Ein Lehre über das eigentliche - das mit dem Begriff gemeinte - Zeichnen |
Fast alles, was ich über das Zeichnen in der Literatur und im Internet finden kann, behandelt, wie ich am besten zeichnen würde. Es sind Zeichnen-Kurse, in welchen das Zeichnen selbst nicht thematisiert wird. Es geht um die besten Darstellungen der jeweiligen Referenzobjekte und um die besten Arbeitsmittel. Ich will aber nicht gut zeichnen können, ich will verstehen, was ich zeichnend mache. Mich interessiert nicht, was ich wie zeichnen sollte, sondern die Tätigkeit, die ich zeichnend ausübe. Ich weiss natürlich auch, dass Duden von Zeichenlehrer statt von Zeichnenlehrer spricht. Das interessiert mich sowenig wie, dass der Zeichnenlehrer als Lehrer bezeichnet wird, obwohl sein Lehren mit einer Lehre vom Zeichnen nichts zu tun hat, sondern eine Lehre vom schönen oder guten Zeichnen ist. Lehren ist ein Euphemismus für Belehren, Lehren ist das, was Lehrer tun. Umgangssprachlich wird Lehren - wie etwa beim Skilehrer und eben auch beim Zeichnenlehrer - auch für das Unterrichten verwendet, das wie die Berufslehre auf ein Können abziehlt, ohne dass dabei eine Lehre, die das Wissen bezeichnet, dazu vermittelt wird. Weil an Universitäten Lehren entwickelt werden (sollten), heissen die Belehrer dort nicht Lehrer sondern Dozenten. Zeichnenkönnen wird durch Vormachen vermittelt, nicht durch Erklären. Das Zeichnen als Tätigkeit hat eine Geschichte, in welcher sich die Tätigkeit mit den verwendeten Werkzeugen und Materialien entwickelt. Natürlich muss ich wissen, was ich als Zeichnen bezeichne, wenn ich eine Geschichte des Zeichnens schreibe, aber durch eine solche Geschichte kann ich auch klären, was ich als Zeichnen bezeichne. Etwas begreifen heisst immer auch dessen Gewordensein zu begreifen. In der herkömmlichen Geschichtsschreibung ist Zeichnen kein Thema. Die Höhlenmalereien, die in dem Sinne rezent sind, dass sie aktuell noch betrachtet werden können, dienen als historischer Beleg für frühe Kulturen, nicht für das Zeichnen, selbst dort, wo Anthropologen vom Homo pictor sprechen.[1] |
![]() Bildquelle: Zeichnen lernen |
Zeichnen ist zunächst ein Praktizieren, also eine Tätigkeit, die im Sinne von praktischem Handeln keine Zwecke jenseits des Handeln verfolgt, sondern - wie etwa das Schwimmen in einem Schwimmbad - den Zweck in sich selbst hat. Weil es zunächst keinen praktischen Grund gibt, eine Zeichnung von einem Tier an einer Höhlenwand herzustellen, wird dieses Zeichnen als kulturelle Tätigkeit im psychologisierenden Kontext von Kunst oder Religion aufgefasst.
Das Zeichnen ohne Zweck kann ich als Spielen auffassen. Spielen ist der Inbegriff von Praktizieren. Gleichwohl wird dem Spielen - vor allem bei Jungtieren - eine Funktion zugeschrieben. Es soll helfen, später benötigte Fähigkeiten zu entwickeln. Beim Zeichnen scheint mir das nicht der Fall zu sein. Das Zeichnen bekommt zwar einen poietischen Sinn in den technischen Zeichnungen, die als Mitteilungen fungieren. Ich nehme aber nicht an, dass das kindliche Zeichnen seinen Sinn durch solche Fähigkeiten bekommt. Technische Zeichnungen sind überdies nur bedingt Zeichnungen, gerade weil eigentliche Zeichnungen die technische Funktion der Anweisung nicht gut oder gar nicht erfüllen. Ein Konstruktionszeichnung beispielsweise enthält Texte und Zahlen. Die technischen Zeichnungen werden nur als Zeichnungen betrachtet, weil die gezeichneten Teile ein wichtiges Kriterium der Zeichnung erfüllen: sie bestehen aus Strichen, die Umrisse darstellen. Und wohl auch, weil sie ursprünglich mit Bleistiften hergestellt wurden.
Umgangssprachlich werden Bilder, die mit einem Bleistift hergestellt wurden, als Zeichnungen bezeichnet, und Bilder, die mit einem Pinsel hergestellt wurden, als Gemälde. Ich werde später darauf zurückkommen. Hier ist mir nur wichtig, dass ich nur von einer Zeichnung spreche, wenn sie aus Strichen besteht. Wie und womit die Striche gemacht wurden, spielt dabei keine Rolle.
