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"Konsensueller Bereich" ist ein Konzept von H. Maturana, das mit Konsens nur vermittelt zu tun hat. Das Wort konsensuell hat dadurch zwei verschiedene Bedeutungen:
die hier nicht gemeinte Bedeutung "einvernehmlich" und
die hier gemeinte Bedeutung: pragmatisch.

Im Deutschen gibt es konsensuell und konsensual. Wenn die Wörter überhaupt unterschieden werden (zB Duden), soll konsensuell aus der medizinischen Terminologie kommen und sonst veraltet sein. Duden unterscheidet konsensual für einvernehmlich und konsensuell für übereinstimmend. Man kann darin übereinstimmen, dass es nicht einvernehmlich ist, wenn einer den anderen zwingt. Das Übereinstimmen entspricht der Verwendung des Ausdruckes hier eher. Wie das Wort consensual im Englischen verwendet wird, kann ich nicht einschätzen. Für H. Maturana ist Englisch auch eine Fremdsprache geblieben.

Als konsensuellen Bereich bezeichne ich - in Anlehnung an H. Maturana, 255/6H. Maturana - einen Bereich, der durch eine strukturelle Koppelung bestimmt wird. Der Beobachter, der die strukturelle Koppelung leistet, bezeichnet dabei einen Bereich, in welchem er sie leistet.

Wenn ich zwei operationell geschlossene Systeme als interagierend auffasse, bestimme ich damit einen konsensuellen Bereich, in welchem ich die Verhaltensweisen auf einander beziehen kann. Die Verhaltensweisen müssen zusammenpassen.

Beispiel:
Wenn ich beobachte, dass zwei Menschen auf eine bestimmte Weise interagieren (etwa abwechslungsweise Geräusche von sich geben), beziehe ich zwei getrennte Systemverhalten aufeinander, in dem ich die Sprache als konsensuellen Bereich einführe.


Textstellen

"Wenn zwei oder mehr Organismen in rekursiver Weise als strukturell plastische Systeme miteinander interagieren und jeder Organismus so zum Medium der Autopoiese des anderen wird, ergibt sich wechselseitige ontogentische Strukturkoppelung. (...) Ich werde daher den Bereich ineinandergreifdender Verhaltensweisen (..) einen konsensuellen Bereich nennen (Selbstzitat, 1975)
Ist ein solcher konsensueller Bereich einmal (..) hergestellt ...
An einem konsensuellen Bereich ist (..) bedeutsam, dass die beobachteten Organismen so beschrieben werden können, dass sie gleichzeitig als zusammengesetzte und als einfache Einheiten existieren und dass sie damit zwei einander nicht überschneidene Phänomenbereiche definieren. Im ersten Bereich kann der Beobachter die Organismen beschreiben, wie sie vermittels der Eigenschaft interagieren, im zweiten, wie sie aufgrund ihrer Merkmale als Einheiten interagieren" H. Maturana, 255/6

"Wenn zwei Lebewesen über längere Zeit hinweg interagieren, sich also gegenseitig zu Strukturänderungen anregen ('perturbieren'), 'parallelisieren' sich ihre Strukturen und dabei vor allem die Nervensysteme der beiden interagierenden Lebewesen. Diese gleichen sich immer mehr aneinander an, und es bilden sich Gemeinsamkeiten (partielle Isomorphien) aus. Diese gemeinsamen Strukturbereiche beider Lebewesen bezeichnet Maturana als konsensuelle Bereiche. (V. Riegas (1990:333)

Bemerkungen zum Begriff "Konsensueller Bereich"
Nun, wenn Organismen anfangen, ihre Handlungen derart zu koordinieren, dass man als Beobachter sagen kann, dass da eine konsensuelle Koordination von konsensuellen Koordinationen von Handlungen vorliegt, dann liegt ein neuer Phänomenbereich vor. Die im Verlauf dieses Prozesses auftretenden Phänomene sind nicht von den Phänomenen zu unterscheiden, die sich im Bereich der Sprache abspielen. Genau das nenne ich den Sprachprozess oder die Produktion von Sprache.

