Rolf Todesco

Aesthetik als Lehre vom Schönen

Gast-Vortrag im Studiengang "Neue Lernkultur" der Fachstelle für Weiterbildung der Universität Zürich, 2. Juni 2000


Zum Hintergrund

Als Marlen Karlen mich fragte, ob ich etwas zum Thema Aesthetik beitragen wolle, sagte ich spontan: "nein, das ist mir zu kompliziert". Danach habe ich mich dann gefragt, was ich mit "zu kompliziert" wohl meinte. Jetzt will ich einige Gedanken zur Aesthetik vortragen und dabei insbesondere darauf eingehen, was mir kompliziert erschien und nach wie vor erscheint. Da ich in der Thematik keinerlei Souveränität sondern nur dilletantische Selbstoffenbarung zeigen kann, werde ich nicht einmal versuchen, dem hier übergeordneten Anspruch "Neue Lernkultur" zu entsprechen. Ich werde mich in jeder Hinsicht in traditionellen Bahnen bewegen, und deshalb bitte ich Sie, mir einfach ganz unverschämt zu sagen, wann Sie genug davon haben. Ich werde Ihnen keinenfalls übelnehmen, wenn Sie mitten im Diskurs kein Interesse mehr aufbringen. Ich würde dies nicht mir, sondern dem Thema, wie ich es verstehe, zuschreiben. Aesthetik ist unsäglich.


Die Lehre

In der metaphysischen Tradition der griechischen Sklavenhalter unterscheide ich nachvollziehbar, schön und gut und nenne die drei entsprechenden Lehren Logik, Aesthetik und Ethik.

Im Alltag begegnet mir sehr oft, dass der Ausdruck "ästhetisch" so verwendet wird, dass ich ihn quasi synonym zu "schön" oder zu "künstlerisch wertvoll" auffassen muss. Ich selbst verwende den Ausdruck "Aesthetik" für die Lehre vom Schönen. Ich kann irgend etwas schön finden - und ich kann mich fragen, wann oder unter welchen Bedingungen ich irgend etwas schön finde. Eine Aesthetik, wie ich sie verstehe, erläutert, was für Schönheitsideale mir vorkommen, worauf sie gründen und welche Konsequenzen sie haben. Mit dem Ausdruck "ästhetisch" verweise ich nicht auf etwas Schönes, sondern auf einen Handlungszusammenhang, in welchem vom Schönen die Rede ist oder im Hinblick auf Schönheit gehandelt wird. Demnach sagt es mir buchstäblich nichts über einen Gegenstand, wenn ich höre, dass er sehr oder gar nicht ästhetisch sei. Es sagt mir aber, dass dieser Gegenstand unter dem Gesichtspunkt seiner Schönheit betrachtet wird. Aesthetik sagt in diesem Sinne etwas über den Beobachter, nicht etwas über den beobachteten Gegenstand.

Sozusagen "logisch" finde ich, dass ich mit den Ausdrücken "logisch" und "ethisch" eine parallele Erfahrung mache, wie mit dem Ausdruck "ästhetisch", da sie in meinem Gebrauch auch auf Lehren verweisen. Unter Ethik verstehe ich die Lehre des Moralischen, deshalb macht es für mich buchstäblich keinen Sinn, wenn ich höre, dass jemand ethisch oder gar nicht ethisch handelt. Ethik ist für mich eine Lehre, nicht etwas Gutes. Wenn man - wie dies Diktatoren im Sinne einer Tautologie immer tun - davon ausgeht, dass es nur eine Moral gibt, dann kann man "gut" und "moralisch" gleichsetzen - und eine Ethik braucht es dann gar nicht, weil die Ethik verschiedene Moralvorstellungen vergleicht. Und wenn man - wie dies Museums-Direktoren im Sinne einer Tautologie immer tun - davon ausgeht, dass klar ist, was schön ist, dann braucht es keine Aesthetik, weil die Aesthetik verschiedene Schönheitsvorstellungen vergleicht. Unter dem Gesichtspunkt der Herrschenden, die bestimmen, was schön und gut ist, kann man "ethisch" mit "gut" gleichsetzen und "ästhetisch" mit "schön". Ich herrsche aber nicht.