Zeichnungen - im hier gemeinten Sinn - zeigen den Umriss des Gegenstandes unter einem jeweiligen Gesichtspunkt. Bei technischen Zeichnungen wird der Gesichtspunkt jeweils als Auf- oder Grundriss bezeichnet. Naturwüchsige Zeichnungen zeigen fast immer einen Aufriss. Die Perspektive, die in der Renaissancegeschichte eine wichtige Rolle spielt, wird oft als Beitrag zum Zeichnen gesehen, weil die Perspektive anhand von Zeichnungen erläutert wird. Die Perspektive ist aber ein Bestandteil der Wahrnehmungslehre und natürlich des Zeichnenunterrichtes, wo es darum geht, was ich wie zeichnen sollte. Das "perspektivisch richtige" Zeichnen ist deshalb so faszinierend, weil es historisch sehr spät erst entdeckt wurde und auch entwicklungspsychologisch beim Kind erst nach langer Zeit und fast immer nur durch Belehrungen möglich wird. Dass die Menschen so lange auf dieses perspektivische Zeichnen verzichtet haben, und dass das Kind auch lange darauf verzichtet, sagt viel über das Zeichnen aus, insbesondere, dass es - wie andere herstellende Tätigkeiten - nicht an eine bewusste (optische) Perspektive gebunden ist. |
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Wenn ich aus Ton eine Schale forme, spielt die Perspektive keine Rolle. Wenn ich eine Zeichnung herstelle, wähle ich einen Gesichtspunkt, der in der Zeichnung als Perspektive erscheint. Ich kann Gegenstände insbesondere so zeichnen, wie ich sie sehen würde, wenn ich an einem entsprechende Ort stünde. Ein Gegenstand, der auf dem Boden liegt, muss ich nicht von oben gesehen zeichnen. Wie vor allem Kinder zeigen, kann eine Zeichnung sogar verschiedene Gesichtspunkte vereinen. Auf Kinderzeichnungen kann ich beispielsweise ohne weiteres die Vorder- und die Rückseite eines Hauses gleichzeitig sehen. Die technische Zeichnung kennt dazu die sogenannte Abwicklung, in welcher der Standpunkt auch aufgehoben ist. Ich zeichne einen Gegenstand so, wie ich ihn mir in meiner Lebenswelt vorstelle.
Als Zeichnen bezeichne (sic) ich die Tätigkeit, mit welcher ich Zeichnungen herstelle. Gleichgültig, was ich wie zeichne, ich forme Material, wozu ich wie bei jedem Herstellen Werkzeuge verwenden kann. Wenn ich beispielsweise die Tätigkeit eines Schmiedes beobachte, spielt auch keine Rolle, ob er ein Hufeisen oder als Kunsthandwerker ein Gartentor oder als Goldschmied Ohrringe, oder ob er Pflüge statt Schwerter herstellt. In jedem Fall formt er Metall. Was ich womit zeichne, spielt hier keine Rolle. Um ein paar grundsätzliche Aspekte der Tätigkeit zu erläutern, beobachte ich hier zunächst den exemplarischen Fall, in welchem ich eine Zeichnung mit einem Bleistift auf einem Stück Papier herstelle. Das Material, dass ich dabei forme, ist Grafit, das ich mit dem Bleistift auf das Papier auftrage. Wenn ich mit einem Bleistift zeichne, verarbeite ich Material, das als Halbfabrikat zunächst im Bleistift gelagert ist. Ich trage es in kleinen Mengen aus der Bleistiftmine ab und stelle damit einen Strich her, der eine Anordnung von kleinen Gafitkörpern ist, die zusammen- und gleichzeitig auf dem Papier haften. Der Körper dieses Striches ist durch eine Lupe betrachtet eine Art flache Trockenmauer, die nicht besonders hoch ist. Der Strich erscheint unter der Lupe wie die chinesische Mauer von einem hochfliegenden Flugzeug aus gesehen. Zeichnungen bestehen aus Strichen, die einer hinzugedachten Linie folgen. Als Linie bezeichne ich - in einer etwas euklidischen Auffassung -, was ich mit einer nicht unterbrochenen Bewegung mit einem Bleistift auf einem Papier darstellen kann. Die gerade Linie oder Gerade stellt ein Spezialfall dar, der andere Linien als Kurve erscheinen lässt. Die Linie hat bei Euklid nur eine Dimension. Was ich zeichne ist also keine Linie, sondern einen Strich, der ein dreidimensionaler, materieller Gegenstand ist. Mit einem Strich kann ich insbesondere auch den Verlauf einer Linie darstellen. Der Gegenstand, den ich zeichnend herstelle, hat - wie jeder hergestellte Gegenstand - eine durch die Herstellung gegebene Form. Die Striche, die ich zeichnend herstelle, fungieren als Konstruktionselemente, die ihrerseits eine Form haben, so wie Backsteine, die ich für eine Mauer verwende, auch ein Form haben, ohne dass sie die Form der Mauer festlegen. Die Form der Konstruktionselemente beschränkt, was ich mit ihnen herstellen kann, aber sie bestimmt nicht die Form des hergestellten Gegenstandes. Mit Bachsteinen kann ich sehr verschiedene Mauern herstellen und ich kann auch sehr verschieden grosse Bachsteine verwenden. Ich kann Bleistifte mit verschieden dicken und verschieden weichen Minen verwenden, was die Form der Striche beeinflusst, aber nicht bestimmt. |
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Die Striche, die ich für eine Zeichnung verwende, stelle ich erst beim Zeichnen her und gebe ihnen die Form, die ich im jeweiligen Fall brauche. In diesem Sinn sind Striche sehr flexible Konstruktionselemente, deren Länge, Dicke und Form ich in einem weiten Bereich wählen kann.
