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Im Comonsense à la Wikipedia wird lesen für "schriftlich niedergelegte Gedanken aufnehmen" verwendet. Hier ist von etwas ganz anderem die Rede. Hier spielt keine Rolle wozu ich lese, sondern nur was ich mache, wenn ich lese.

Ich beobachte zunächst den einfachsten, unmittelbaren Fall, in welchem ich mein handgeschriebenen Notizen oder ein Buch lese. Die technologische Metapher, in welcher Geräte "lesen" (abtasten), behandle ich unten separat.


 

Als Lesen bezeichne ich das bewusste Wahrnehmen der doppelten Gegenstandsbedeutung von Text, wobei ich den materiell hergestellten Gegenstand, den ich Text nenne, als Symbol betrachte, der mein sinnliches Wahrnehmen steuert und - beispielsweise via Wörterbücher - auf anderen Text verweist.

Nicht der Text kommt beim Lesen in meine Augen, sondern das am Text gebrochene Licht kommt als Signal auf meine lichtsensible Retina. Ich kann jeden materiellen Gegenstand sehen, weil er Licht bricht. Im Dunklen kann ich ihn nicht sehen und wenn ich ins Licht schaue, kann ich die Quelle des Lichts nicht sehen. Ich kann natürlich eine leuchtende Glühbirne sehen, wenn sie mich nicht blendet, also wenn mich das Licht nicht für dessen Quelle blind macht.

Ich kann alle hergestellten Gegenstände, die nicht durchsichtig sind (siehe F. Heider), sehen. Aber sehr viele der hergestellten Gegenstände werden nicht dazu gemacht, dass ich sie sehen kann. Das Fensterglas wird sogar so gemacht, dass ich es nicht sehen kann. Gegenstände, die eigens dazu gemacht werden, dass ich sie betrachte, bezeichne ich als Symbole, wobei nicht alle Symbole Texte sind.

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Materiell hergestellte Symbole haben doppelte Gegenstandsbedeutung. Sie verweisen auf etwas. Diesen Zweck können sie nur erfüllen, wenn ich sie als materielle Gegenstände wahrnehmen kann. Ich muss sie überdies untereinander unterscheiden können, damit sie auf verschiedene Gegenstände verweisen können. Sie müssen das Licht in verschiedenen Mustern brechen. Verschiedene Wörter bestehen aus verschiedenen Anordnungen von Buchstaben und Texte sind Anordnungen von Wörtern.

Texte verlangen als Gegenstände eine bestimmte Verwendung. Ich muss einen bestimmten Text beispielsweise von links nach rechts lesen. Das Lichtmuster, das durch Text erzeugt wird, ....

ausführlicher: Sprache - Sprechen - Schreiben

Spezialfall: Hyperleser


Lesen als technologische Metapher für abtasten:

In der Technologie wird Lesen auch für bestimmte Operationen in elektronischen Geräten verwendet. In diesen Fällen gehen die Signale nicht in eine Auge, sondern beschreiben - etwa in einem Computer, wenn ich Text ein-einscanne - einen elektronischen Speicher.

Die Metapher reflecktiert, dass auch in all diesen Fällen am Ende doch ein Mensch auf irgendeine Weise "liest", was durch die jeweilige Modulation der Signale hergestellt wird.

Ein typischer Fall dieses Lesens betrifft den Zustand eines Registers in einem Prozessor, in welchem ein Datum gespeichert ist, das in ein weiteres Register übertragen werden muss. Man spricht auch von Barcodelesern und von Leseköpfen, die Magnetkarten oder DVDs lesen. Eigentlich lese ist dabei mittels spezieller Geräte "elektronisch gespeicherte" Texte.

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Literatur:

U. Eco spricht von etwas ganz anderem: Er unterscheidet in "Lector in fabula" zwischen Lesen und Text benutzen. Differenztheoretisch ist Lesen die Differenz zwischen Lesen und Text benutzen.
Eco meint, Lesen sei ein Werk nach seiner Intention zu befragen, also zweckfreies Lesen, Text benutzen sei eine text-, resp werkfremde Absicht, die Beweise oder Zitatstellen suche. Letzteres hat Auftrieb durch die Digitalisierung.

Plato: Pharao wirft dem Gott Thot vor, dass er die Schrift erfunden hat: "Es ist vorbei, sagt Pharao, der Mensch wird nie wieder fähig sein, die eigenen Gedanken und die eigenen Erinnerungen zu kultivieren, denn du lehrst ihn, seine Seele auf Täfelchen und Papyri zu vergegenständlichen. Adieu, Gedächtnis, nun werden die Menschen lernen, sich mittels dieser Apparate zu erinnern ... "(Eco: 99).

