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Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt aM.

Volltext (mit Passwort)

Vorwort
Zur Einführung: Paradigmawechsel in der Systemtheorie
1 System und Funktion
2 Sinn
3 Doppelte Kontingenz
4 Kommunikation und Handlung
5 System und Umwelt
6 Interpenetration
7 Die Individualität psychischer Systeme
8 Struktur und Zeit
9 Widerspruch und Konflikt
10 Gesellschaft und Interaktion
11 Selbstreferenz und Rationalität
12 Konsequenzen für Erkenntnistheorie

Anmerkungen

Luhmann führt im 1. Absatz des Vorwort sinngemäß aus: Die Soziologie steckt in einer Theoriekriese. Die Soziologie hat mit ihrer empirischen Forschung ein Menge an Wissen angesammelt, nicht aber die Bildung einer facheinheitlichen Theorie zustandegebracht. (Mit anderen Worten: In der Soziologie hat nichts Hand und Fuß. Jeder Sozialstudent bastelt sich seine eigenen Theorien zurecht.) Um sich als wissenschaftliche Disziplin zu behaupten, kommt sie jedoch nicht umhin, ihre Ergebnisse überprüfbar zu machen. Resigniert macht man jedoch nicht einmal mehr den Versuch.

Im 2. Absatz des Vorwort fängt Luhmann an, über den Begriff "Theorie" zu philosophieren.

Im 1. Kapitel seines Buchs legt er dar, daß bei den wissenschaftlichen Disziplinen, die sich der *Systemtheorie* bedienen, rasante Fortschritte zu beobachten sind.


Textstellen

"Gegenstandserfassung in dem Sinne, daß sie als soziologische Theorie alles Soziale behandelt und nicht nur Ausschnitte (wie zum Beispiel Schichtung, Mobilität, Besonderheiten der modernen Gesellschaft, Interaktionsmuster etc.)" (9).

"Im Unterschied zu gängigen Theoriedarstellungen […] soll im folgenden versucht werden, die Zahl der benutzten Begriffe zu erhöhen und sie mit Bezug aufeinander zu bestimmen (...): Sinn, Zeit, Ereignis, Element, Relation, Komplexität, Kontingenz, Handlung, Kommunikation, System, Umwelt, Erwartung, Struktur, Prozess, Selbstreferenz, Geschlossenheit, Selbstorganisation, Autopoiesis, Individualität, Beobachtung, Selbstbeobachtung, Beschreibung, Selbstbeschreibung, Einheit, Reflexion, Differenz, Information, Interpenetration, Interaktion, Gesellschaft, Widerspruch, Konflikt. (...) Diese Theorielage erzwingt eine Darstellung in ungewöhnlicher Abstraktionslage (12).

"Danach besteht ein differenziertes System nicht mehr einfach aus einer gewissen Anzahl von Teilen und Beziehungen zwischen Teilen; es besteht vielmehr aus einer mehr oder weniger großen Zahl von operativ verwendbaren System/Umwelt-Differenzen, die jeweils an verschiedenen Schnittlinien das Gesamtsystem als Einheit von Teilsystem und Umwelt rekonstruieren" (22).

"Das, was mit der Differenz von Ganzem und Teil gemeint war, wird als Theorie der Systemdifferenzierung reformuliert und so in das neue Paradigma eingebaut." (S.22). Es wird also nicht "verworfen", sondern es wird auf "ein genaueres Verständnis von Homogenität" abgezielt, dass dann auch "Verständnis für die Möglichkeiten, unterschiedlicher Gesichtspunkte der Ausdifferenzierung von Teilsystemen zugleich zu verwenden" (S.23).

Eine zweite Frage ist es dann, ob man mit Hilfe der theoretischen Beschreibung von Besonderheiten sozialer Systeme, wie zum Beispiel Ereignishaftigkeit der Elemente und radikale Temporalisierung, Beiträge zur Weiterentwicklung einer allgemeinen Systemtheorie leisten kann ( ?? 24).

"Die (inzwischen klassische) Unterscheidung von ›geschlossenen‹ und ›offenen‹ Systemen wird ersetzt durch die Frage, wie selbstreferentielle Geschlossenheit Offenheit erzeugen könne" (25)

Die Umwelt wird somit zum notwendigen Korrelat selbstreferenzieller Operationen, da "gerade diese Operationen nicht unter der Prämisse des Solipsismus ablaufen können (man könnte auch sagen: weil alles, was in ihr eine Rolle spielt, einschließlich des Selbst, per Unterscheidung eingeführt werden muß)" (25).

"Eines der wichtigsten Resultate dieser Zusammenführung mit Gewinn, so hoffe ich, für beide Seiten besteht in der radikalen Verzeitlichung des Elementbegriffs. Die Theorie der sich selbst herstellenden, autopoietischen Systeme kann in den Bereich der Handlungssysteme nur überführt werden, wenn man davon ausgeht, daß die Elemente, aus denen das System besteht, keine Dauer haben können, also unaufhörlich durch das System dieser Elemente selbst reproduziert werden müssen" (28).

"Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Systeme gibt. Sie beginnen also nicht mit einem erkenntnistheoretischen Zweifel. Sie beziehen auch nicht die Rückzugsposition einer ›lediglich analytischen Relevanz‹ der Systemtheorie. [...] Der Systembegriff bezeichnet also etwas, was wirklich ein System ist, und läßt sich damit auf eine Verantwortung für Bewährung seiner Aussagen an der Wirklichkeit ein" (30).

"Der Begriff des Systems ist Luhmann zufolge nicht einfach ein Schema, mit dem die Systemtheorie an die Welt herangeht und auf diese Weise ihren Gegenstandsbereich erst schafft, sondern es wird davon ausgegangen, daß bestimmte Sachverhalte an sich selbst so strukturiert sind, wie es der Systembegriff beschreibt. Ein Hinweis darauf, welchen sachlichen Hintergrund diese These hat (abgesehen davon, daß sie die Setzung eines Ausgangspunkts darstellt), findet sich kurz darauf:

"Unsere These, daß es Systeme gibt, kann jetzt enger gefaßt werden: Es gibt selbstreferentielle Systeme" (31).

"Würde man die Frage stellen, was Elemente (zum Beispiel: Atome, Zellen, Handlungen) ›sind‹, würde man immer auf hochkomplexe Sachverhalte durchstoßen, die der Umwelt des Systems zugerechnet werden müssen. Element ist also jeweils das, was für ein System als nicht weiter auflösbare Einheit fungiert (obwohl es, mikroskopisch betrachtet, ein hochkomplex Zusammengesetztes ist)" (43).