Wenn ich - im hier gemeinten Sinn einer Tätigkeit - zeichne, stelle ich einen von mir intendierten Gegenstand her, der aus Strichen besteht. Ich kann mit einem Bleistift auch kritzeln oder schreiben. Beim Kritzeln ordne ich den Grafit mehr oder weniger zufällig an. Ich zeichne dabei nicht, weil ich kein Ziel verfolge, das sich in einer bestimmten Anordnung des Grafites zeigt. Ein Kleinkind kann noch nicht zeichnen, auch wenn es den Bleistift bereits als solchen verwenden kann, und eine Erwachsener kann beispielsweise während eines Telefongespräches zur Entspannung kritzeln. Der Sinn von Kritzeln liegt im Praktizieren, nicht im Herstellen.
Wenn ich zeichne, zeichne ich nicht Striche, sondern Gegenstände, wobei ich die Striche, die ich herstelle, verwende. Ich ordne die Striche so an, dass ein Gegenstand aus Strichen entsteht, den ich als Zeichnung bezeichne. Ein Gekritzel zeigt, dass ich mit dem Bleistift Gegenstände produzieren oder hervorbringen kann, die nicht als Symbole oder Verweise fungieren, sondern quasi naturwüchsig für sich selbst stehen, obwohl sie in gewisser Weise hergestellt wurden. Ich erkenne darin eine Inversion des archäologischen Artefaktes, das keinen erkennbaren Zweck hat. Beim Artefakt gehe ich davon aus, dass es einen Zweck hat, der mir nur verborgen bleibt, beim Gekritzel unterstelle ich, dass keine Zwecke intendiert sind. Ich sage deshalb, dass das Gekritzel nicht hergestellt, sondern hervorgebracht wurde. Das Gekritzel hat keine Gegenstandsbedeutung. Es ist - wenn ich will - ein Gegenstand aus Gegenständen. Es ist kein Symbol, aber - wenn ich will - ist es abstrakte Kunst, die ein Künstler mit welchem Sinn auch immer genau so zeichnen wollte. Eine Zeichnung ist ein Anschauwerk, sie muss nicht auf etwas verweisen und nichts abbilden. |
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Quasietymologisch sind die Ausdrücke Zeichen und zeichnen in vielen Sprachen verwandt. Sehr viele Zeichen werden gezeichnet. Jenseits der arbiträr zufälligen oder zufällig verwandten Wörter, gehe ich davon aus, dass die ersten hergestellten Zeichen - wenn ich von bewusst abgebrochenen Ästen oder hingelegten Steinen absehe - Markierungen in Form von Ritzen an Felsen oder Baumstämmen waren, die jemand als externes Gedächtnis für sich selbst angebracht hatte. Ich sehe im Anfang solcher Zeichen auch den Anfang der Sprache, hier aber geht es mir vor allem den Anfang des Zeichnens.
Als Genesis bezeichne ich eine logisch-genetische Rekonstruktion, in welcher ich die Entstehung des Gegenstandes nach entwicklungslogischen Gesichtspunkten darstelle. Dabei geht es darum, die Geschichte so zu erzählen, dass die Sache in einer bestimmten Weise begriffen wird, nicht darum, dass sich die Sache historisch so entwickelt habe. Ich gehe hier davon aus, dass Zeichnen und Schreiben älter sind als das Sprechen, dass sich also in der Entwicklung des Verhaltens eines Kindes keine Rekapitulation der Stammesgeschichte zeigt. Dass Kinder zunächst kritzeln, nehme ich nicht als Beleg für eine haeckelsche Sozialrekapitulation. Ich gehe viel mehr davon aus, dass Kinder mit Blei- oder Farbstiften kritzeln, weil sie diese Stifte bekommen, bevor sie zeichnen wollen und können. Ich kann im kindlichen Gekritzel auch keine Zeichen erkennen, ich weiss aber natürlich nicht, ob das an meiner beschränkten Wahrnehmung liegt.
Wie die ersten Menschen gezeichnet haben, weiss ich nicht. Wie Kinder in der heutigen Zeit zeichnen, kann ich beobachten, und wo ich es selbst nicht hinreichend beobachten kann, kann ich lesen, was Kinderpsychologen darüber schreiben. Über die ersten Menschen kann niemand berichten. Zeichnungen, die Kinder verschiedenen Alters herstellen, zeigen nicht die Entwicklung des Zeichnens, sondern allenfalls, wie sich Kinder entwickeln. Die Literatur über Kinderzeichnungen befasst sich deshalb praktisch ausschliesslich mit der piagetpsychologischen Entwicklung der Kinder, die hier nicht interessiert.[2] Hier geht es nicht darum, welche psychologisierten Fähigkeiten Kinder in welchem Alter noch nicht entwickelt haben, sondern darum, wie sich die Entwicklung des Zeichnens als Tätigkeit begreifen lässt. Ich beobachte dabei nicht irgendwelche hinzugedachten Fähigkeiten des Zeichners, sondern die Tätigkeiten, deren Produkte ich als Zeichnungen oder als deren primitiven Keimformen auffasse. |
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Die Entwicklung des Zeichnens erkenne ich in einer Zunahme des strukturellen Niveaus, das ich in Zeichnungen erkennen kann. In einem Gekritzel erkenne ich weniger Ordnung als in einem halbwegs adäquaten figürlichen Abbild eines Gegenstandes. Die Zeichnungen, die Kinder mit zunehmendem Alter machen, zeigen diese Entwicklung. Dabei interessieren mich die Motive im doppelten Sinne, da die jeweils notwendigen Fähigkeiten ja zwangsläufig gegeben sind. Das Wissen, welche Fähigkeiten Kinder in welchem Alter haben, mag psychologisch interessant sein, über das Zeichnen sagt es nichts, was ich nicht auch jenseits von Kinderzeichnungen erkennen kann.