"Schön" ist auch im Alltag schnell gesagt. Unter dem Gesichtspunkt der Aesthetik bedeutet schön aber etwas anderes, als wenn ich im Alltag von einer schönen Frau oder einer schönen Blume spreche (Hegel 1970:14). Vergleichsweise bedeutet unter dem Gesichtspunkt der Ethik "gut" ja auch etwas anderes als im Ausdruck "gutes Essen". Das ästhetische "schön" bedeutet schön gemacht, und seit das Wort "schön" verblichen ist, sagen wir statt dessen kunstvoll gemacht. Der Gegenstand der Aesthetik ist das Kunstvolle, das ich hier vorerst verkürzt mit Kunst gleichsetzen will. Jede Aesthetik gibt Kriterien für Kunst und mithin Kriterien zur Bewertung von Kunstwerken. Umgekehrt ist jedes Kunstwerk überhaupt nur dann ein Kunstwerk, wenn es unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet wird.

Wenn ich ein Artefakt, beispielsweise ein buntes Stück Leinwand sehe, kann ich dieses je nach Handlungszusammenhang als Bild oder als verschmiertes Tuch auffassen. Handlungszusammenhänge verwende ich als deutender Beobachter, um kohärente Phänomene wie Bild oder Putzlappen zu schaffen. Wenn die Leinwand im Museum hängt, werde ich sie anders betrachten, als wenn sie im Hof eines Malergeschäftes liegt. Aber wie oft wurden schon Kunstwerke gefunden, die von Nichtsahnenden in den Abfall geworfen wurden - und wieviel Abfall wird in Museen und Galerien von Ahnungslosen wie Kunst behandelt? Ich jedenfalls käme mir sehr oft schlecht beraten vor, wenn ich mich auf den ästhetizierenden Geschmack von Museumsdirektoren verlassen müsste. Den jeweiligen Handlungszusammenhang schaffe ich nicht vor allem aus Kon-Texten wie Museen oder Abfallhaufen, sondern immer auch im genauen Hinblick auf die Textur selbst. Die schwachsinnige These, die oft Beuys in den Mund gelegt wird, wonach der Kontext entscheidet, ob etwas ein Kunstwerk ist oder nicht, abstrahiert völlig, wie der Kontext wahrgenommen wird (2). Wenn Beuys eine simple Badewanne in ein Museum stellt, dann wird diese Badewanne nur für diejenigen zur Kunst, die das Museum nicht als solches wahrnehmen, und deshalb innerhalb des Museums nur Kunst sehen. Und natürlich wird die Badewanne auch nicht zur Kunst, weil sie von einem Künstler vor ein Museum gestellt wird, respektive auch nur dann, wenn man den in diesem Falle kontextgebenden Künstler nicht realisiert. Nicht alles, was ein Künstler macht, ist Kunst.

Oder nochmals verkehrt: wenn Beuys eine Badewanne vor ein Museum stellt und glaubhaft macht, dass das Kunst ist, dann macht er Kunst. Im Handlungszusammenhang des "Geltend-Machens", also im Handlungszusammenhang des Geldes, ist Kunst das, was viel kostet - wie wenn man Geld kosten könnte. Der Künstler muss sein Werk geltend machen. Dieses geltend Machen ist eine Art sekundäres Machen, das sich nicht auf den Gegenstand, sondern auf die Interpretation, also auf das Etablieren eines Handlungszusammenhanges bezieht. Diesen Gesichtspunkt wil ich hier nicht weiter vertiefen, da ich hier über Aesthetik sprechen will, nicht über Kunst.

Aesthetik verstehe ich als Lehre von einer Sache, die ich von der Sache unterscheide, wie ich das Bild eines Hammers von einem Hammer unterscheide. Der Stadtplan ist nicht die Stadt. Natürlich kann eine Lehre vom Schönen selbst schön oder weniger schön sein, wie es schöne und weniger schöne Stadtpläne von schönen und weniger schönen Städten gibt.


Wo gelehrt wird

Bevor ich mich dem Schönen zuwende, will ich noch einige Worte zur Lehre als solcher sagen. Physik und Metaphysik ist eine Projektion der aufstrebenden Bourgoisie auf das vorchristliche Griechenland, die von den nationalistischen Kapitalisten zur Blüte getrieben wurde. Die griechischen Sklavenhalter wurden im westlichen Europa berühmt, als die Bourgoisie den klerikalen Adel, der die Sklavenhaltung zur Leibeigenschaft verkommen liess, verdrängte. Im Name der Rose kann man mitverfolgen, wie die griechischen Bücher, die von Arabern im Mittelalter über Spanien nach Europa gebracht wurden, die - erst im letzten Jahrhundert entdeckte - Renaissance begründen. Die "wiedergeborene" Aesthetik wird in eine Welt zurückprojiziert, von welcher wir gelernt haben, dass Sklavenhaltung dort noch ganz unproblematisch war.