"Die logische Möglichkeit, jedes Element mit jedem anderen zu verknüpfen, kann kein System realisieren. Da ist der Ausgangspunkt aller Reduktion von Komplexität (...) Als komplex wollen wir eine zusammenhängende Menge von Elementen bezeichnen, wenn auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem anderen verknüpft werden kann. (...) Jedes selbstreferentielle System hat nur den Umweltkontakt, den es sich selbst ermöglicht, und keine Umwelt 'an sich'. Aber eben dies "Sich-Ermöglichen" von Umwelt ist in einer strukturlosen, beliebigen, chaotischen Umwelt nicht möglich, weil es in einer solchen Umwelt keine 'innen' überzeugenden Bewährungen und evolutionär gesehen, keinen Bestand gewinnen kann. (ungefähr S.46 )

"Nur Komplexität kann Komplexität reduzieren" (49)

"Für einen (wissenschaftlichen) Beobachter mag dann immer noch analytisch unklar bleiben, wie die Grenzen verlaufen, aber das rechtfertigt es nicht, die Abgrenzung von Systemen als eine allein analytische Bestimmung anzusehen (anders natürlich, wenn es um Abgrenzung von Untersuchungsobjekten geht!). Ein an Realität interessierter Beobachter bleibt hier auf die operativen Bestimmungsmöglichkeiten des Systems angewiesen" (54; vgl. auch 246, Fußnote 7).

"verlagert sich die Grenzdefinition nach innen, und es bewähren sich selbstreferentiell-geschlossene Systeme, die ihre Grenzen durch ihren Operationsmodus bestimmen und alle Umweltkontakte durch andere Realitätsebenen vermitteln lassen" (55).

[Dies gilt in je spezifischer Weise für alle Arten von Systemen:]

"So wenig ein Organismus jenseits seiner Haut weiterleben, so wenig ein psychisches System sein Bewußtsein operativ in die Welt hinein verlängern kann, [...] so wenig kann eine Gesellschaft mit ihrer Umwelt kommunizieren" (55/6).

"Der Begriff Selbstreferenz bezeichnet die Einheit, die ein Element, ein Prozeß, ein System für sich selbst ist. ›Für sich selbst‹ – das heißt: unabhängig vom Zuschnitt der Beobachtung durch andere" (58).

"Dabei wird der Begriff der Selbstreferenz (Reflexion, Reflexivität) von seinem klassischen Standort im menschlichen Bewußtsein oder im Subjekt gelöst und auf Gegenstandsbereiche, nämlich auf reale Systeme als Gegenstand der Wissenschaft, übertragen" (58).

"Ein System kann man als selbstreferentiell bezeichnen, wenn es die Elemente, aus denen es besteht, als Funktionseinheiten selbst konstituiert und in allen Beziehungen zwischen diesen Elementen eine Verweisung auf diese Selbstkonstitution mitlaufen läßt, auf diese Weise die Selbstkonstitution also laufend reproduziert" (60).

dass das System durch Erhöhung der einen "Komplexität", jene der beobachtbaren Umwelt erhöhen könne: "Dies Konzept des selbstreferentiell-geschlossenen Systems steht nicht im Widerspruch zur Umweltoffenheit der Systeme; Geschlossenheit der selbstreferentiellen Operationsweise ist vielmehr eine Form der Erweiterung möglichen Umweltkontaktes; sie steigert dadurch, daß sie bestimmungsfähigere Elemente konstituiert, die Komplexität der für das System möglichen Umwelt. Diese These steht im Widerspruch sowohl zur klassischen Entgegensetzung von Theorien geschlossener und offener Systeme [70] als auch zum Begriff der Autopoiesis von Maturana, der zur Herstellung von System/Umweltbeziehungen einen Beobachter als ein anderes System erfordert [71] (S. 63)
70 Vgl. programmatisch: Ludwig von Bertalanffy, General Systems Theory, General Systems 1 (1956), S. 1-10. 71 Siehe z. B. Humberto Maturana, Strategies cognitives, in: Morin/Piatelli-Palmarini a.a.O. S. 418-432 (426 ff.) und dazu die kritischen Einwände von Henri Atlan ebenda. S.443.


Anmerkung: Wenn ich die Umwelt als Systemgrenze begreife, besteht diese Erhöhung in der Vermehrung der Sensoren an der Systemgrenze. In dieser Systemkybernetischen Perspektive spielt dann keine Rolle, weshalb die "Sensoren" einen bestimmten Wert haben (Hypothesis non fingo).

"Geschlossenheit ist demnach im Rahmen der Theorie selbstreferentieller Systeme nicht mehr der exotische Grenzfall eines Systems, das das Ausmaß der Wechselwirkung mit der Umwelt auf Null reduziert, sondern vielmehr die notwendige Voraussetzung dafür, daß ein System sich auf seine Umwelt einlassen kann.

"Dies Konzept des selbstreferentiell-geschlossenen Systems steht nicht im Widerspruch zur Umweltoffenheit der Systeme; Geschlossenheit der selbstreferentiellen Operationsweise ist vielmehr eine Form der Erweiterung möglichen Umweltkontaktes; sie steigert dadurch, daß sie bestimmungsfähigere Elemente konstituiert, die Komplexität der für das System möglichen Umwelt" (63).

"Auch Sinnsysteme sind vollständig geschlossen insofern, als nur Sinn auf Sinn bezogen werden und nur Sinn Sinn verändern kann. [...] Aber anders als bei Nervensystemen sind Systemgrenzen und Umwelten in sinnhafte Strukturen und Prozesse einbeziehbar. Sie nehmen für die Prozesse selbstreferentieller Systeme (nicht: an sich!) Sinn an, so daß solche Systeme mit der Differenz von System und Umwelt intern operieren können. Sinn ermöglicht bei allen internen Operationen ein laufendes Mitführen von Verweisungen auf das System selbst und auf eine mehr oder weniger elaborierte Umwelt [...]" (64).

"Es gibt Maschinen, chemische Systeme, lebende Systeme, bewusste Systeme, sinnhaft-kommunikative (soziale) Systeme; aber es gibt keine all dies zusammenfassenden Systemeinheiten." (67).