Ein Kleinkind kann beispielsweise mit dem grünen Brei, den es essen sollte, im oder neben dem Teller spielen und dabei merken, dass sein Verhalten etwas Gegenständliches bewirkt. Es kann dann erkennen, dass es solche äusseren Spuren des eigenen Verhaltens reproduzieren kann und Spass daran finden, ohne dass diese Gebilde einen anderen Sinn hätten, als eben selbst verursachte, permanent sichtbare Objekte zu sein. Das hat mit Zeichnen sehr wenig zu tun, obwohl ich beim Zeichnen auch permanente Objekte herstelle. Und dass Kinder beim Spielen Freude haben, zeigt sich ja nur darin, dass sie es immer wieder und möglichst oft tun. Ich kann mir jedes Verhalten eines Kindes mit einem Trieb oder einem Bedürfnis erklären.
Wenn man, was bei uns üblich ist, Kinder in einen Sandkasten steckt, spielen sie mit Sand und haben offenbar auch Freude daran, Objekte hervorzubringen, auch solche, die sie rasch wieder verschwinden lassen können. Was anderes sollten sie im Sandkasten tun? Und was sollten Kinder tun, wenn man ihnen einen Bleistift in die Hand steckt? Dass Kleinkinder mit Farbstiften, die ihnen in die Hände gedrückt werden, Striche produzieren, kann ich sehen, auch wenn ich keinen Grund dafür erkennen kann. Ich kann sehen, dass die ersten Striche, die ein Kind mit einem Stift auf Papier bringt, mir als Gekritzel erscheinen. Die Striche sind zunächst relativ gerade und laufen spitz zusammen. Später entstehen auch runde Formen. Dass sich die Striche mit zunehmendem Praktizieren systematisch verändern, könnte daran liegen, dass das Kind seine Feinmotorik entwickelt und sich dabei beobachtet, wie es die Striche variieren kann. Auch das ist aber Kinderpsychologie.
Wenn Kinder mit Farbstiften spielen, beginnen sie mit der Zeit bestimmte Strichanordnungen zu wiederholen. Dazu müssen sie Muster erkennen und reproduzieren. Die Figuren werden dabei zu Motiven. Als Motiv bezeichne ich den Gegenstand einer Herstellung unter dem Gesichtspunkt, dass er die Bewegung - etwa des Bleistiftes beim Zeichnen - bestimmt. Das Motiv ist zunächst der Grund dafür, eine bestimmte Handlung auf eine bestimmte Art auszuführen. Das Motiv kann dabei das Motiv für die jeweilige Handlung werden. Hier spielt das Motiv noch keine Rolle. Es fungiert lediglich als Deutung der Wiederholung.
Wenn ich weiss, was ich als Zeichnen bezeichne, kann ich auch Keimformen davon erkennen, die ich nicht als Zeichnen bezeichne. Ich kann quasi rückblickend rekonstruieren, wie sich Voraussetzungen des Zeichnens entwickelt haben. Im Kritzeln mit einem Stift erkenne ich in diesem Sinne eine Keimform des Zeichnens. Es ist eine Tätigkeit, die wichtige Aspekte des Zeichnens vorwegnimmt.
Wenn ich von Keimformen spreche, bezeichne ich in gewisser Hinsicht einen spezifischen Moment einer dort geteilten Entwicklung. Wenn ich beispielsweise von der Entwicklung des Menschen spreche, unterscheide ich in diesem Sinne eine naturhistorische Entwicklung innerhalb des Tierreiches, die mit dem Auftreten des Menschen abgeschlossen ist, und eine sozialhistorisch Entwicklung des Menschen, die mit dem Auftreten des Menschen beginnt und in welcher sich nicht mehr der Mensch, sondern dessen Lebensverhältnisse als Kultur entwickeln. Menschen kann ich beispielsweise - wenn mir das gefällt - als toolmaking animals sehen. Dann beobachte ich im Tierreich eine Entwicklung hin zur Verwendung von Objekten, welche am Schluss den Menschen als Herstellenden hervorbringt, und eine zweite Entwicklung, in welcher sich die Menschen dadurch entwickeln, dass sie ihre Werkzeuge entwickeln.
Der für mich entscheidende Moment in der Entwicklung des Zeichnens besteht darin, nicht nur Muster in den angeordneten Strichen wieder zu erkennen und zu reproduzieren, sondern reflexiv zu erkennen, dass diese Muster in dem Sinne etwas repräsentieren, was jenseits der hergestellten Striche auch vorhanden ist. In einer bestimmten Anordnung von Strichen kann ich ein Haus oder ein Gesicht erkennen. Es geht dabei darum, Analogien im Sinne von Formverwandtschaften zu erkennen, die nicht einer wiederholten Zeichnenbewegung entsprechen, sondern zwei in diesem Sinne verschiedenen Wahrnehmungen, wovon nur eine die hergestellten Striche betrifft. Dieses Wiedererkennen scheint eine Keimform im Erkennen von geometrischen Figuren zu haben, die jenseits der je eigenen Zeichnungen ja auch nur in Zeichnungen existieren. Kinder (er)finden die elementaren Gestalten wie etwa Kreise beim Zeichnen, wobei ich hier nicht ganz zufällig von Gestalt spreche. Hier interessiert mich aber vor allem die Beziehung zu nicht nur gezeichneten Sachen.
