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Haeckel, Ernst: Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Descendenz-Theorie. Berlin, 1866; 2 Bd.

Volltext

In diesem Werk führt E. Häckel seinen (mehrfach bestimmten) Begriff Ökologie ein. Eigentlich sagt E. Haeckel, was er als Ökologie bezeichnet, nämlich eine bestimmte Perspektive auf physiologische Prozesse, er spricht dabei von einer Wissenschaft des "Haushaltes", was seine Wortschöpfung öko vom griechischen oikos erklärt.

Haushalt bezeichnet gemeinhin nicht einen physiologischen, sondern eine sozialen Zusammenhang. Die Aufhebung dieser Unterscheidung bestimmt die späteren Verwendungen des Ausdruckes.


Auszüge

"Welch hohes Interesse dieser Zweig der Physiologie bietet, mag hier das von Darwin aufgeführte Beispiel von den Wechselbeziehungen der Katzen in England zum rothen Klee erläutern. Der rothe Klee, eine der wichtigsten Futterpflanzen Englands, kann allein dann Samen zur Entwicklung bringen, wenn seine Blumen von Hummeln besucht und bei dieser Gelegenheit befruchtet werden. Da andere Insekten den Nektar in diesen Blüthen nicht erreichen können, muss also die Fruchtbarkeit des Klee's von der Zahl der Hummeln in derselben Gegend abhängig sein, die ihrerseits durch die Zahl der Feldmäuse bedingt wird, welche die Nester uud Waben der Hummeln zerstören. Die Zahl der Feldmäuse steht wieder in umgekehrtem Verhältnisse zu der Zahl der Katzen, ihrer ärgsten Feinde. Und so kann denn, durch die Kette von Wechselbeziehungen zwischen Katzen, Feldmäusen, Hummeln uud rothem Klee, der grosse Einfluss der Katzen auf den Klee daselbst nicht geleugnet werden. Das Beispiel lässt sich aber, wie Carl Vogt gezeigt hat, noch sehr hübsch weiter verfolgen. Da der rothe Klee eines der wichtigsten und besten Nahrungsmittel für das englische Rindvieh ist, so beeinflusst seine Qualität und Quantität diejenige des Rindfleisches, welches bekanntlich für die gesunde Ernährung des englischen Volkes unentbehrlich ist. Da ferner die höchst entwickelten Functionen des letzteren, die Entwicklung seiner Industrie, seiner Marine, seiner freien staatlichen Institutionen durch die starke Entwickelung des Gehirns der Engländer bedingt ist , die wiederum von ihrer kräftigen Ernährung durch gutes Fleisch abhängig ist, so finden wir den rothen Klee von grossem Einfluss auf die gesammte Culturhlüthe, durch welche gegenwärtig England in vielen Beziehungen an der Spitze aller Nationen steht. Wir haben hier also folgende interessante Kette von Wechselbeziehungen zwischen der englischen Cultur und den englischen Katzen: Viel Katzen, wenig Feldmäuse, viel Hummeln, viel Klee, viel Rindfleisch, wenig Krankheit des Menschen, viel Nervenentwickelung desselben, viel Gehirn -Differenzirung, viel Gedanken, viel Freiheit, viel Cultur" (Bd 2, S. 235, Fussnote 1)

"Die bisherige einseitige, wenn auch in einzelnen Zweigen bewunderungswürdig hohe Ausbildung der Physiologie veranlasst mich hier ausdrücklich hervorzuheben , dass die Oecologie, die Wissenschaft von den Wechselbeziehungen der Organismen unter einander, und ebenso die Chorologie, die Wissenschaft von der geographischen und topographischen Verbreitung der Organismen, integrirende Bestandteile der Physiologie sind, obwohl sie gewöhnlich gar nicht dazu gerechnet werden. Nach meiner Ansicht muss die Physiologie in drei Hauptabschnitte zerfallen: I. Physiologie der Ernährung (Nutritkm); II. Physiologie der Fortpflanzung (Generation); III. Physiologie der Beziehung (Belation). Zu dieser letzteren gehört die Oecologie als die Physiologie der Wechselbeziehungen der Organismen zur Aussenwelt und zu einander, und ebenso die Chorologie als die Physiologie der geographischen und topographischen Verbreitung. Die Physiologie der Beziehungs- Verrichtungen der Thiere würde also nicht bloss die Functionen der Nerven, der Sinnesorgane, der Muskeln zu erörtern haben, sondern auch die zusammengesetzteren Functionen , welche die oecologischeu und chorologischen Erscheinungen verursachen, und welche aus der einheitlichen Lebensthätigkeit des ganzen Organismus resultiren. Da die Ernährung die Erhaltung des Individuums, die Fortpflanzung die Erhaltung der Species (oder richtiger des Stammes) bewirkt, so kann man die Wissenschaft von diesen beiden Functionen auch als ,,Conservations - Physiologie" oder Lehre von den Selbsterhaltungs - Verrichtungen der Organismen zusammentassen, und ihr als anderen Hauptzweig die ,,Relations- Physiologie" oder die Lehre von den Beziehungs-Verrichtungen der Organismen gegenüberstellen. Vergl. Bd. I, S. 238 (Bd 2, S. 236, (Fussnote 1)).