"Eine Information kommt immer dann zustande, wenn ein selektives Ereignis (externer oder interner Art) im System selektiv wirken, das heißt Systemzustände auswählen kann. Das setzt die Fähigkeit zur Orientierung an Differenzen (im Zugleich oder im Nacheinander) voraus, die ihrerseits an einen selbstreferentiellen Operationsmodus des Systems gebunden zu sein scheint."(S. 68)

"Erst in hochkomplexen Gesellschaften, erst in der neueren Zeit wird das Interesse an zeitübergreifender prudentia durch ein Interesse an Beschleunigungen überholt: Das 18. Jahrhundert entdeckt, dass der Geschmack schneller urteilen kann als die Vernunft, weil er seine Kriterien individualisieren und durch Selbstbeobachtung legitimieren kann."

"Für Systeme mit temporalisierter Komplexität wird somit Reproduktion zu einem Dauerproblem. [...] Um deutlicher zu akzentuieren, daß nicht die unveränderte Erhaltung des Systems gemeint ist, sondern ein Vorgang auf der Ebene der Elemente, der für jede Erhaltung und Änderung des Systems unerläßlich ist, wollen wir die Reproduktion der ereignishaften Elemente als Operation bezeichnen" (79).

"Die funktionale Analyse benutzt Relationierungen mit dem Ziel, Vorhandenes als kontingent und Verschiedenartiges als vergleichbar zu erfassen. Sie bezieht Gegebenes, seien es Zustände, seien es Ereigisse, auf Problemgesichtspunkte, und sucht verständlich und nachvollziehbar zu machen, dass das Problem so oder auch anders gelöst werden kann. Die Relation von Problem und Problemlösung wird dabei nicht um ihrer selbst willen erfaßt; sie dient vielmehr als Leitfaden der Frage nach anderen Möglichkeiten, als Leitfaden der Suche nach funktionalen Äquivaltenten." (83f)

"Man muß dann nur die pure Hypothezität der Kausalannahmen nicht vergessen, sondern in den Vergleich einbringen. Man kommt dann zu Aussagen wie: Wenn (es wirklich zutrifft, daß) Inflationen Verteilungsprobleme relativ konfliktfrei lösen (mit welchen Nebenfolgen immer), sind sie ein funktionales Äquivalent für politisch riskantere, weil konfliktreichere staatliche Planung. Und erst auf Grund eines solchen Aussagengerüstes erscheint es dann als lohnend, die zu Grunde liegenden Kausalitäten empirisch zu erforschen. In diesem Sinne ist die funktionale Methode letzlich eine vergleichende Methode, und ihre Einführung in die Realität dient dazu, das Vorhandene für den Seitenblick auf andere Möglichkeiten zu öffnen." (85)

"Die eigentliche Theorieleistung, die den Einsatz funktionaler Analysen vorbereitet, liegt demnach in der Problemkonstruktion." (86)

"Das Phänomen Sinn erscheint in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns. Etwas steht im Blickpunkt, im Zentrum der Intention, und anderes wird marginal angedeutet als Horizont für ein Und-so-weiter des Erlebens und Handelns" (93).

Luhmann übernimmt den phänomenologischen Sinn von E. Husserl (93)

"Mit dieser These universeller, selbstreferentieller Formbildung allen sinnhaften Prozessierens ist freilich nicht gesagt, daß es außer Sinn nichts gibt. Das würde den systemtheoretischen Rahmenbedingungen der Analyse der Funktion von Sinn widersprechen, und das widerspräche auch direkt zugänglichen Erfahrungsgehalten, die [...] mit Titeln wie Genuß, Faktizität, Existenz benannt worden sind. [...] An die Stelle solcher Titel, deren Sinn das nicht decken kann, was sie meinen, könnte heute die Einsicht treten, daß die Genese und Reproduktion von Sinn einen Realitätsunterbau voraussetzt, der seine Zustände ständig wechselt. Sinn entzieht diesem Unterbau dann Differenzen [...], um differenzorientierte Informationsverarbeitung zu ermöglichen" (97).

"Als Information soll hier ein Ereignis bezeichnet werden, das Systemzustände auswählt. Das ist nur an Hand Strukturen möglich, die Möglichkeiten begrenzen und vorsortieren. Information setzt also Struktur voraus, ist aber selbst keine Struktur, sondern nur das Ereignis, das den Strukturgebrauch aktualisiert. .. Eine Information, die sinngemäß wiederholt wird, ist keine Information mehr. Sie behält in der Wiederholung ihren Sinn, verliert aber ihren Informationswert. .. "Man liest in der Zeitung: Die DM sei aufgewertet worden. Wenn man dasselbe in einer anderen Zeitung nochmals liest, hat diese Aktivität keinen Informationswert mehr (sie ändert den eigenen Systemzustand nicht mehr), obwohl sie strukturell dieselbe Selektion präsentiert (S.102)

"Mit Hilfe sinnhafter Informationsverarbeitung gewinnt das Verhältnis von System und Umwelt eine Fassung, die mit hoher Komplexität und Interdependenz kompatibel ist. Information ist nur im System [...] möglich. Sie kann gleichwohl durch das System der Umwelt zugerechnet werden. [...] Das System kann auf diese Weise Distanz von der Umwelt gewinnen und sich gerade dadurch der Umwelt aussetzen. Es kann sein Verhältnis zur Umwelt konditionieren und dabei doch der Umwelt die Entscheidung überlassen, wann welche Bedingungen gegeben sind" (104).

„Das Besondere an der Sinngeschichte ist vielmehr, das sie wahlfreien Zugriff auf den Sinn von vergangenen bzw. künftigen Ereignissen ermöglicht, also ein Überspringen der Sequenz. Geschichte entsteht durch Entbindung von Sequenzen. Ein Sinnsystem hat in dem Maße Geschichte, als es sich durch freigestellte Zugriffe limitiert - sei es durch bestimmte vergangene Ereignisse (die Zerstörung des Tempels, die Krönung des Kaisers durch den Papst, die Niederlage von Sedan; oder im kleineren: die Hochzeit, der Abbruch des Studiums, die erste Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe, das ‚coming out' des Homosexuellen), oder sei es durch Finalisierung der Zukunft. Geschichte ist demnach immer: gegenwärtige Vergangenheit bzw. gegenwärtige Zukunft; immer: Abstandnahme von der reinen Sequenz; und immer: Reduktion der dadurch gewonnenen Freiheit des sprunghaften Zugriffs auf alles Vergangene und alles Künftige.” (118)