Die alten Griechen unterschieden - gemäss der mittelalterlich-moderen Wiedergeburt - Physik als Naturwissenschaft von der Metaphysik, welche alle wichtigen Fragen behandelt, die nicht naturwissenschaftlich behandelt werden können. In unserer gesellschaftlichen Ausdifferenzierung sind die drei Gebiete, die die Griechen in der Metaphysik unterschieden haben, institutionalisiert. Unsere Akademien unterscheiden neben der Naturwissenschaft gemeinhin Geisteswissenschaft, Kunst und Religion als Instanzen der Logik, der Aesthetik und der Ethik. Der naturwissenschaftliche Gegenstand wehrt sich nicht. Kein Stein verändert sein "Verhalten" in Abhängigkeit davon, ob wir Fallgesetze und Schwerkraft postulieren oder nicht. Kein Mechanismus ändert seine Funktionsweise in Abhängikeit davon, wie wir ihn begreifen. Deshalb kann sich die Naturwissenschaft in Form der Technologie entwickeln. Was die Griechen an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und mithin an Maschinen hatten, ist nur historisch interessant und allenfalls lustig. In dieser Hinsicht ist das griechische Wissen primitiv. Der Gegenstand der Metaphysik verändert sich aber mit jeder metaphysischen Erkenntnis; was immer jemand objektiv über mich weiss, veranlasst mich, mich anders zu verhalten. Deshalb ist die Metaphysik immer gleichweit von ihrer Sache entfernt. Wir wissen in diesen Hinsichten nicht mehr als die Griechen. Wittgenstein - wohl der Letzte, dem wir noch zugestehen, sich ernsthaft mit der Vereinigung von Physik und Metaphysik (Wiener Kreis) beschäftigt zu haben - hat daraus gefolgert, dass sich Ethik und Aesthetik, die er explizit nicht unterscheiden wollte, nicht aussprechen (und mithin nicht begreifen) lassen (Traktat 6.421). Nach dieser ihm eigenen Einsicht hat sich Wittgenstein für Jahre aus der Philosophie zurückgezogen. Wie seine Spätschriften zu lesen sind, ist sehr kontrovers; ich lese sie nicht als Philosophie, sondern als Begründung, dass Philosophie nur Metaphysik sein kann.

Weniger kontrovers scheint mir, wo die griechische Metaphysik auch heute noch betrieben wird. Es sind die Orte, an welchen die Herrschaft begründet wird.


Das Schöne

Was unter ästhetischen Gesichtspunkten schön ist, ist keine Frage des Geschmackes, sondern eine Frage der ästethischen Perspektive. Natürlich, ob mir eine Blume gefällt oder nicht, entscheide ich - und zwar jenseits aller Aesthetik, weil ich immer schon sehe, das die Blume nicht gemacht, und mithin kein Kunstwerk ist. Aber welche Kunstwerke ich erzeuge, respektive welche Werke ich als Kunst begreife, darüber kann ich ästhetische Auskunft geben. Ich sage dann allerdings nicht, was schön ist, sondern was ich nach welchen Kriterien schön finde.

Das Schöne wechselt mit der Perspektive. Das Kunsthandwerk - im Sinne einer Epoche, die noch keine autonome Kunst kannte - bestand in der möglichst adäquaten Abbildung, was bestimmte Verfremdungen stets miteinbezogen hat. Die in diesem Sinne mittelalterlichen Gemälde von höfischem Personal sind dann schön und gut, wenn man die abgebildete Person möglichst gut wiedererkennen kann. In dieser höfischen Kunst ist verfremdend immer mitgemeint und mitgemalt, dass die zu erkennenden Hoheiten in sehr schönen Figuren wiederzuerkennen sind. Zugespitzt ist das Verfahren dort, wo beispielsweise eine alte Hofdame, die ihre Freier nicht mehr zählen könnte, mit dem Anlitz der heiligen Jungfrau Maria gemalt wird, und überspitzt, wo die heilige Jungfrau Maria ganz deutlich das Gesicht einer so gemalten Hofdame zur Schau trägt. Schöne Bilder sind Bilder von schön gemachten Gegenständen.