Wenn ein Kind im Sandhaufen erkennt, dass das von ihm ohne jede Absicht produzierte Gebilde hinreichend gleich aussieht wie etwas, was es neben dem Sandhaufen sieht, erkennt es den hier gemeinten Zusammenhang. Ich nehme an, dass solche körperlichen Ähnlichkeiten einfacher zu erkennen sind, als die nur umrissige Ähnlichkeit zwischen Strichen auf dem Papier und einer davon unabhängigen Sache. Wenn ich einen gezeichneten Umriss mit einer Sache verbinde, erkenne ich auch, dass die gezeichnete Sache eben nicht nur nicht die Sache ist, sondern dass sie auch einen ganz anderen Charakter hat. Die Zeichnung ist zum Anschauen, nicht zum Anfassen.
Die ersten in diesem Sinne eigentlichen Zeichnungen, die Kinder herstellen und von den Kinderpsychologen als Sinnzeichnungen bezeichnet werden, zeigen ziemlich gut, dass sich Kinder beim Zeichnen viel stärker an ihren Vorstellungen als an für mich sichtbaren Gegenständen orientieren. Wenn ich in diesen anfänglichen Kinderzeichnungen trotzdem Darstellungen von Gegenständen erkenne, bezeichne ich die kindlichen Vorstellungen als mentale Repräsentationen der vermeintlich gezeichneten Gegenstände. Typische Beispiele sind die sogenannten Kopffüssler, in welchen ich Darstellung von Menschen vermute, obwohl ich Menschen nicht (mehr) so zeichnen würde. Kinder zeichnen offenbar das, was ihnen wesentlich scheint, die wichtigen Sachen oft auch unproportional gross.[3] Um die beiden entscheidenden Punkte der Entwicklung nochmals hervorzuheben: Ein Kind kann eine Analogie zwischen seinen Strichen und einer anderen Sache im Nachhinein erkennen, ohne dass sie in irgendeiner Weise beabsichtigt war. Ich kann meine Spuren im Schnee auch als Fussabdrücke erkennen, ohne dass ich Fussabdrücke machen wollte. Aber wenn ich als Kind einen solchen Zusammenhang einmal erkannt habe, werde ich ihn immer wieder erkennen und nach einer gewissen Zeit auch bewusst hervorbringen wollen. |
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Der andere wichtige Punkt besteht darin zu erkennen, dass Zeichnungen Anschauwerke sind. Es sind hergestellte Gegenstände, deren Gegenstandsbedeutung unabhängig von den Funktionen, die sie erfüllen (sollen), darin besteht, angeschaut zu werden.
Umgangssprachlich wird das Wort Zeichnung hauptsächlich für Bilder verwendet, die typischerweise mit einem Bleistift hergestellt wurden. Mit einem Bleistift kann ich aber nicht nur Striche herstellen, ich kann auch Schraffieren oder Flächen füllen, was ich auch als schummern oder als ausmalen bezeichne. Hier verwende ich das Wort Zeichnung in einem eingegrenzteren Sinn. Ich spreche von eigentlichen Zeichnungen, in welchen keine irgendwie ausgefüllte Flächen oder Schraffuren, sondern ausschliesslich Begrenzungsstriche vorkommen.
Überdies ziehe ich nur Zeichnungen in Betracht, die als Sinnzeichnungen etwas repräsentieren, das ein Betrachter der Zeichnung in oder durch die Zeichnung erkennen kann. Wenn ich nur Striche mache, die nur mich an etwas erinnern sollen, zeichne ich ein Zeichen, das nicht zeigen muss, wofür es steht. Solche Zeichen bezeichne ich als Symbole. Zeichen, die zeigen oder wenigstens andeuten, was sie repräsentieren sollen, bezeichne ich als Indexe oder als Ikone.[4]
Wenn ich eine Katze zeichne, weiss ein Betrachter natürlich nicht, was ich damit bezwecke, aber er kann die Katze erkennen, wenn er unabhängig von meiner Zeichnung weiss, wie eine Katze aussieht (und meine Zeichnung der Sache annähernd nahe kommt). Wenn ich an einem Baum eine Kerbe anbringe, kann der Betrachter die Kerbe sehen, aber er kann sie mit nichts anderem, das ich damit hätte darstellen wollen, verbinden. Die Kerben verweisen für den Betrachter auf nichts, er kann den Sinn, den sie für mich haben, nicht erkennen. Deshalb spreche ich von Sinnzeichnungen, wenn ich als Betrachter eine Sache wiedererkennen kann. Ich werde dieses Wiedererkennen später noch genauer erläutern. Hier will ich zunächst nur anmerken, dass der jeweilige Sinn einer Zeichnung bei Weitem über das Erkennen eines einzelnen Objektes hinaus gehen kann, wenn der Betrachter ein entsprechendes Wissen mitbringt. Biologisch gebildet kann ich auf der Zeichnung von R. Descartes förmlich sehen, wie die Hitze des Feuers mit meinem Hirn zusammenhängt. Hier interessiert mich aber die Zeichnung, nicht das, wofür sie stehen (könnte). Wenn ich ein Einhorn zeichne, zeichne ich es so, wie es aussieht. Dabei ist gleichgültig, ob jemand je ein Einhorn gesehen hat. Wer das Motiv einer Sinnzeichnung erkennen kann, wer also beispielsweise erkennen kann, dass eine bestimmte Zeichnung eine Katze darstellt, der kann anhand einer entsprechenden Zeichnung auch erkennen, wie ein Einhorn aussieht. Ganz viele Menschen wissen, wie ein Einhorn aussieht, weil sie entsprechende Bilder gesehen haben. Allerdings zeigt eine Zeichnung nie die Form eines Körpers, sondern - von allerlei Täuschungen, auf die ich noch eingehen werde - abgesehen, nur dessen Umriss. |
![]() inspirierte Zeichnung ohne Schraffur |
Als Sinnzeichnung bezeichne ich Zeichnungen, die einen im Prinzip sichtbaren Gegenstad repräsentieren. Im einfachsten Fall zeichne ich Umrisse der jeweils gezeichneten Körper. Der Wortteil Riss hat quasietymologisch durch ritzen oder reissen die Bedeutung „Zeichnung“. Die Linie, die ich als Umriss bezeichne, gehört nicht zum Körper, sie hat den Charakter einer geometrischen Figur. Als Umriss bezeichne ich die geschlossene Linie, die den jeweils von einem Standpunkt her gesehenen Rand eines betrachteten Körpers bildet. Die Linie besteht aus der Menge der Punkten, die zwischen dem Körper und seiner Um-Welt liegen. Wenn ich den Gegenstand zeichne, zeichne ich einen Strich, der dieser Linie folgt.