"Die Konsequenzen für Begriff und Theorie der Sprache können wir hier nicht ausarbeiten. Der Begriff der symbolischen Generali- sierung des Selbstbezugs von Sinn ersetzt den Begriff des Zeichens, der bis heute die Theorietradition beherrscht. Niemand wird bestreiten wollen, daß Worte (wie auch Dinge) als Zeichen verwendet werden können, also als Hinweis auf etwas, das unabhängig von der Sprache existiert. Die Sprache selbst kann jedoch nicht als eine bloße Vernetzung von Zeichen begriffen werden, denn sie hat keineswegs nur, ja nicht einmal vorwiegend diese Funktion, auf etwas Vorhandenes hinzuweisen. Sprache ist auch nicht nur ein Mittel der Kommunikation, denn sie fungiert in psychischen Systemen auch ohne Kommunikation. Ihre eigentliche Funktion liegt in der Generalisierung von Sinn mit Hilfe von Symbolen, die - im Unterschied zur Bezeichnung von e t w a s a n d e r e m - das, was sie leisten, s e l b s t s i n d. Nur in ihrer Funktion als Kommunikationsmedium... ist die Sprache an Codierung, also an akustische bzw. optische Zeichen für Sinn gebunden." (S. 137)

"Man hat [...] versucht, das dem Sein zu Grunde liegende Bewußtsein (›subiectum‹) selbst seinslos zu denken. Aber das aus dem Sein in dieser Weise vertriebene, sich selbst suchende Subjekt spezialisierte sich auf Erkenntnistheorie oder wurde revolutionär – beides aufs Ganze gesehen unzulängliche Auswege. Die Ortlosigkeit und Unfixierbarkeit eines extramundanen Subjekts symbolisiert dann letztlich nur noch den Fehlbegriff der Theorie – und nicht mehr etwas, was ein bewußtes Ich in sich selbst entdecken kann" (145).

"Diese These wird durch die hier vollzogene Reobjektivierung des selbstreferentiellen Systems nicht für falsch erklärt, sondern nur generalisiert: Jedes selbstreferentielle System hat nur den Umweltkontakt, den es sich selbst ermöglicht, und keine Umwelt ›an sich‹. Aber eben dies ›Sich-Ermöglichen‹ von Umwelt ist in einer strukturlosen, beliebigen, chaotischen Umwelt nicht möglich, weil es in einer solchen Umwelt keine ›innen‹ überzeugenden Bewährungen und, evolutionär gesehen, keinen Bestand gewinnen kann. [...] Erkenntnis im besonderen und Systemverhalten im allgemeinen setzt strukturierte und in ausreichendem Maße zugriffsfeste Komplexität voraus" (146).

"Das Problem der doppelten Kontingenz ist virtuell immer präsent, sobald ein Sinn erlebendes psychisches System gegeben ist. Es begleitet unfocussiert alles Erleben, bis es auf eine andere Person oder ein soziales System trifft, dem freie Wahl zugeschrieben wird. Dann wird es als Problem der Verhaltensabstimmung aktuell." (151)

"... Entsprechend müssen wir den Kontingenzbegriff erweitern, nämlich zurückführen auf seine ursprüngliche modeltheoretische Fassung. Der Begriff wird gewonnen durch Ausschließung von Notwendigkeit und Unmöglichkeit. Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; es bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist. In diesem Sinne spricht man neuerdings auch von 'possible worlds' der einen realen Lebenswelt. Die Realität dieser Welt ist also im Kontingenzbegriff als erste und unauswechselbare Bedingung des Möglichseins vorausgesetzt." (152)

"Die Grundsituation der doppelten Kontingenz ist dann einfach: Zwei black boxes bekommen es, auf Grund welcher Zufälle immer, miteinander zu tun. Jede bestimmt ihr eigenes erhalten durch komplexe selbstreferentielle Operationenen innerhalb ihrer Grenzen. Das, was von ihr sichtbar wird, ist deshalb notwendig Reduktion. Jede unterstellt das gleiche der anderen. Deshalb bleiben die black boxes bei aller Bemühung und bei allem Zeitaufwand (sie selbst sind immer schneller!) füreinander undurchichtig." (156)

"Die Unsicherheitsabsorption läuft über die Stabilisierung von Erwartungen, nicht über die Stabilisierung des Verhaltens selbst, was natürlich voraussetzt, dass das Verhalten nicht ohne Orientierung an Erwartungen gewählt wird." (158)

"Das methodologische Rezept hierfür lautet: Theorien zu suchen, denen es gelingt, Normales für unwahrscheinlich zu erklären. Dies kann in funktionalistischer Perspektive mit Hilfe von Problemstellungen geschehen, die es ermöglichen, normale Erfahrungsgehalte der Lebenswelt als immer schon gelungene, aber vielleicht auch anders mögliche Problemlösung darzustellen." (162)

Was Kontingenzerfahrung leistet, ist mithin die Konstitution und Erschließung von Zufall für konditionierende Funktionen im System, also die Transformation von Zufällen in Strukturaufbauwahrscheinlichkeiten. Alles weitere ist eine Frage der Selektion dessen, was sich bewährt und was für weiteres verwendbar ist.“ (S. 170f.)

"Ich sehe das Problem darin, daß Kommunikation und Handlung in der Tat nicht zu trennen (wohl aber zu unterscheiden) sind und daß sie ein Verhältnis bilden, das als Reduktion eigener Komplexität zu begreifen ist. Der elementare, Soziales als besondere Realität konstituierende Prozeß ist ein Kommunikationsprozeß. Dieser Prozeß muß aber, um sich selbst steuern zu können, auf Handlungen reduziert, in Handlungen dekomponiert werden. Soziale Systeme werden demnach nicht aus Handlungen aufgebaut, so als ob diese Handlungen auf Grund der organisch-psychischen Konstitution des Menschen produziert werden und für sich bestehen könnten; sie werden in Handlungen zerlegt und gewinnen durch diese Reduktion Anschlußgrundlagen für weitere Kommunikation." (S.193)