Was der Aristokratie gut war, war den feissen Bürgern (un)recht. In dem auf Brueghel folgenden Genre genannten Genre liessen sich die aufkommenden Bourgeois mit vielen Utensielien im Hintergrund qausi foto-echt malen. Die Bankiers der reformierten Askese wollten sich auf den Bildern wirklich sehen, und sie wollten in ihrem aufgeklärt handelnden Metier gesehen werden. Einige wissenschaftliche Instrumente im Hintergrund wurden zu Zeichen von Verstand und Aufklärung. Die Bilder wurden echter und symbolischer zugleich. Die abgebildeten Gegenstände, also die Person und die Utensilien, wurden realistisch abgebildet, weil sie so die neue laizistische Realität besser symbolisierten. Insbesondere durften die Maler ihre Fotografenfertigkeit auch am hässlichsten Volke üben, das als Proletariat einen neu entdeckten Teil der Welt ausmachte. Damit können unter ästhetischen Gesichtspunkten auch hässliche Dinge schön gemacht sein.

Bevor ich ganz unvoreingenommen schaue, was ich schön finde, schaue ich nach Voreingenommenheit, die sich in der Tradition der Aesthetik bereits entwickelt hat:


Gemeine ästhetische Konzepte

Aesthetik bezeichnet zunächst - in der Wollfischen Schule in Anlehnung an das griechische aisthesis um 1750 in unsere Sprache eingebracht - die Wissenschaft des sinnlichen Empfindens. Empfindungen sind noch nicht inhaltlich interpretierte Tatbestände, die durch die Aktivität der Sinnesorgane erzeugt und als schön oder nicht schön erlebt werden. Kant hat von der Wissenschaft von den Regeln der Sinnlichkeit gesprochen. Die Sinnesempfindungen sind im Idealismus - und darin ist der Idealismus weltgeistlich unbescheidener als die Griechen - Gegenstand der Wissenschaft. Regeln wie der goldene Schnitt sind pan-ästhetische Postulate, die in solchen Wissenschaften ihre Begründung finden. Nachhaltig ist diese Pan-Aesthetik in der Gestalttherapie verkörpert - und etwas einfälltig etwa in kunstkritischen Verfahren, die irgendwelche Muster auf irgendwelche Bildausschnitte projizieren.

Wenn ich Kunst therapeutisch einsetze, dann ist die Kunst schön, die den Patienten gesund macht. Die Gestalttherapie hat aus der Kunst des Heilens eine Kunst des Gestaltens gemacht. Das Schöne ist durch das Gesunde vermittelt. Solche Aesthetik schlägt etwa durch, wenn man das Schönsein einer Frau damit begründet, dass bestimmte Figuren viel Arbeitskraft oder hohe Gebärfreudigkeit versprechen. Und auch, wo das Gekritzel eines Geisteskranken als Kunst bezeichnet wird, um die Geisteskrankheit als Genie zu preisen.

In einem etwas entwickelteren (oder postmodernen) Kunstverständnis wird Aesthetik auf das Handwerk statt auf das Werk des Künstlers bezogen. Damit wird der Ansicht genüge geleistet, dass Kunstwerke weder wissenschaftlich noch objektiv interpretiert werden können (1). Unterstellt wird, dass aber das Handwerk des Künstlers wie das Handwerk des Handwerkers beurteilt werden kann. In der Literaturkritik etwa wird unter diesem handwerklichen Gesichtspunkt nicht darauf geschaut, was der Text sagt, sondern wie er es sagt. Beispielsweise kann man - im Sinne einer Fertigkeitsprüfung - prüfen, ob sich der Autor bewusst ist, was welche seiner Figuren wissen oder sehen kann. Wenn der Autor diesbezüglich Fehler macht, verletzt er das ästhetische Empfinden seiner Leser. Bei bildenden Künsten kann man unter diesem Gesichtspunkt etwa Fotoechtheiten oder Innovation von Techniken beurteilen. Bei nicht bildenen Künsten wie Tanz neigt man mangels künstlerischen Kriterien ohnehin dazu, die Technik zu bewerten, wodurch die Kunst - eigentlichen Wettbewerben zugänglich - zum Sport verkommt.