„Als lebende Systeme existieren wir in vollständiger Einsamkeit innerhalb der Grenzen unserer individuellen Autopoiëse. Nur dadurch, dass wir mit anderen durch konsensuelle Bereiche Welten schaffen, schaffen wir uns eine Existenz, die diese unsere fundamentale Einsamkeit übersteigt, ohne sie jedoch aufheben zu können. [...] Wir können uns nicht sehen, wenn wir uns nicht in unseren Interaktionen mit anderen sehen lernen und dadurch, dass wir die anderen als Spiegelungen unserer selbst sehen, auch uns selbst als Spiegelung des anderen sehen.“ Kognition; in: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, hrsg. von Siegfried J. Schmidt, S. 117, Frankfurt am Main, 1987


[ H. Maturana schreibt: ]

Konsensuale Domänen

Wenn zwei oder mehr Organismen als strukturell plastische Systeme rekursiv interagieren und dabei jeweils zum Medium für die Realisierung der Autopoiesis des anderen werden, entsteht eine wechselseitige ontogene strukturelle Kopplung. Aus der Sicht des Beobachters zeigt sich, dass die operative Wirksamkeit, die die verschiedenen Verhaltensweisen der strukturell gekoppelten Organismen für die Verwirklichung ihrer Autopoiesis im Rahmen ihrer wechselseitigen Interaktionen haben, während der Geschichte ihrer Interaktionen und durch ihre Interaktionen hergestellt wird. Darüber hinaus erscheint einem Beobachter der Bereich der Interaktionen, der durch eine solche ontogenetische strukturelle Kopplung spezifiziert wird, als ein Netzwerk von Sequenzen sich gegenseitig auslösender, ineinandergreifender Verhaltensweisen, das nicht von dem zu unterscheiden ist, was er oder sie einen konsensuellen Bereich nennen würde.

Tatsächlich sind die verschiedenen beteiligten Verhaltensweisen sowohl willkürlich als auch kontextabhängig. Die Verhaltensweisen sind willkürlich, weil sie jede beliebige Form haben können, solange sie als auslösende Störungen in den Interaktionen wirken; sie sind kontextabhängig, weil ihre Beteiligung an den ineinandergreifenden Interaktionen des Bereichs nur in Bezug auf die Interaktionen definiert ist, die den Bereich ausmachen. Dementsprechend werde ich die Domäne der ineinandergreifenden Verhaltensweisen, die aus der ontogenetischen wechselseitigen strukturellen Kopplung zwischen strukturell plastischen Organismen resultiert, eine konsensuelle Domäne nennen (Maturana, 1975).

Sobald eine konsensuelle Domäne etabliert ist, kann jedes Mitglied der Kopplung durch ein neues System ersetzt werden, das in Bezug auf die an der Kopplung beteiligten Strukturmerkmale dieselbe Struktur aufweist. Eine konsensuale Domäne ist also in Bezug auf die sie konstituierenden, ineinandergreifenden Leitungen geschlossen, aber in Bezug auf die Organismen oder Systeme, die sie realisieren, offen. (mit DeepL kostenlos)


 

Kommunikation im konsensuellen Bereich [Maturana, H.R.: Biologie der Realität, Ffm, S. 131 ff]

Die Aufgabe eines Beobachters, der ein Kommunikationsproblem zu lösen hat, besteht entweder in der Konstruktion eines Systems mit Sender- und Empfängerkomponenten, die durch ein Leitelement verbunden sind, so daß für Jeden unterscheidbaren Zustand, der im Sender produziert wird, ein einziger unter unterscheidbarer Zustand im Empfänger erzeugt wird, oder darin, ein vorgegebenes System so zu behandeln, als ob es wie das eben beschriebene technische System funktionierte.

