweiligen Grammatik die Zeichen einer jeweils bestimmten Schriftart, die festlegt, wie die Schriftzeichen im Sinne von Glyphen aussehen, also wie sie gezeichnet werden müssen. Durch die Schriftart - die ich ohne weiteres nur mit mir selbst vereinbaren kann - erreiche ich, dass ich verschiedenen Symbole reproduzieren und später wieder lesen kann.

Beim Schreiben verwende ich neben - oder innerhalb - einer jeweiligen Grammatik eine jeweils bestimmte Sprache, die festlegt, welche Symbole für welche Symbole stehen. Natürlich kann ich eine beliebige Sprache verwenden. In der Sprache, die ich hier verwende - ich bezeichne sie als deutsche Sprache - gibt es das Symbol "Tisch". Das Symbol "Tisch" steht für verschiedene andere Symbole, beispielsweise für das Symbol "ein Möbel, an welches ich mich beispielsweise zum Essen setze". Diese Vereinbarungen lege ich durch Wörterbücher fest, die ich als semantische Lexika bezeichne.

Ob solche Wörterbücher Teil der Grammatik sind, ist einen Frage der Vereinbarung des Symbols "Grammatik". Auch wenn ich hier von einer deutschen Sprache spreche, ist klar, dass es dafür unendlich viele verschiedene Vereinbarungen gibt. Korrekterweise muss ich von meiner je eigenen deutschen Sprache sprechen. Wenn die Sprache als Kommunikationsmittel zwischen verschiedenen Menschen verwendet wird, werden viele Unterschiede von den Beteiligten assimiliert. Wo das nicht funktioniert, werden die Wörterbücher nachgeführt.

Die Vertonung der Symbole beim Sprechen muss natürlich auch vereinbart sein, damit das Sprechen seine wesentliche Funktionen erfüllen kann, die darin besteht, mit bestimmten Geräuschen oder Lautfolgen auf die entsprechenden hergestellten Symbole zu verweisen. Es gibt mittlerweile Automaten, die Text so vertonen, wie ich es beim Vorlesen tue. Am PC kann ich mir Texte vorlesen lassen und umgekehrt kann ich sprechend Texte herstellen, die ich mir in beliebige Sprachen übersetzen lassen kann.

Ich spreche, wenn mir schreiben zu umständlich ist. Ich nehme dabei, wenn ich das Gespräch nicht aufzeichne, die Flüchtigkeit in Kauf. Sprache jedenfalls werde ich auf Schreiben beziehen.

Fortsetzung folgt


 


Sprechen als Vertonung von Geschriebenem

bild


 
Wir werden zu zeigen versuchen, dass es kein sprachliches Zeichen gibt, dass der Schrift vorher ginge. Derrida, Jacques: Grammatologie, S.29

bild


Schreiben und Sprechen betrachte ich als funktionell verwandte Tätigkeiten. Schreiben betrachte ich als herstellende Tätigkeit. Beim Schreiben hinterlasse ich einen materiellen Gegenstand, den ich als Text bezeichne. Das Sprechen betrachte ich als eine "Vertonung von Text". Ich befasse mich deshalb hier nur mit dem Schreiben, mit dem Herstellen von Text. Dabei geht es nicht darum, was einem jeweiligen Text steht, oder was man dort lesen könnte, sondern um den in Form von Schriftzeichen hergestellten Gegenstand und dessen Gegenstandsbedeutung.

Mir ist bewusst, dass ich das Wort Text und damit verbunden die Wörter schreiben, lesen und sprechen hier in dem engen Sinn der Kommunikationstheorie von C. Shannon verwende, worin Inhalte keine Rolle spielen, dass ich aber gleichwohl darüber schreibe, wie ich diese Wörter verwende, also Inhalte produziere. Ich werde später darauf zurückkommen, vorerst aber nur das Schreiben als Tätigkeit betrachten. L. Wittgenstein hat dazu in seinen Untersuchungen (PU156) vorgeschlagen, das Schreiben von noch unbeholfenen Menschen zu beobachten, die sich noch gar nicht um Inhalte kümmern können, weil sie das Schreiben erst lernen müssen. Ich schlage dagegen vor, das Produkt des Schreibens zu beobachten, gleichgültig was sein "geistiger" Inhalt sei. Der herzustellende Gegenstand bestimmt wesentliche Aspekte der herstellenden Tätigkeit.

Texte haben als Artefakte eine Gegenstandsbedeutung, einen Zweck und einen Sinn. Als Gegenstände haben Texte keine Funktion, sie können verschiedene Funktionen erfüllen. Hier verwende ich Text zur Erläuterung, was ich mit Text bezeichne.

Ich beginne mit der Gegenstandsbedeutung. Die Gegenstandsbedeutung von Text liegt nicht in einer irgendwie gearteten inhaltlichen Bedeutung, die mittels Text übermittelt werden soll, sondern darin, wozu ich Text als solchen herstelle, unabhängig davon, was ich darin (be)schreibe. Ich schreibe, damit ich oder ein anderer lesen kann. Auf die Reflexion während des Schreibens, die H. von Kleist als allmähliche Verfertigung der Gedanken hervorgehoben hat, werde ich später eingehen.