Eine ganz andere Aesthetik ist die Warenästhetik, wie sie von Haug kritisiert wurde. Dabei geht es im Wesentlichen um Einschaltquoten auf verschiedensten Stufen, nach dem Motto "schön ist, was gefällt". Die Warenästhetik begründet - etwa in der Werbung - worauf die Käufer ansprechen. Natürlich ist auch da eine Art Pan-Aesthetik im Spiel. Haug verstehe ich so, dass er in der Warenästhetik den Ursprung jeder Aesthetik sieht. Diese Vorstellung teile ich, wo Aesthetik auf das Werk oder das Handwerk bezogen wird. Und dort, wo Sachverständige behaupten, was schön und gut ist.


Aesthetik des Widerstandes

Eine Alternative zur gemeinen Aesthetik sehe ich darin, anstelle des Kunstwerkes den Handlungszusammenhang des Kunstwerkes zu interpretieren. Das will ich anhand der Aesthetik des Widerstandes erläutern. Vorwegnehmen will ich, dass in diesem Ansatz nicht mehr von einer allgemeinen Theorie des Schönen die Rede ist, sondern von je spezifischen Handlungszusammenhängen, in welchen ein Kunstwerk - oder das je Schöne - erzeugt wird. Dabei folgt das Schöne der Funktion.

Die Aesthetik des Widerstandes finde ich im gleichnamigen Roman von Peter Weiss. Dieser Roman ist ein Kunstwerk und enthält viele Gespräche über Kunstwerke. Das heisst, ich kann den Roman auf zwei Ebenen lesen, als Sachbuch über Kunst oder als Kunst. Auf der Ebene des Sachbuches lese ich bei Peter Weiss, dass Kunst mir zeigen muss, wie ich mich - in diesem Falle politisch - auch ausdrücken könnte. In jedem gelungenen Ausdruck finde ich mich und meine Problematik ausgearbeitet. Peter Weiss zeigt anhand bekannter Werke vom Pergamonrelief bis zu Kafkas Schloss exemplarisch, wie sie sich als Ausdruck von Klassenkampf lesen lassen. Indem Peter Weiss diese und nicht irgendeine andere Perspektive entfaltet, legt er nahe, dass Kunst für ihn unter dieser Perspektive wahrhaft ist. Da ich seinen Roman auf der Ebene eines Kunstwerkes lese, verstehe ich den Roman als Ausdruck meines Klassenkampfes, sowie Peter Weiss die Kunstwerke, die er bespricht als Ausdruck seiner Klasse sieht.

Auf der nächsten Ebene lerne ich von Peter Weiss, dass ich zu jeder Perspektive, die ich in mir finden kann, einen kunstvollen Ausdruck finden kann. Alle Kunst zeigt mir, wohin ich schaue. Und wenn ich nirgendwohin schaue, kann ich nirgendwo Kunst empfinden. In der Kunst des goldenen Schnittes, des therapeutischen Heilens und des handwerklichen Geschicks kann ich auch Künste sehen, aber keine Kunst.


Meine Aesthetik

Funktionale Systeme unterliegen der Selbstorganisation. Kunst hat sich im ausgehenden Mittelalter etabliert, indem die Hersteller von Werken, die damals eben noch Handwerker waren, ein neues "System" hervorbrachten, in welchem sie sich als Künstler wahrgenommen haben. Künstler gibt es erst seit es Kunst gibt, so wie es Benediktiner und Marxisten erst gibt, seit sie sich so nennen. Zur Kunst wurde die Kunst, indem sie autonom wurde und sich selbst genügte. Praktisch ist das der Fall, wo der Künstler selbst entscheidet, was er wie vorstellt, und theoretisch ist das der Fall, wo sich das Werk von der Abbildungsidee vollständig löst. Wohl nicht ganz zufällig nannte sich die Theorie, in welcher explizit ausgesprochen wurde (Gleizes und Metzinger 1912), dass Kunst nicht abbildet - ziemlich lange vor dem radikalen Konstruktivismus - Konstruktivismus (vgl. Nash 1975:43)).