"Mindestvoraussetzung für das Zustandekommen von (wie immer schlecht codierter) Kommunikation ist natürlich: dass als Ego ein System fungiert, das nicht vollständig durch die eigene Vergangenheit determiniert ist, also überhaupt auf Informationen reagieren kann. Im Unterschied zu bloßer Wahrnehmung von informativen Ereignissen kommt Kommunikation nur dadurch zustande, dass Ego zwei Selektionen unterscheiden und diese Differenz seinerseits handhaben kann. Der Einbau dieser Differenz macht Kommunikation erst zur Kommunikation, zu einem Sonderfall von Informationsverarbeitung schlechthin. Die Differenz liegt zunächst in der Beobachtung des Alter durch Ego. Ego ist in der Lage, das Mitteilungsverhalten von dem zu unterscheiden, was es mitteilt. Wenn Alter sich seinerseits beobachtet weiß, kann er diese Differenz von Information und Mitteilungsverhalten selbst übernehmen und sich zu eigen machen, sie ausbauen, ausnutzen und zur (mehr oder weniger erfolgreichen) Steuerung des Kommunikationsprozesses machen." (S. 198)

"Als symbolisch generalisiert wollen wir Medien bezeichnen, die Generalisierungen verwenden, um den Zusammenhang von Selektion und Motivation zu symbolisieren, das heißt: als Einheit darzustellen. Wichtige Beispiele sind: Wahrheit, Liebe, Eigentum/Geld, Macht/Recht; in Ansätzen auch religiöser Glaube, Kunst und heute vielleicht zivilisatorisch standardisierte 'Grundwerte'". (S.222)

"Erst durch Handlung wird die Kommunikation als einfaches Ereignis an einem Zeitpunkt fixiert. Auf der Basis des Grundgeschehens Kommunikation und mit ihren operativen Mitteln konstituiert sich ein soziales System demnach als Handlungssystem. Es fertigt in sich selbst eine Beschreibung von sich selbst an, um den Fortgang der Prozesse, die Reproduktion des Systems zu steuern. Für Zwecke der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung wird die Symmetrie der Kommunikation asymmetrisiert, wird ihre offene Anregbarkeit durch Verantwortlichkeit für Folgen reduziert. Und in dieser verkürzten, vereinfachten, dadurch leichter faßlichen Selbstbeschreibung dient Handlung, nicht Kommunikation, als Letztelement."(227/228)

"Der Begriff der Umwelt darf nicht als eine Art Restkategorie verstanden werden. Vielmehr ist das Umweltverhältnis konstitutiv für Systembildung. [...] Für die Theorie selbstreferentieller Systeme ist die Umwelt vielmehr Voraussetzung der Identität des Systems, weil Identität nur durch Differenz möglich ist. [...] Der Ausgangspunkt aller daran anschließenden systemtheoretischen Forschungen ist daher nicht eine Identität, sondern eine Differenz" (242 f.).

"Alles, was vorkommt, ist immer zugleich zugehörig zu einem System (oder zu mehreren Systemen) und zugehörig zur Umwelt anderer Systeme" (243).

"Man kann sich entschließen, dies [die Handhabung der System/Umwelt-Differenz durch das System] zu ignorieren und die Systemgrenzen anders ziehen; aber das bleibt dann eine recht willkürliche Operation, die sich rechtfertigen muß, wenn sie behaupten will, trotzdem Erkenntnis zu leisten. Zunächst liegt es näher, von einer wissenschaftlichen Theorie zu fordern, ihr eigenes Beobachtungsschema mit dem zur Deckung zu bringen, das im System selbst gehandhabt wird [...]. Unsere Überlegungen jedenfalls halten sich an dieses Gebot und sehen darin den Realitätsbezug der Erkenntnis" (245).

"Die Differenz von System und Umwelt, die ein System praktiziert, überlagert sich einer durchlaufenden Realität und setzt diese voraus. [...] So ordnet ein kommunikatives Sozialsystem in Themen der eigenen Kommunikation zwar alles nach intern und extern [...]. Es setzt als Bedingung dieser Praxis aber gleichzeitig voraus, daß physische, chemische, organische, psychische Realitäten in ihrer eigenen Ordnung diese Differenz unterlaufen [...]. Die These einer zu Grunde liegenden Realität entspricht einer Annahme, auf die wir uns oben bereits eingelassen haben: daß alle Elemente auf der Grundlage einer vorausgesetzten Komplexität als emergente Einheiten konstituiert werden, die für das System selbst nicht weiter auflösbar sind. Wir können dem jetzt hinzufügen, daß diese vorausgesetzte Komplexität, die Elementbildung ermöglicht, eben deshalb im System nur als Umwelt behandelt werden kann" (245 f.).

"Dies alles heißt jedoch nicht, daß die Umwelt ein nur eingebildetes Gegenüber, eine bloße Erscheinung sei. Man muß vielmehr ›die Umwelt‹ von den Systemen in der Umwelt unterscheiden. Die Umwelt enthält eine Vielzahl von mehr oder weniger komplexen Systemen, die sich mit dem System, für das sie Umwelt sind, in Verbindung setzen können" (249).

"Diese Formulierungen deuten schon an, daß das Umweltverhältnis des Systems durch die Struktur des Systems reguliert wird; daß also die Selektionsebene der Struktur dazu dient, Komplexitätsunterlegenheit zu kompensieren. Man kann dies auch mit Hilfe des Zufallsbegriffs verdeutlichen. Wir wollen Einwirkungen der Umwelt auf das System oder des Systems auf die Umwelt dann als zufällig bezeichnen, wenn sie nicht durch strukturelle Vorkehrungen mit der Vergangenheit bzw. der Zukunft des Systems verknüpft sind. Kein System kann Zufälle in diesem Sinne vermeiden, denn kein System hat genug Komplexität, um auf alles, was vorkommt 'systematisch' zu reagieren. Die Strukturwahl überläßt mithin vieles dem Zufall. Auch dies 'dem Zufall Überlassen' ist ein Mittel der Reduktion von Komplexität, das sich bewährt, wenn das, was dem Zufall überlassen bleibt, tatsächlich ad hoc behandelt werden kann." (S. 250/51)

"Jedes System hat in seiner Umwelt mit anderen Systemen zu rechnen. Je nachdem, wie tiefenscharf die Umwelt aufgenommen werden kann, erscheinen in ihr mehr und verschiedenartigere Systeme. Verfügt das System, von dem wir ausgehen, über die Fähigkeit zu verstehen, kann es die Systeme in seiner Umwelt aus deren Umwelt begreifen. [...] Dann erscheint dem System seine Umwelt als differenziert in verschiedene System/Umwelt-Perspektiven, die sich wechselseitig überschneiden und insofern insgesamt die Einheit der Umwelt repräsentieren" (256 f.).