Im Commonsense wird lesen oft für "schriftlich niedergelegte Gedanken aufnehmen" verwendet. Hier ist von etwas ganz anderem die Rede. Hier spielt keine Rolle, wozu ich lese, sondern nur was ich mache, wenn ich lese. Ich beobachte zunächst den einfachsten, unmittelbaren Fall, in welchem ich mein handgeschriebenen Notizen oder ein Buch lese. Die technologische Metapher, in welcher Geräte "lesen" (abtasten), behandle ich später separat.

bild bild

Als Lesen bezeichne ich das bewusste Wahrnehmen der doppelten Gegenstandsbedeutung von Text, wobei ich den materiell hergestellten Gegenstand, den ich Text nenne, als Symbol betrachte, der mein sinnliches Wahrnehmen steuert und - beispielsweise via Wörterbücher - auf anderen Text verweist.

Nicht der Text kommt beim Lesen in meine Augen, sondern das am Text gebrochene Licht kommt als Signal auf meine lichtsensible Retina. Ich kann jeden materiellen Gegenstand sehen, weil er Licht bricht. Im Dunklen kann ich ihn nicht sehen und wenn ich ins Licht schaue, kann ich die Quelle des Lichts nicht sehen. Ich kann natürlich eine leuchtende Glühbirne sehen, wenn sie mich nicht blendet, also wenn mich das Licht für dessen Quelle nicht blind macht.

Wenn ich Text vertone, produziere ich anstelle der Lichtwellen fürs Auge Schallwellen fürs Ohr. Wenn ich spreche, erzeuge ich die Schallwellen ohne Werkzeug mittels meiner Sprechorgane. Wenn ich die Vertonung mit einem Computer mache, verwende ich ein Werkzeug, das mit meinen Sprechorganen sehr wenig Ähnlichkeit hat, aber dieselbe Funktion erfüllt.

Ich kann alle hergestellten Gegenstände, die nicht durchsichtig sind (siehe F. Heider), sehen. Aber sehr viele der hergestellten Gegenstände mache ich nicht dazu, dass ich sie sehen kann. Einen Hammer stelle ich nicht dazu her, dass ich ihn anschauen kann. Das Fensterglas wird sogar so gemacht, dass ich es nicht sehen kann. Gegenstände, die eigens dazu gemacht werden, dass ich sie betrachte, bezeichne ich als Symbole, wobei nicht alle Symbole Texte sind. Ein Kunstmaler schreibt nicht.

Den Zweck des Verweisens können Texte nur erfüllen, wenn ich sie als hergestellte Gegenstände wahrnehmen kann. Schriftzeichen müssen dazu einige Bedingungen erfüllen. Sie dürfen sich hinreichend lange nicht wie gesprochene Worte verflüchtigen, müssen als aus entsprechend festem Material bestehen, das sich aber trotzdem leicht formen lässt. Wenn die Schriftzeichen auf ein Trägermaterial wie etwa Papier aufgetragen werden, dürfen sie nicht dieselbe Farbe wie das Papier haben.

Entscheidend dafür, was ich als Text bezeichne, ist aber eine hinreichende Vielfalt der Schriftzeichen, damit sie auf verschiedene Gegenstände verweisen können.

Das erste Symbol, das ich erkenne, ist kein Symbol, sondern erfüllt die Funktion eines Symbols. Ein hergestellter Hammer erinnert mich daran, dass ich beispielsweise Nüsse öffnen kann, auch wenn meilenweit keine Nuss zu sehen ist. Er verweist auf Nüsse, aber eben auch auf anderes mehr. Im Hammer steckt meine Antizipation von Gelegenheiten für dessen Verwendung. Wenn ich einen Hammer herstelle, weiss ich nicht nur, wozu ich ihn herstelle, sondern auch, dass ich ihn in bestimmten Situationen immer wieder verwenden werde. Darin erkenne ich ein Kriterium des Werkzeugherstellens. Wenn ich ad hoc ein Hilfsmittel herstelle, dass ich nach dem Gebrauch wegwerfe oder liegen lasse, wie das nicht nur manche Tiere tun, ist es kein Werkzeug, sondern allenfalls ein Keimform des Werkzeuges. Der Hammer soll nicht verweisen, sondern als Werkzeug dienen. Er verweist aber ungewollt auf vieles. Er fungiert als externes Gedächtnis, das in mir viele Vorstellungen wachruft. In diesem Sinne erfüllt er die Funktion eines Symbols ohne ein Symbol zu sein, so wie er auch die Funktion eines Briefbeschwerers erfüllen kann.

Mit der Erfahrung dieser Symbolfunktion kann ich auch Symbole herstellen, die ich für nichts anderes verwenden kann oder will. Ich kann beispielsweise eine Kerbe in ein Holz schlagen oder einen Knopf ins Taschentuch machen. Die Kerbe im Holz hat auch auch eine Keimform in einer absichtlich hergestellten Spur an einem Baum (Markierung) am Wegrand, die etwas ganz andres ist, als die Spur im Schnee, die ich nicht vermeiden kann, die aber in der Literatur oft als Anzeichen bezeichnet wird. J. Derrida meint sogar, er könne jede Symbolverwendung auf diese Spur im Schnee dekonstruieren.

Die Kerbe, die ich in ein Holz schlage, ist ein Symbol für mich, solange nur ich weiss, wofür sie steht. Im Unterschied zu einer eigentlichen Spur oder einem Hammer zeigt die Kerbe - auch mir - nicht, wofür sie steht. Ich weiss aber natürlich, dass ich mit einer identischen Kerbe - vom Homonym abgesehen - nicht auf etwas anderes verweisen kann, ohne den Sinn des Verweisens aufzuheben. Verschiedene Referenzobjekte verlangen verschiedene Symbole - auch wenn ich die Symbole nur für mich selbst verwende.


 


Abhandlung über den Ursprung der Sprache

bild


 
Wir ..inge. Derrida...., S.29

bild