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Das Wesen oder die Funktion der Bibliothek

Als System hat eine Bibliothek - wie etwa eine thermostatengeregelte Heizung - eine Funktion und eine Funktionsweise. Die Funktion der Bibliothek ist die Generierung und die Tradierung von Wissen in Form von Dialog und Monolog.

Die Bibliothek ist als lexikalische Akademie ein Vorläufer der Universitas und mithin der modernen Hochschule und der Schule überhaupt. In der Universitas waren noch keine Schulklassen und kein Curriculum vorhanden, entsprechend sind auch Didaktik und Pädagogik neuere Erfindungen. Die Bibliotheken und später die Universitäten waren ursprünglich Orte, an welchen Wissen zusammengetragen und abgeglichen wurde.

Vor der Erfindung des Buchdrucks machten die Blibliothekare, im wesentlichen also alle Besucher der Bibliotheken, Skripte der Vorträge und Nachschriften von Vorlesungen der Skripte. Mit der Erfindung des Buchdruckes fiel die Notwendigkeit dieses Bibliothekbetriebes weg. Die Erfindung des Buchdruckes entsprach einem Zeitgeist, in welchem das Bibliothekwesen ohnehin immer mehr zentralisiert wurde, und Zensurbehörden bestimmten, welche Texte in welcher Form einer generellen Autorenschaft entsprachen. Der Wortsinn von "Autor" ist autorisiert; eigentliche Autoren sind von Gott autorisiert, sie sind Medien Gottes, die Autorität spricht durch sie. U. Eco beschreibt im Name der Rose den hart umkämpften (Zer)Fall dieser Autorität, Eco's in der Bibliothek verbrennender Jorges ist eine Ikone der alten Zeit (Bücher als handgeschriebene Geheimlehren), Luther und Gutenberg sind Ikonen der neuen Zeit (Bücher als Massenmedien).

Die Bibliotheken liessen die Bücher, die nun in spezialisierten Universitäten vorgelesen wurden, drucken, und beschränkten sich zunehmend auf die Verwaltung des Buchbestandes. (Wissenschaftliche Bücher werden auch heute noch weitgehen über Bibliotheken finanziert, die den Verlagen eine Grundabsatz garantieren). Auch wenn die gedruckten Bücher anfänglich noch teuer waren, lohnte sich das Mitschreiben von Vorlesungen nicht mehr, weil man ja die Bücher in den Bibliotheken nachlesen konnte. Mit der Zentralisierung einhergingen eine Fixierung der Originalität und ein Copyright, zunächst in Form von Zitiervorschriften. (Merton hat viel später geschrieben, dass das Zitiertwerden der eigentliche Ansporn der Wissenschaft sei.)

Nachdem die Bücher für jedermann erschwinglich wurden, wurden Vorlesungen zum ursprünglichen Zweck der Nachschrift ganz obsolet. Die Vorlesung hat sich aus verschiedenen Gründen als Veranstaltung trotzdem gehalten. Oft waren und sind Vorlesungen eben nicht mehr Lesungen aus Büchern. Und oft wurde während der Vorlesung diskutiert, was beim vereinzelten Lesen des Buches natürlich nicht so gut möglich ist. Schliesslich macht das Mitschreiben auch Sinn, weil so eine Variation des Textes entsteht, indem die Schreibenden perspektivisch mitschreiben und kommentieren.

Während anfänglich viele Skripte zweckgemäss in den Bibliotheken blieben, werden die heutigen Vorlesungsnotizen und Protokolle individuell gemacht und genutzt. Da alle ihre eigenen Bücher haben, bleiben Annotationen, die früher dem Original in der Bibliothek zugefügt wurden, heute vereinzelt und privat. Es gilt sogar als extrem unanständig, eine Anmerkung in ein Biblitheksbuch zu schreiben.

Wenn ich in meinen Notizen und Annotationen Fragen stelle, bekomme ich keine Antworten, weil sie nur von mir gelesen werden. Und wenn sich in meinen Notizen kein adäquates Verständnis zeigt, wird das von niemandem korrigiert. Aus diesen Gründen wurde während des Aufkommens von gedruckten Büchern der neuzeitliche Hauslehrer als Abkömmling des ursprünglichen Pädagogen wiederentdeckt und zum Schullehrer weiter entwickelt, der die Notizen der Schüler, die jetzt nicht mehr Notizen, sondern Prüfungen heissen, korrigiert.

Mit dem WWW hat sich der funktionale Bibliotheks-Prozess auf eine weitere Stufe entwickelt: Die Bücher sind obsolet geworden. Es ist nicht mehr nötig, dass jeder ein eigenes Exemplar des Textes hat, weil alle das Original auf dem Server lesen können. Wie die Vorlesung hat sich aber natürlich auch das Buch gehalten, weil es weitere Funktionen erfüllt, die das WWW nicht übernehmen kann. (Und natürlich ist offen, wie lange es noch Vorlesungen und Bücher geben wird).


 

Damit sind einige funktionale Bestimmungen zur Bibliothek gemacht. Systemtheoretisch ist die Funktion der Bibliothek irrelevant, sie interessiert nur den deutenden Beobachter des Systems. Die Funktion (wozu-Frage) ist Bestandteil eines übergeordneten Systems und hat deshalb auch keine operative Ebene (wie-Frage), weshalb auf dieser Seite auch keine Crashkurs-Anweisungen stehen. Die Systemtheorie im engeren Sinne beschäftigt sich mit der Funktionsweise, wir beschäftigen uns also mit der Funktionsweise der Bibliothek, aus welcher auch konkrete Handlungen im Sinne von Operationen abgeleitet werden können: darüber will ich mehr wissen.