"Auf der Basis räumlicher Organisation gibt es hierfür gut funktionierende Beispiele: Membranen, Häute, und auf dieser Grundlage Sondereinrichtungen wie bewegliche Glieder oder Augen und Ohren. Entscheidend ist schon auf dieser Realitätsebene, daß diese Einrichtungen Umweltbezüge haben, an denen nicht mehr jedes Element des Systems teilnimmt, und zugleich Einflußmöglichkeiten in das System haben, die der Umwelt als solcher nicht zur Verfügung stehen. [...] Das Problem der Spezifikation von Umweltkontakten – als Einschränkung und Ausweitung der allgemeinen Situierung des Systems in der Umwelt – muß als ein zentrales Problem aller komplexen Systeme angesehen werden, als eine Art Schwelle in der Evolution höherer Komplexität" (270).

Es ist daran zu erinnern, daß jedes Entweder/Oder künstlich eingeführt werden muß über einem Untergrund, auf den es nicht zutrifft. Jede Differenz ist eine sich-oktroyierende Differenz. Sie gewinnt ihre Operationsfähigkeit, ihre Fähigkeit, Informationsgewinn zu stimulieren, durch Ausschluß dritter Möglichkeiten. Die klassische Logik folgt diesem Prinzip. Die Weltlogik kann dagegen nur eine Logik des eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten sein. Wie Logiken aussehen könnten, die dies berücksichtigen, ist ein seit Hegel vieldiskutiertes Problem."(285)

"Im Bereich der Intersystembeziehungen soll der Begriff Interpenetration einen engeren Sachverhalt bezeichnen, der vor allem von Input/Output-Beziehungen (Leistungen) unterschieden werden muß. Von Penetration wollen wir sprechen, wenn ein System die eigene Komplexität (und damit: Unbestimmtheit, Kontingenz und Selektionszwang) zum Aufbau eines anderen Systems zur Verfügung stellt. In genau diesem Sinn setzen soziale Systeme 'Leben' voraus. Interpenetration liegt entsprechend dann vor, wenn dieser Sachverhalt wechselseitig gegeben ist, wenn also beide Systeme sich wechselseitig dadurch ermöglichen, daß sie in das jeweils andere ihre vorkonstituierte Eigenkomplexität einbringen." (290)

"Im Falle von Penetration kann man beobachten, daß das Verhalten des penetrierenden Systems durch das aufnehmende System mitbestimmt wird (und eventuell außerhalb dieses Systems orientierungslos und erratisch abläuft wie das einer Ameise ohne Kontakt zum Ameisenhaufen). Im Falle von Interpenetration wirkt das aufnehmende System auch auf die Strukturbildung der penetrierenden Systeme zurück; es greift also doppelt, von außen und von innen, auf dieses ein. Dann sind trotz (nein: wegen!) dieser Verstärkung der Abhängigkeit größere Freiheitsgrade möglich. Das heißt auch: daß Interpenetration im Laufe von Evolution das Verhalten stärker individualisiert als Penetration." (290)

„So wie die Selbstreproduktion sozialer Systeme dadurch, daß Kommunikation Kommunikation auslöst, gleichsam von selber läuft, wenn sie nicht schlicht aufhört, gibt es auch am Menschen geschlossen-selbstreferentielle Reproduktionen, die sich bei einer sehr groben, hier aber ausreichenden Betrachtung als organische und als psychische Reproduktion unterscheiden lassen. [...]Im einen Falle ist das Medium und die Erscheinungsform das Leben, im anderen Falle das Bewußtsein.“ (S.296f. „Ich nenne ‚Erscheinungsform' zusätzlich, um auf die aus der Autopoiesis sich ergebende Möglichkeit der Beobachtung hinzuweisen.“ S.296, Anm.12)

"Eine Erwartung sondiert ungewisses Terrain mit einer an ihr selbst erfahrbaren Differenz: Sie kann erfüllt oder enttäuscht werden, und dies hängt nicht allein von ihr selber ab" (363).

“Strukturalismus und Strukturfunktionalismus lassen sich demnach beide als epistemologische Ontologie bzw. als analytischer Realismus charakterisieren. Der wissenschaftlichen Analyse von Systemen, Texten, Sprachspielen usw. wird Realitätsbezug zugeschrieben, und dieser Realitätsbezug wird durch den Strukturbegriff garantiert. Dadurch, dass die Analyse auf Strukturen stösst, dadurch, dass bestimmte prägnante (zum Beispiel binäre) Konfigurationen erkennbar werden, entsteht Nichtzufälligkeitsbewusstsein, ds sich selbet Realitätsbezug bescheinigt. Wenn die Analyse überhaupt Ordnung und nicht Chaos, wenn sie trotz Abstraktion nicht ins Beliebige abrutscht, sondern auf gut strukturierte Sachverhalte stößt, ist das für sie ein Symptom dafür, dass sie es mit Realität zu tun hat. Das Prägnanzerlebnis behebt gewissermaßen die alten erkenntnistheoretischen Zweifel, denen weder die transzendentale Synthese noch die Dialektik hatten beikommen können. Es ist alles viel einfacher. Als Kant und Hegel dachten: Wenn die Analyse überhaupt auf Strukturen stösst, kann dies nicht allein ihr selbst zuzuschreiben sein.” (S. 379)

"Struktur besteht, was immer sie sonst sein mag, in der Einschränkung der im System zugelassenen Relationen. [...] dass nur durch einschränkende Strukturierung ein System so viel “innere Führung”gewinnt, dass es Selbstreproduktion ermöglichen kann. Von jedem Element aus müssen dann nämlich bestimmte andere (und nicht: beliebige andere) Elemente zugänglich sein[...]" (S. 384)

"Funktionsorientierung ist zugleich /Form der Erzeugung von Redundanz/, also von Sicherheit. Sie läßt verschiedene Weisen der Funktionserfüllung als funktional äquivalent erscheinen. Sie können füreinander einspringen und bieten daher eine gewisse Sicherheit für Leistungsausfälle." (406)

"Ego must be able to anticipate what alter anticipates of him to make his own anticipations and behavior agree with alter's anticipation" (303) is in the original German: "Ego muß erwarten koennen, was alter von ihm erwartet, um sein eigenes Erwarten und Verhalten mit den Erwartungen des anderen abstimmen zu koennen" (412)

"The anticipation of expectation induces all participans to take up orientations that reciprocally overlap in time and are, in this sense structural. (...) The reflexivity of anticipation makes corrections (and even a struggle for corrections) possible on the level of expectation itself." (305) is original: "Erwartungserwartungen veranlassen Teilnehmer, sich wechselseitig zeituebergreifende und in diesem Sinne strukturelle Orientierungen zu unterstellen. (...) Die Reflexivität des Erwartens ermoeglicht dagegen ein Korrigieren (und auch ein Kaempfen um Korrekturen) auf der Ebene des Erwartens selbst." (414)

"Jede Gegenwart ist als Gegenwart ihrer Aktualität sicher. Erst in dem Maße, als die Gegenwart temporalisiert, nämlich als Differenz von Zukunft und Vergangenheit begriffen wird, entsteht ein Problem der Sicherheit des Erwartens. Die Welt verliert dadurch Züge vertrauenswürdiger Anwesenheit und gewinnt Züge der Änderbarkeit, Aspekte des 'noch nicht' und des 'vielleicht nicht mehr'." (S. 421.)