"Die Oecologie oder die Lehre vom Naturhaushalte, ein Theil der Physiologie, welcher bisher in den Lehrbüchern noch gar nicht als solcher aufgeführt wird, verspricht in dieser Beziehung die glänzendsten und überraschendsten Früchte zu bringen. Die Thatsache , dass zwischen allen Organismen, welche an einem und demselben Orte der Erde beisammen leben, «äusserst zusammengesetzte Wechselbeziehungen herrschen, kann nicht geleugnet werden, ebensowenig die Thatsache, dass von den zahlreichen individuellen Keimen aller Organismen nur eine ganz geringe Anzahl zur Entwickelung und Fortpflanzung gelangt. Bringen wir nun diese unleugbaren Thatsachen mit den oben festgestellten Gesetzen der Vererbung und Abänderung in Zusammenhang, so folgt aus dieser Combination mit absoluter Notwendigkeit die Existenz und Wirksamkeit der natürlichen Züchtung" (Bd 2, S. 235/6).

Unter Oecologie verstehen wir die gesammte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle „Existenz-Bedingungen" rechnen können. Diese sind theils organischer, theils anorganischer Natur; sowohl diese als jene sind, wie wir vorher gezeigt haben, von der grössten Bedeutung für die Form der Organismen, weil sie dieselbe zwingen, sich ihnen anzupassen. Zu den anorganischen Existenz -Bedingungen, welchen sich jeder Organismus anpassen muss, gehören zunächst die physikalischen und chemischen Eigenschaften seines Wohnortes, das Klima (Licht, Wärme, Feuchtigkeits- und Electricitäts - Verhältnisse der Atmosphäre), die anorganischen Nahrungsmittel, Beschaffenheit des Wassers und des Bodens etc. Als organische Existenz -Bedingungen betrachten wir die sämmtlichen Verhältnisse des Organismus zu allen übrigen Organismen, mit denen er in Berührung kommt, und von denen die meisten entweder zu seinem Nutzen oder zu seinem Schaden beitragen. Jeder Organismus hat unter den übrigen Freunde und Feinde, solche, welche seine Existenz begünstigen und solche , welche sie beeinträchtigen. Die Organismen, welche als organische Nahrungsmittel für Andere dienen, oder welche als Parasiten auf ihnen leben, gehören ebenfalls in diese Kategorie der organischen Existenz -Bedingungen. Von welcher ungeheueren Wichtigkeit alle diese Anpassungs- Verhältnisse für die gesammte Formbildung der Organismen sind, wie insbesondere die or-ganischen Existenz - Bedingungen im Kampfe um das Dasein noch viel tiefer umbildend auf die Organismen einwirken, als die anorganischen, haben wir in unserer Erörterung der Selections-Theorie gezeigt. Der ausserordentlichen Bedeutung dieser Verhältnisse entspricht aber ihre wissenschaftliche Behandlung nicht im Mindesten. Die Physiologie, welcher dieselbe gebührt, hat bisher in höchst einseitiger Weise fast bloss die Conservations -Leistungen der Organismen untersucht (Erhaltung der Individuen und der Arten , Ernährung und Fortpflanzung), und von den Relations- Functionen bloss diejenigen, welche die Beziehungen der einzelnen Theile des Organismus zu einander und zum Ganzen herstellen. Dagegen hat sie die Beziehungen desselben zur Aussenwelt, die Stellung, welche jeder Organismus im Naturhaushalte, in der Oeconomie des Natur- Ganzen einnimmt, in hohem Grade vernachlässigt, und die Sammlung der hierauf bezüglichen Thatsachen der kritiklosen „Naturgeschichte" überlassen, ohne einen Versuch zu ihrer mechanischen Erklärung zu machen. (Vergl. oben S. 236 Anm. und Bd. I, S. 238.) (Bd 2, S. 286f).

Unter Chorologie verstehen wir die gesammte Wissenschaft von der räumlichen Verbreitung der Organismen, von ihrer geographischen und topographischen Ausdehnung über die Erdoberfläche. Diese Disciplin hat nicht bloss die Ausdehnung der Standorte und die Grenzen der Verbreitungs - Bezirke in horizontaler Richtung zu projiciren, sondern auch die Ausdehnung der Organismen oberhalb und unterhalb des Meeresspiegels, ihr Herabsteigen in die Tiefen des Oceans, ihr Heraufsteigen auf die Höhen der Gebirge in verticaler Richtung zu verfolgen. Im weitesten Sinne gehört mithin die gesammte „Geographie und Topographie der Thiere und Pflanzen" hierher, sowie die Statistik der Organismen, welche diese Verbreitungs-Verhältnisse mathematisch darstellt (Bd 2, S. 287).