Sprechvermögen        zurück ]      [ Stichworte ]      [ Literatur ]      [ Die Hyper-Bibliothek ]      [ Systemtheorie ]         [ Meine Bücher ]

Als Sprechvermögen bezeichne ich - in Anlehnung ... die Organe, die die Artikulation, das Sprechen ermöglichen

Sprechvermögen[Bearbeiten] Das Zungenbein des Menschen: Die Gestalt dieses Knochens lässt Rückschlüsse zu auf das Sprechvermögen seines Besitzers. Die Befähigung zu einer äußerst komplexen Artikulation unterscheidet den anatomisch modernen Menschen von allen anderen Menschenaffen. Wann sich das hierauf gründende Sprechvermögen entwickelte und welcher Selektionsdruck dies bewirkte, ist mangels fossiler Belege weitgehend unbekannt. Möglicherweise dienten die für das Sprechen erforderlichen komplexen Muskelbewegungen (schnelle und koordinierte Bewegungen der Lippen, des Unterkiefers und der Zunge) zunächst dem Mienenspiel, also der visuellen Kommunikation.[123] Voraussetzung für das Entstehen des Sprechvermögens war unter anderem die Herausbildung eines unter den Primaten einzigartigen Vokaltrakts und dessen motorischer Kontrolle sowie die geistige Fähigkeit, mit einer endlichen Anzahl von Lauten eine unendliche Anzahl von Bezeichnungen zu erzeugen, indem die Laute in einer bestimmten Abfolge (Syntax) angeordnet werden: „Im Vergleich zu den Menschenaffen liegt der für die Spracherzeugung wichtige Kehlkopf tiefer und ist zudem in wichtigen Details, beispielsweise den Stimmbändern, anders konstruiert.“[124] Insbesondere die freie Beweglichkeit der Zunge trägt dazu bei, dass eine besonders große Vielfalt an Lauten erzeugt werden kann.[125] Seit dem Fund des Zungenbeins eines Neandertalers im israelischen Karmelgebirge Mitte der 1980er-Jahre gilt es als gesichert, dass die anatomischen Voraussetzungen für sprachliche Kommunikation auch beim Neandertaler gegeben waren. Ob dies auch schon für den letzten gemeinsamen Vorfahren von Neandertaler und Homo sapiens gilt, ist hingegen unklar. Welche Bedeutung einer Mutation des für das Forkhead-Box-Protein P2 codierenden Gens zuzuschreiben ist – dem in den Massenmedien die Rolle eines „Sprachgens“ zugeschrieben wurde[126] – ist gleichfalls unklar. Einer paläogenetischen Studie zufolge soll es seit 200.000 Jahren in der heute beim Menschen nachweisbaren Form existieren.[127] Stammesgeschichtlich wesentlich älter ist hingegen die Fähigkeit von Menschenaffen, Symbol-Kombinationen zu bilden und anderen Individuen mitzuteilen. Das haben beispielsweise seit den 1970er-Jahren die Forschungen von Roger Fouts an Schimpansen ergeben:[128] „Sie haben also die auditiven und kognitiven Fähigkeiten, Sprache zu ‚verstehen‘, obwohl sie selbst nicht sprechen können. Aus diesen Experimenten ist zu schließen, daß das syntaktische und symbolische Verständnis in anderen Verhaltensbereichen evolviert worden ist, nämlich bei der sozialen Kognition. Mensch und nicht-menschliche Primaten unterscheiden sich hierin nicht fundamental.“[124] Der wesentliche Unterschied zwischen menschlicher Sprache und den Lautäußerungen anderer Tiere ist die Grammatik, die es ermöglicht, komplexe Zusammenhänge darzustellen. Menschen sind nur in einer sensiblen Phase der Kleinkindzeit in der Lage die Grammatik einer Sprache spontan vollständig zu erlernern und sie akzentfrei sprechen zu lernen. Kleinkinder, die in einer Umgebung aufwachsen, in der keine voll ausgebildete Sprache zur Kommunikation verwendet wird – zum Beispiel in Situationen, in denen in einem Pidgin kommuniziert wird –, machen daraus im Umgang miteinander spontan wieder eine Sprache mit allen grammatikalischen Funktionen – eine sogenannte Kreolsprache.