Das Kunstwerk ist autonom, nicht dort, wo es dem Rezipienten nichts mehr über nichts mehr sagt, sondern wo es nicht mehr rezeptionsorientiert ist, wo es nicht auf Rezipienten hinzielt. In der Malerei ist dieser Uebergang vordergründig im sogenannt abstrakten Bild zu sehen - wenn es dort überhaupt etwas zu sehen gibt. Eigentliche Kunstwerke haben keine Abbildungs- und keine Mitteilungsfunktion. Das Unentwickelte der Kunsthandwerker war nie, dass sie etwas abbilde(te)n. Die noch nicht entwickelte Kunst besteht darin, dass man etwas für andere tut, ob diese nun Mäzene, Kritiker oder Einschaltquoten sind. Etwas als Abbild von etwas zu sehen, war und ist eine Interpretation von Rezipienten, der Künstler interessierte sich immer schon für sein Werk und nie für ein davor stehendes Original. So erkläre ich mir, dass mir die ikonisierenden Darstellungen von höfischen und bourgoisen Figuren allesamt nicht gefallen und dass viele Bilder von hässlichen Volksvertretern wesentlich attraktiver sind, weil sie wenigstens etwas vom Künstler Gewähltes darstellen. Kunst ist kein Medium der Mitteilung, sondern ein Medium des Ausdrucks oder der Selbstoffenbarung. Von Kunst spreche ich genau dort, wo mir im Werk die Selbstoffenbarung gelingt.

Wenn ich ein Kunstwerk anschaue, geht das Kunstwerk nicht durch meine Augen in meinen Kopf. Ich muss es in mir entstehen lassen. In diesem Sinne unterscheide ich Erzeugen und Herstellen. Das Artefakt ist hergestellt, das, was ich wahrnehme, ist meine Erzeugung. Kunstwerke sind meine Erzeugungen und mithin Zustände meiner selbst. In jedem Kunstwerk erzeuge ich mich. Als Künstler befasse ich mich mit nicht mit der Aussage meines Werkes, sondern mit meiner Aussage durch das Werk. Es ist mir immer peinlich, wenn jemand die Aussage oder die Mitteilung eines Kunstwerkes erklärt, weil ich darin das Werk immer als Symbol für etwas anderes - für das Mitgeteilte - sehe, wodurch die Kunst gerade aufgehoben ist. Die funktionale Sicht ist interpretativ, nicht konstruktiv. Es ist die Sicht der Rezeption(sangestellten).

Aesthetik wird oft unter den Gesichtspunkt der Rezeption gestellt. Bei der Warenästhetik scheint mir das zwingend, weil Ware ja nie mir, sondern immer dem andern, der sie kaufen soll, gefallen muss. Wenn Kunstwerke zum Verkauf ausgestellt werden, wollen sie nicht mehr dem Künstler, sondern den rezeptierenden Konsummassen gefallen. Ich interessiere mich für die Konstruktion, nicht für die Rezeption. Wenn ich ein Bild anschaue, dann frage ich mich, welche Motive ich haben müsste und mit welchen Operationen ich zu diesem Bild gelangen würde. Damit verbunden ist immer die Idee des Eingreifens, des stimmig Machens. Meine Aesthetik ist in diesem Sinne nicht auf das Empfinden von eintreffenden Signalen, sondern auf "richtiges" oder schönes Operieren meinerseits gerichtet. Dieses Operieren zeigt sich im Werk - im Tanz und in der Musik unmittelbar, in der bildenden Kunst in geronnerer Form, wenn ich nachvollziehe, wie ich zu diesem Werk gelange. In meiner Aesthetik des Widerstandes zeigt sich, welchen Ausdruck von Widerstand ich schön finde.

Ich danke Ihnen dafür, dass ich meine Welt vor Ihnen entfalten durfte.

 

Anmerkungen

1 Schmidt (1987, S. 68) schreibt, dass Interpretation ein normales Verhalten sei, das jeder Betrachter leiste, aber kein wissenschaftliches. Was also hat eine vernünftige Literaturwissenschaft zu tun? zurück
 
2 Beuys werden auch andere schwachsinnige Thesen in den Mund gelegt. "Jeder ist ein Künstler" wird oft so interpretiert, das jeder der malt ein Kunstmaler ist. Beuys sagte dazu: Ich habe nie gesagt, jeder ist ein Kunstmaler. Jemand der miseable malt ist vielleicht ein ausgezeichneter Gärtner oder Koch. zurück
 
 

Literatur

Ich nenne hier einige Texte, in welchen Sie etwas mehr über die Voraussetzungen meiner Vorstellungen nachlesen können. Ich arbeite aber auch laufend an eigenen Texten, die Sie unter meinen Publikationen finden.