"Als PERSONEN sind hier nicht psychische Systeme gemeint, geschweige denn ganze Menschen. Eine Person wird vielmehr konstituiert, um Verhaltenserwartungen ordnen zu können, die durch sie und nur durch sie eingelöst werden können. (...) Je mehr und je verschiedenartigere Erwartungen auf diese Weise individualisiert werden, um so komplexer ist die Person." (S. 429)

"Der Funktionsorientierung fehlt nicht nur die dafür erforderliche Prägnanz, ihr fehlt auch die entsprechende Spezifikation der Risiken und Umkehrmöglichkeiten. Sie ist selbst schon formulierte Kontingenz, nämlich formulierte Äquivalenz von Problemlösungen, Austauschmöglichkeiten, Ersatzmöglichkeiten. Wenn etwas nicht mehr geht, geht etwas anderes." (463)

“Unter Logik ließe sich, wenn man dieser Perspektive folgt, ein System von Regeln verstehen, das die Konstitution von Widersprüchen konditioniert.” (495)

"Auch die Semantik der 'Diskriminierung' hat genau diese Konfliktaufwertungsfunktion übernommen: Ein Homosexueller wird entlassen, eine Frau flüchtet aus der ehelichen Wohnung, ein Neger findet keine Unterkunft - und schon stehen Organisationen und Terminologien bereit, um dem Konflikt eine allgemeine Bedeutung zu geben. [...] Solche Fälle zeigen im übrigen, daß das Recht für die Sensibilisierung gegen Fehlverhalten nicht mehr ausreicht und den, der sich im Recht befindet, sogar Gegenpressionen preisgibt." (S. 536)

"Ein kommunikatives System dieser Art macht sich keineswegs die Illusion der Selbstgenügsamkeit des Kommunizierens. Schon durch die dreistellige Struktur der Kommunikation wird dies verhindert: Man kommuniziert über etwas, und man kommuniziert nur ausnahmsweise über Kommunikation" (557).

"Die Geschlossenheit der rekursiven kommunikativen Verhältnisse hat demnach nicht die Funktion, von Umwelt zu befreien. Sie ist und bleibt auf Sensoren angewiesen, die ihr die Umwelt vermitteln. Diese Sensoren sind die Menschen im Vollsinne ihrer Interpenetration: als psychische und körperliche Systeme" (558).

"Sie ermöglicht ihre Emergenz dadurch, daß sie den autopoietischen Systemen Umweltkontakte auf anderen Ebenen der Realität erschließt. Durch Interpenetration ist es möglich, Funktionsebenen des operativen Prozessierens von Informationen getrennt zu halten und trotzdem zu verbinden, also Systeme zu realisieren, die in Bezug auf ihre Umwelt zugleich geschlossen und offen sind" (558)

Selbst die Kommunikation, nicht kommunizieren zu wollen, ist dann noch Kommunikation; und es bedarf im allgemeinen einer institutionellen Erlaubnis, wenn man sich in Anwesenheit anderer angelegentlich mit seinen Fingernägeln beschäftigt, aus dem Fenster hinausschaut, sich hinter eine Zeitung zurückzieht. Praktisch gilt: daß man in Interaktionssystemen nicht nicht kommunizieren kann1*; man muß Abwesenheit wählen, wenn man Kommunikation vermeiden wil (Fs.562)

“Man legt sich auf Standpunkte und Meinungen, die man in der Interaktion möglicherweise nicht initiieren oder nicht durchhalten könnte, vorher schriftlich fest. Ohne Thesenanschlag keine Reformation, ohne Preisschildchen kein reibungsloser Verkauf. [Fn 50: Bei einem Versuch, mit einer Ladeninhaberin längere Verhandlungen über den Preis einer Tafel Schokolade zu führen, habe ich die Erfahrung gemacht, daß sie anstelle von Argumenten immer wieder auf das Preisschildchen verwies, auf dem der Preis deutlich sichtbar aufgeschrieben war.]” (S. 583)

Marx rekonstruiert die Gesellschaft, jedenfalls in den frühen Schriften, als Einheit von wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen. Er kann sich dabei auf einen neuen Sinn von »Dialektik« stützen, nachdem Kant diesen Begriff aus seinem klassischen, interaktionsnahen Kontext herausgelöst hatte5*. Dialektik ist jetzt, von Interaktion und Erfahrung her gesehen, nicht mehr die Kunstlehre der Diskussion bei konträren Meinungen, sondern sie behandelt auf den ersten Blick unbegreifliche Widersprüche, Sackgassen des direkten, alltäglichen Denklebens, die sich dann aber doch theoretisch nachkonstruieren lassen, wenn man darauf achtet, daß und wie Widersprüche sich operativ verselbständigen. Eine in diesem Sinne »dialektische« Gesellschaftstheorie wird zu einer Zumutung, die der politischen Unterstützung bedarf, um sich halten zu können. sossys 586

"Will man die Einheit einer Differenz thematisieren, ist es notwendig, beide Seiten der Unterscheidung zu bestimmen ... Die Einführung der Einheit einer Differenz in den Informationsgewinnungs- und Verarbeitungsprozeß erfordert also Einführung von Limitationalität als Bedingung der Ergiebigkeit von Operationen. Das vielleicht einfachste Verfahren läuft über Klassifikationen: Man unterscheidet eine Krankheit von anderen Krankheiten und kann nur deshalb, weil dies möglich ist, einen unbestimmbaren Gegenbegriff der Gesundheit akzeptieren, der seinerseits nicht in verschiedene Arten von Gesundheit aufgelöst werden kann. Mit Hilfe dieser Technik kann man über Differenzen als Einheiten disponieren, man kann also entscheiden, ob man sich mit Gesundheit/Krankheit oder mit etwas anderem befaßt ..." (597/598)

"Systeme, die über basale Selbstreferenz gebildet sind und darin ihre Systemeinheit haben (= autopoietische Systeme), sind immer geschlossene Systeme. Dieser Begriff gewinnt hier aber, im Vergleich zur älteren Systemtheorie, einen neuen Sinn. Er bezeichnet nicht mehr Systeme, die (quasi) umweltlos existieren, also sich selbst (nahezu) vollständig determinieren können. Vielmehr ist nur gemeint, daß solche Systeme alles, was sie als Einheit verwenden (auf welcher Komplexitätsgrundlage immer), selbst als Einheit herstellen und dabei rekursiv die Einheiten benutzen, die im System schon konstituiert sind" (602).