L. Wittgenstein schreibt eigenartig, aber nicht ganz anders als ich:
Dies wird klarer werden, wenn wir die Betrachtung eines andern Wortes einschalten, nämlich des Wortes “lesen”. Zuerst muß ich bemerken, daß ich zum ‘Lesen’, in dieser Betrachtung, nicht das Verstehen des Sinns des Gelesenen rechne; sondern Lesen ist hier die Tätigkeit, Geschriebenes oder Gedrucktes in Laute umzusetzen; auch aber, nach Diktat zu schreiben, Gedrucktes abzuschreiben, nach Noten zu spielen und dergleichen.
Der Gebrauch dieses Worts unter den Umständen unsres gewöhnlichen Lebens ist uns natürlich ungemein wohl bekannt. Die Rolle aber, die das Wort in unserm Leben spielt, und damit das Sprachspiel, in dem wir es verwenden, wäre schwer auch nur in groben Zügen darzustellen. Ein Mensch, sagen wir ein Deutscher, ist in der Schule, oder zu Hause, durch eine der bei uns üblichen Unterrichtsarten gegangen, er hat in diesem Unterricht seine Muttersprache lesen gelernt. Später liest er Bücher, Briefe, die Zeitung, u. a.
Was geht nun vor sich, wenn er, z. B., die Zeitung liest? - Seine Augen gleiten - wie wir sagen - den gedruckten Wörtern entlang, er spricht sie aus, - oder sagt sie nur zu sich selbst; und zwar gewisse Wörter, indem er ihre Druckform als Ganzes erfaßt, andere, nachdem sein Aug die ersten Silben erfasst hat, einige wieder liest er Silbe für Silbe, und das eine oder andre vielleicht Buchstabe für Buchstabe. - Wir würden auch sagen, er habe einen Satz gelesen, wenn er während des Lesens weder laut noch zu sich selbst spricht, aber danach imstande ist, den Satz wörtlich oder annähernd wiederzugeben. - Er kann auf das achten, was er liest, oder auch - wie wir sagen könnten - als bloße Lesemaschine funktionieren, ich meine, laut und richtig lesen, ohne auf das, was er liest, zu achten; vielleicht während seine Aufmerksamkeit auf etwas ganz anderes gerichtet ist (so daß er nicht imstande ist, zu sagen, was er gelesen hat, wenn man ihn gleich darauf fragt).
Vergleiche nun mit diesem Leser einen Anfänger. Er liest die Wörter, indem er sie mühsam buchstabiert. - Einige Wörter aber errät er aus dem Zusammenhang; oder er weiss das Lesestück vielleicht zum Teil schon auswendig. Der Lehrer sagt dann, daß er die Wörter nicht wirklich liest (und in gewissen Fällen, dass er nur vorgibt, sie zu lesen).
Wenn wir an dieses Lesen, an das Lesen des Anfängers, denken und uns fragen, worin Lesen besteht, werden wir geneigt sein, zu sagen: es sei eine besondere bewusste geistige Tätigkeit.
Wir sagen von dem Schüler auch: “Nur er weiss natürlich, ob er wirklich liest, oder die Worte bloss auswendig sagt.” (Über diese Sätze “Nur er weiss, . . .” muß noch geredet werden.)
Ich will aber sagen: Wir müssen zugeben, daß - was das Aussprechen irgend eines der gedruckten Wörter betrifft - im Bewußtsein des Schülers, der ‘vorgibt’ es zu lesen, das Gleiche stattfinden kann, wie im Bewußtsein des geübten Lesers, der es ‘liest’. Das Wort “lesen” wird anders angewandt, wenn wir vom Anfänger, und wenn wir vom geübten Leser sprechen. - Wir möchten nun freilich sagen: Was im geübten Leser und was im Anfänger vor sich geht, wenn sie das Wort aussprechen, kann nicht das Gleiche sein. Und wenn kein Unterschied in dem wäre, was ihnen gerade bewußt ist, so im unbewußten Arbeiten ihres Geistes; oder auch im Gehirn. - Wir möchten also sagen: Hier sind jedenfalls zwei verschiedene Mechanismen! Und was in ihnen vorgeht, muss Lesen von Nichtlesen unterscheiden. - Aber diese Mechanismen sind doch nur Hypothesen; Modelle zur Erklärung, zur Zusammenfassung dessen, was du wahrnimmst." (Philosophische Untersuchungen, 156)

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