Ich zeichne beispielsweise einen Gegenstand, etwa ein Buch oder eine Türe mit einem rechteckigen Umriss. Was ich dabei zeichne, hat die Form eines Rechteckes. Umgangssprachlich kann ich sagen, dass ich ein Rechteck zeichne. Aber in dieser Redeweise erscheint das Rechteck wie eine Katze oder ein Einhorn als sichtbare Sache. Geometrische Figuren sind aber keine sichtbaren Sachen, sie bestehen aus Linien, nicht aus Strichen, deshalb kann ich sie nicht sehen. Meine Zeichnung ist ein hergestellter Gegenstand, die geometrische Figur nicht. Was ich zeichne, ist vom Umriss des jeweiligen Gegenstandes abhängig. Dass ich im Falle eines Buches ein Rechteck zeichne, ist von der Form des Buches abhängig. Ich zeichne quasi das Buch. Dass ich die Anordnung der dabei verwendeten Striche als Rechteck bezeichne, beruht darauf, dass ich darin ein bestimmtes Muster oder eine bestimmte Gestalt aus der Geometrie erkenne. Wenn ich mich - wie einstmals Euklid - mit Geometrie befasse, zeichne ich geometrische Figuren, aber solche Zeichnungen betrachte ich nicht als Sinnzeichnungen. Sie sind in einem bestimmten Sinn formal, sie zeigen keine Dinge, sondern (nur) Muster. Ich kann auch in Kunstwerken, etwa von P. Klee, geometrische Figuren erkennen. P. Klee schreibt aber explizit "Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar", dass er als Künstler also keine Sinnzeichnungen im hier gemeinten Sinn macht.[5] Eine Zeichnung ist zwar ein materieller und mithin ein dreidimensionaler Gegenstand. Weil die Striche aber alle auf derselben Ebene liegen, kann die Zeichnung den jeweils gezeichneten Gegenstand nicht wie eine Skulptur zeigen, sondern nur Risse des Gegenstandes. In viele Fällen ist das kein Problem, weil ich den gemeinten Gegenstand in seiner dreidimensionalen Form kenne und ihn mir leicht vorstellen kann. Es gibt aber Zeichnungen, die ich als Problematisierung dieser Beschränkung betrachte. Solche Zeichnungen machen mir das Problem, das sie lösen wollen, erst eigentlich bewusst. Ich erläutere zwei typische Fälle, nämlich die Rissdarstellung, die in technischen Zeichnungen verwendet wird, und die perspektivische Darstellung, die den Gegenstand quasi fotorealistisch zeigt.
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![]() Bildquelle: Wikipedia |
Konstruktionspläne stellen den jeweiligen Gegenstand von verschiedenen Seiten dar, um seine Form zu zeigen. In solchen Fällen wird der Gegenstand als vorab nicht bekannt vorausgesetzt. Seine Form wird dadurch bestimmt, dass er mehrmals gezeichnet wird. Das zeigt zunächst, dass eine Zeichnung die Form eines Gegenstandes nicht zeigen kann. Als Betrachter muss ich überdies natürlich erkennen, dass die drei Zeichnungen denselben Gegenstand zeigen, obwohl es verschiedene Zeichnungen sind. Konstruktionszeichnungen haben einen ganz bestimmten Zweck. Sie werden dementsprechend in bestimmten Situationen gezeichnet. Wenn sie als Herstellungsgrundlagen dienen müssen, genügt das Rissezeichnen - wie bereits angemerkt - nicht, es braucht zusätzliche Angaben. Hier geht es nur darum zu zeigen, was eigentliche Zeichnungen nicht zeigen. |
![]() Bildquelle: Wikipedia |
Konstruktionszeichnungen sind vereinbarte Darstellungen. Sie zeigen drei orthogonale Risse, die als Auf-, Grund- und Seitenriss bezeichnet werden, um die Form hinreichend zu bestimmen. Ausserdem werden Kanten, die jeweils in einem Riss nicht sichtbar sind, weil sie quasi auf der Rückseite liegen, also nur durch eine weitere Ansicht dargestellt werden könnten, gestrichelt gezeichnet. Auch das ist etwas, was die Zeichnung nicht zeigt, sondern der Betrachter vorab wissen muss.