Da es in den operationalen Bereichen, die wir hier erörtern, keine instruktiven Interaktionen gibt, müssen Sender und Empfänger operational kongruent sein, damit das Phänomen der Kommunikation entstehen kann. Mit anderen Worten: der Bereich möglicher Zustände des Senders und der Bereich möglicher Zustände des Empfängers müssen homomorph sein, so dass jeder Zustand des Senders einen eindeutigen Zustand des Empfängers auslöst. Wird ein Kommunikationssystem vom Beobachter gebaut, dann Wird derartige Homomorphie durch die Konstruktion selbst hergestellt; wird ein vorgegebenes System von einem Beobachter als Kommunikationssystem beschrieben, setzt dieser entsprechende Homomorphie in seiner Beschreibung voraus.

In der Tat kann jede Interaktion in trivialer Weise als Kommunikation beschrieben werden. Es muß daher gesehen werden, daß die gegenwärtige Auffassung der Kommunikation als einer Situltion, in der die interagierenden Systeme die Zustände des jeweils anderen durch die »Übertragung von Information« bestimmen, entweder falsch oder irreführend ist. Nimmt man dabei an, daß instruktive Interaktionen stattfinden, dann ist diese Auffassung falsch, soll sie lediglich metaphorisch sein, dann ist sie irreführend, da sie zu Modellen führt, die instruktive Interaktionen zumindest unterstellen. Derartige Irrtümer treten häufig auf, wenn die semantische Funktion der Sprache erklärt werden soll.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich, daß ein ausgebildeter sprachlicher Bereich ein Kommunikationssystem ist, das eine Verhaltenshomomorphie spiegelt, die durch die Koppelung von Strukturen entsteht. Mit anderen Worten: sprachliche Kommunikation findet immer dann statt, wenn ontogenetische Strukturenkoppelung erreicht worden ist; sie ist in diesem Sinne trivial, da sie zeigt, daß lediglich das System des Technikers verwirklicht worden ist. Was jedoch im Prozeß der Herstellung von Kommunikation durch die Entwicklung ontogenetischer Strukturenkoppelung und die Ausbildung des konsensuellen Bereiches geschieht, ist keineswegs trivial. In diesem Prozeß gibt es keine Verhaltenshomomorphie bei den interagierenden Organismen, und obwohl diese selbst streng als strukturdeterminierte Systeme operieren, ist alles, was aufgrund ihrer Interaktionen in dem System, das sie gemeinsam aufbauen, geschieht, neu und antikommunikativ, auch wenn sie in anderen konsensuellen Bereichen bereits zusammenwirken mögen.

Führt ein solcher Prozeß zu einem konsensuellen Bereich, dann handelt es sich dabei im strengen Sinne um eine »Kon-Versation«, um ein Sich-Miteinander-Wenden-Und-Drehen, und zwar auf solche Weise, daß alle Beteiligten nicht-triviale Strukturveränderungen so lange erfahren, bis Verhaltenshomomorphie erreicht ist und Kommunikation stattfinden kann. Diese prä-kommunikativen oder antikommunikativen Interaktionen, wie sie im Laufe einer Konversation stattfinden, sind kreative Interaktionen, die zu neuem Verhalten führen. Die Voraussetzungen für eine solche Konversation (gemeinsame Interessen, räumliche Nähe, Freundschaft, Liebe oder was immer die Organismen zusammenführen mag) die bewirken, daß die Organismen ihre Interaktion so lange fortsetzen, bis ein konsensueller Bereich hergestellt wird, bilden den Bereich, in dem die Selektion ontogenetischer Strukturenkoppelung erfolgt. Ohne diese Voraussetzungen könnte ein konsensueller Bereich nie hergestellt werden und Kommunikation im Sinne der Koordination nicht-kreativer, ontogenetisch erworbener Verhaltensweisen niemals zustande kommen.


 
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