[129] Steven Pinker leitete daraus die Vorstellung von einem „Sprachinstinkt“ ab, der recht weitgehend die Eigenarten natürlicher Sprachen vorgeben soll.[130] Im Gegensatz dazu sind Menschenaffen zwar in der Lage, einzelne Wörter zu erlernen und sie zusammenzusetzen, um neue Bedeutungen auszudrücken, sie können aber keine grammatisch korrekten Sätze bauen, um komplexere Bedeutungszusammenhänge darzustellen.[131] Eine Hypothese, die von vielen Forschern vertreten wird, besagt, dass Kommunikation durch Laute allmählich die soziale Fellpflege ersetzt habe und – wie diese – zum Zusammenhalt der Gruppe beitrug,[132] das heißt, die Sprechfähigkeit entstand „in einem hochgradig sozialen, potentiell kooperativen Kontext, verknüpft und einhergehend mit mindestens drei Merkmalen: gemeinsame Aufmerksamkeit, gemeinsame Absichten und Theory of Mind.“[133] Wann sich, unter anderem aufbauend auf diesen Fähigkeiten, den anatomischen Veränderungen des Vokaltrakts und der Ausbildung des heutigen Sprachzentrums, die lautliche Kommunikation zur Symbolsprache entwickelte, lässt sich nach heutigem Stand des Wissens erst dann klären, „wenn wir aus dem archäologischen Befund unmißverständliche Belege für syntaktische und symbolhafte, auf hohem Niveau angesiedelte sprachliche Fähigkeiten haben. Auf dem Homo-erectus-Stadium waren diese Qualifikationen wohl noch nicht erreicht.“[124] ↑ Kulturell tradierte Merkmale[Bearbeiten] Zu den kulturell tradierten Merkmalen zählen beim Menschen unter anderem Geschichtlichkeit und Moral sowie die Weitergabe von Wissen durch Sprache (das heißt durch symbolische Kommunikation), die mit steigender Gruppengröße wesentlich komplexere Kooperation,[134] das Anfertigen von Kunstwerken und der Technikeinsatz. Prozesse der kulturellen Evolution werden seit den 1970er Jahren unter dem Begriff Kulturethologie erforscht.[135] Für Informationen, die allein durch menschliches Bewusstsein verbreitet und vermehrt („repliziert“) werden, schlug der Evolutionsbiologe Richard Dawkins im Jahre 1976 das Konzept der Memetik vor. Damit wurde ein Pendant zum Gen entworfen, wobei der Grundgedanke darin besteht, dass sich bestimmte Informationen („Meme“) aufgrund ihrer Vorteilhaftigkeit replizieren und gegenüber anderen Informationen durchsetzen, ebenso wie das „erfolgreiche“ Gene tun.[136] In diesem Sinne können Traditionen der Werkzeugherstellung (Beispiel: Faustkeil), Arbeitsprozesse (Beispiel: Feuer, Ackerbau) oder Rituale früher Hominiden als Meme bzw. Memplexe („Mem-Komplexe“) bezeichnet werden, die sich aufgrund ihrer Vorteilhaftigkeit von Gehirn zu Gehirn replizieren.[137] Ein solches Modell kann nützlich sein, um zum Beispiel die dominierende Rechtshändigkeit heutiger Menschen als Ergebnis einer memetischen Tradierung von Werkzeugherstellung und anderen Arbeitsprozessen zu verstehen. Der anatomisch moderne Mensch ist allerdings nicht die einzige Art, die erlernte Eigenschaften an die nachfolgende Generation weitergibt.[138] Ein bekanntes Beispiel ist das „Kartoffelwaschen“ einer Population von Japanmakaken auf der Insel Kōjima. In einer Übersichtsarbeit von Andrew Whiten und Jane Goodall wurden 1999 mehrere Dutzend gruppenspezifisch tradierte Verhaltensweisen bei Schimpansen nachgewiesen, darunter auch Werkzeuggebrauch bei Schimpansen,[139] 2001 wurde beispielsweise „Kultur bei Walen und Delfinen“ beschrieben,[140] 2003 bei Orang-Utans[141] und bei Weißschulterkapuzinern.[142] Ein wesentlicher Unterschied zwischen Tieren und dem Menschen besteht daher nicht in der Existenz von kulturell tradierten Merkmalen, sondern darin, dass Jungtiere sich durch Beobachtungslernen Verhaltensweisen ihrer Eltern aneignen, während Menschen ihr Wissen auch aktiver, durch Instruktionen (‚Lehrer‘ und ‚Schüler‘) weitergeben.


 
[wp]