Zeichnungen zeigen auch keine Bewegungen und keine Veränderungen. Wenn ich einen Gegenstand mehrfach zeichne, kann ich damit zeigen, wie er sich verändert. Als Betrachter muss ich dazu aber auch erkennen, dass es sich jeweils um denselben Gegenstand handelt, obwohl die Zeichnungen verschieden sind. Die Wahrnehmung einer Bewegung kann ich durch ein rasches Ersetzen von verschiedenen Zeichnungen erreichen. Das Daumenkino und der Film beruhen darauf, dass ich verschiedene Zeichnungen auf denselben Gegenstand beziehen kann. Im Unterschied zur Konstruktionszeichnung wird derselbe Gegenstand in verschiedenen Zuständen gezeichnet.
Ein anderes Anliegen - oder eine andere Funktion - als mit Risszeichnungen verfolge ich mit einer perspektivischen Darstellung. Ich werde die Perspektive später behandeln, hier geht es zunächst nur darum, dass ich die Form eines Gegenstandes nicht zeichnen kann. Ich kann aber einen Gegenstand so zeichnen, wie er mir in einer bestimmten Hinsicht realistisch erscheint, auch wenn ich dabei bestimmte Eigenschaften des Gegenstandes nicht richtig darstelle. Ich habe bereits den Kopffüssler in Kinderzeichnungen erwähnt, bei welchem bestimmte Aspekt hervorgehoben werden. In fluchtpunktperspektivischen Zeichnungen verzichte ich darauf, parallele Kanten des Gegenstandes durch parallele Striche darzustellen. Darin erkenne ich eine Inversion der optischen Täuschung. Ich zeichne etwas falsch, damit es richtig erscheint. Die perspektivische Darstellung problematisiert den Gesichtspunkt des Zeichners. Perspektivisch zeichne ich nicht den Gegenstand, sondern wie ich ihn sehe.[6]
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Ich habe bisher die einfachste Form des Zeichnens beobachtet, in welcher ich Umrisse von Gegenständen zeichne. Ich vernachlässige hier zunächst, was ich als Gegenstand bezeichne. Als Gegenstand einer Zeichnung bezeichne ich vorerst das, was ich auf einer Sinnzeichnung erkenne. Wenn ich beispielsweise eine Sechskantmutter zeichne, zeichne ich den Umriss des Gegenstandes in Form eines Sechseckes. Die Mutter hat aber ein Loch, also sozusagen einen zweiten, inneren Umriss, den ich Binnenumriss nenne, weil ich ihn innerhalb des Umrisses zeichne. Auf einer einzelnen Zeichnung kann ich nicht erkennen, ob es sich um einen Gegenstand mit zwei Umrissen oder um zwei verschiedene Gegenstände handelt. Auf einer Zeichnung mit mehreren Gegenständen wird die Form der Gegenstände oft ambivalent, auch weil die Zeichnung nicht zeigt, in welchem Verhältnis die gezeichneten Striche stehen. Im Beispiel kann der Kreis für ein Kugel stehen. Deshalb zeichnen Techniker drei Risse, also drei Zeichnungen. Ich verwende den Ausdruck Zeichnung hier für zwei verschiedene Sachen. Zum einen für das durch das Zeichnen entstandene Gebilde, das aus materiellen Strichen besteht, und zum andern - umgangssprachlich üblich - für den Träger der Zeichnung, also etwa für ein (allenfalls eingerahmtes) Blatt Papier, auf dem sich diese Zeichnung befindet. In diesem Sinne sind auf einer technischen Zeichnung oft drei Zeichnungen. Ich zeichne immer den Umriss, aber ich muss nicht den ganzen Umriss eines Gegenstandes zeichnen, wenn ich ihn zeichnen will. Wenn ich beispielsweise einen Baum zeichne, zeichne ich ihn oft ohne die Wurzeln, die im Erdreich verborgen sind, aber natürlich zum Baum gehören. Den Umriss, den ich dann zeichne, ist nur teilweise der Umriss des Baumes, ein Teil ist die Linie, an welcher der Baumstamm die Erde berührt. Ich zeichne dann den Teil des Baumes, den ich sehe. Wenn ich beispielsweise einen Berg zeichne, lasse ich einen Teil des vermeintlichen Umrisses weg, weil ich gar keinen Umriss erkennen kann. Der Berg, etwa das Matterhorn, hat eine ganz bestimmte, leicht erkennbare Form, aber er hat unten, am Fuss des Berges, keine Grenze, die ich mit einem Strich festhalten könnte. Der Berg ist - im naturwüchsigen Aufriss - oben gegen den Himmel klar abgegrenzt, aber unten ist er grenzenlos. Ich kann deshalb seinen Umriss nicht zeichnen - obwohl ich den Berg als Gegenstand auffasse, wenn ich ihn zeichne - und natürlich auch, wenn ich ihm einen Namen gebe. Den Teil des Umrisses, den ich in solchen Fällen zeichne, bezeichne ich als Kontur. Kontur nehme ich wahr, wenn ich mental zeichne oder ans Zeichnen denke. Die Kontur eines Gegenstandes zeichne ich auch, wenn ich den Umriss nicht vollständig sehen kann, weil er teilweise hinter einem anderen Gegenstand versteckt ist. Auf einer Zeichnung kommt das natürlich nur vor, wenn ich mehrere Gegenstände zeichne, die sich teilweise überdecken. In solchen Zeichnungen ist auch eine räumliche Anordnung der Gegenstände zu erkennen. Ich kann dann auf der Zeichnung sehen, welcher der Gegenstände vor oder hinter den anderen stehen. |
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Unter funktionalen Gesichtspunkten unterscheide ich analog zu den Umrissen Konturen und Binnenkonturen. In beiden Fällen bezeichne ich eine durch eine gezeichnete Kurve "gedachte" Linie, die einen Teil eines Umrisses repräsentiert. Ich unterscheide verschieden Arten der Binnenkontur. In beiden Fällen zeichne ich eine Kontur innerhalb einer Kontur oder innerhalb eines Umrisses. Die Binnenkontur zeigt Formaspekte, die durch die Kontur oder Umriss nicht erkennbar sind.
In einem Fall zeigt die Binnenkontur Umrisse oder Konturen von Gegenständen, die innerhalb des gezeichneten Gegenstandes liegen. Das ist etwa der Fall, wenn ich Augen oder Lippen in einem Gesicht zeichne, oder wie im bereits erläuterten Beispiel eine Bohrung in einem Werkstück. In einem andern Fall geht es darum, bestimmte Aspekte der Form des Gegenstandes sichtbarer zu machen. Das gilt insbesondere für kontinuierliche Wölbung, die keine Anfang haben, wenn sie von vorne betrachtet werden. Ein typisches Beispiel dafür ist die Nase, die oft mit Strichen gezeichnet wird, obwohl es im Gesicht diese Grenze zwischen Wange und Nase nicht so gibt. Ein Berg kann im Aufriss sichtbare Kanten zeigen, die nicht zum Umriss gehören, aber von einem anderen Standpunkt aus gesehen Teile des Umrisses wären. Als Kontur kann eine solche Begrenzung auch eine Fläche, etwa einen Fels repräsentieren, die einen Umriss hätte. Schliesslich sind Binnenkonturen oft als Striche gezeichnet, die eigentlich - wie in Strichzeichnungen - sehr schmale Flächen repräsentieren. Der gezeichnete Strich steht dann für ein Rechteck, dessen Seiten so nahe zusammen sind, dass sie in einem Strich zusammenfallen. Das ist etwa der Fall, wenn ich ein Haar mit einem Strich zeichne, obwohl das Haar natürlich ein Körper mit einem Umriss ist. Konturen, die die Frisur betreffen, repräsentieren normalerweise nicht einzelne Haare, sondern Wölbungen innerhalb der Frisur, die als Wellen oder Locken bezeichnet werden. Die Kontur dient dazu, eine Zeichnung anschaulicher zu machen, indem sie auf eine Inhomogenität in den Flächen, die durch Striche abgegrenzt sind, verweisen, wie sie eben typischerweise durch Formaspekte der gezeichneten Gegenstände gegeben sind. In diesem Sinn sind Konturen ein Mittel der Darstellung, das wie die Schraffur die Differenz zwischen zeichnen und malen betrifft, die ich später behandeln werde. Das Verwenden von Konturen zeigt vor allem, dass die gezeichneten Gegenstände keine eigentliche Gegenstände sind. Es zeigt auch, dass die Zeichnung bestimmte Funktionen erfüllen soll, die ich hier verkürzt als künstlerische Darstellung bezeichne. Der Anschauer des Werkes soll nicht den Gegenstand, sondern des Werk als gute Abbildung davon erkennen. |
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Fortsetzung folgt ..
Literatur
Jenni, Oskar: "Wie Kinder die Welt abbilden - und was man daraus folgern kann"
Anmerkungen
1) Nicht einmal A. Leroi-Gourhan, der über Technik spricht, unterscheidet zeichnen. Auch er sieht nur Bilder. (zurück)
2) Eine kurze, aber sehr gute Übersicht über die Kinderzeichnungspsychologie gibt O. Jenni unter dem vielsagenden Titel "Wie Kinder die Welt abbilden - und was man daraus folgern kann". Er verweist auch darauf, dass J. Piaget bei der Zeichnungs-Lehre von H. Luquet seine Inspiration gefunden hat. (zurück)
3) Ich werde später darauf zurückkommen, wie sich das Zeichnen jenseits von Kindern auch so entwickelt hat: Bedeutungsgrösse und Bedeutungsperspektive. (zurück)
4) Mit Sinn ist hier nichts Philosophisches à la Husserlkonsorten gemeint, sondern dass ich den Sinn dessen erkennen kann, was gezeichnet wurde. (zurück)
5) P. Klee hat auch Strichzeichnungen gemacht, die ich als Kopffüssler bezeichnen würde, wenn er ein Kind statt ein Kunstmaler wäre (siehe "Was fehlt ihm?"). (zurück)
6) Technobilder (zB. Fotografien) sind zwangsläufig perspektivische Darstellungen. Sie wurden aber - von der Kamera obskura abgesehen - erst nach der Entdeckung der Perspektive erfunden. (zurück)
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