"Es kommt so niemals zu einer Wiederholung, zu einer Wiederspiegelung der Weltkomplexität in Systemen. Es gibt auch keine Abbildung der ›Umwelt‹ in Systemen. [...] Möglich ist nur die Einrichtung von Differenzen im System (etwa: eingeschaltet/ausgeschaltet bei Thermostaten, wahr/falsch in der Logik), die auf Differenzen in der Umwelt reagieren und dadurch für das System Information erzeugen" (602).

"Eine wichtige Konsequenz dieser Überlegungen ist, dass die bei aller Autopoiesis benötigte Selbstreferenz immer nur mitlaufende Selbstreferenz ist. Reine Selbstreferenz im Sinne eines ”sich nur und ausschließlich auf sich selbst Beziehens” ist unmöglich. [...] Faktisch kommt daher Selbstreferenz nur als ein Verweisungsmoment unter anderen vor. Das Selbstreferieren ist ein Moment am operativen Verhalten der Elemente, Prozesse oder Systeme; es macht nie ihre Totalität aus. [...] Es ist wichtig, diese etwas pedantische Analyse genau mitzuvollziehen; denn aus ihr ergibt sich, dass und wie die Theorie selbstreferentieller Systeme die Differenz von geschlossenen und offenen Systemen aufhebt." (S. 604-606)

Dort schreibt er in Bezug auf das Wissenschaftssystem: "[...] schon die Tatsache, daß es sich als selbstreferentielles System mit selbstreferentiellen Objekten befaßt, hat weitreichende Konsequenzen. Das Objektverhältnis der Wissenschaft ist dann seinerseits ein Verhältnis doppelter Kontingenz. Das Objekt kann nur dadurch erforscht werden, daß man seine Selbstreferenz in Bewegung setzt bzw. deren Eigenbewegung mitbenutzt. [...] Doppelte Kontingenz (selbstreferentieller Systeme) erzwingt, das haben wir für zwischenmenschliche Beziehungen ausgiebig behandelt, die Emergenz einer neuen Realitätsebene. Erkenntnis selbstreferentieller Systeme ist also eine emergente Realität, die sich nicht auf Merkmale zurückführen läßt, die im Objekt oder im Subjekt schon vorliegen [...]. Diese Einsicht sprengt, ohne daß die Möglichkeit von vorgegebenen Merkmalen und von systemrelativen Umweltprojektionen bestritten würde (sie bleibt vielmehr vorausgesetzt), die Subjekt/Objekt-Schematik der Erkenntnistheorie" (657f.).

"um selbstreferentiell operierende Systeme handeln, also um Systeme, die bei der Änderung ihrer eigenen Zustände immer selbst mitwirken müssen. [...] Nur selbstreferentiellen Systemen erscheint eine Außeneinwirkung als Bestimmung zur Selbstbestimmung und damit als Information, die den inneren Kontext der Selbstbestimmung verändert, ohne die Strukturgesetzlichkeit zu beseitigen, daß das System alles, was daraus folgt, mit sich selbst aushandeln muß" (103, Hervorhebung weggelassen) Die Eigengesetzlichkeit eines selbstreferentiell geschlossenen Systems liegt demgemäß nicht in der Vermeidung von Umweltkontakt, sondern vielmehr in dessen Spezifikation durch das System selbst. Diese Leistung wird bei komplexen Systemen zur Aufgabe speziell dazu ausdifferenzierter

"besonderer Einrichtungen«, die zwischen System und Umwelt vermitteln. (??)

Materialien

auf den Seiten 15 bis 17 bei Luhmann (1984) [um mich nachlesend nur an den Anfang des Einführungskapitels "Paradigmenwechsel in der Systemtheorie" zu beschränken], und vor allem in der Drei-Ebenen-Graphik auf Seite 16 ist von Kybernetik überhaupt nicht die Rede. Es geht hier Luhmann nur darum, den mehrere hundert Jahre gebräuchlichen "Allerweltsbegriff" SYSTEM und die daraus abgeleitete "Theorie eines allgemeinen Systems" scharf abzusetzen von seiner "Allgemeinen Systemtheorie". Deshalb sagt er, man müsse immer deutlich beachten, auf welcher Ebene man sich befindet, und welche Vergleichsgesichtspunkte man heranziehen möchte.

Sein erster "Schnitt" erfolgt auf der mittleren, der zweiten Ebene. HIER unterscheidet er die "sozialen Systeme" von den Maschinen, den Organismen und den psychischen Systemen. Diesen Schnitt habe ich in meiner ersten Antwort angepeilt, weil es im Kontext darum ging, die Sozialsysteme von den lebenden Systemen abzugrenzen.

Luhmann macht aber auf der mittleren Ebene noch einen ganz anderen Schnitt: Er nennt jetzt SINNSYSTEME und versteht hierunter sowohl die sozialen Systeme als auch die psychischen Systeme: Ganz als Gegensatz zu den Maschinen und Organismen.

Luhmann hat zwar Denkfiguren der Kybernetiker übernommen (meist nur ziemlich "analog") und sie auf seine Weise für seine allgemeine Theorie passend gemacht, aber Kybernetiker wollte er wohl nicht sein. Er sagt "es gibt Systeme", nennt ihre wesentlichen Erscheinungsformen [die bei Heider abgeschaute Figur der Unterscheidung "Medium/Form" gab es bei ihm zu dieser Zeit noch gar nicht; es hatte ja gerade erst die sogenannte "autopoietische Wende" stattgefunden bei ihm], und wenn es Systeme gebe, sagt er, dann müsse man bei jedem Vergleichsschritt genau angeben, was verschiedene Systemtypen gemeinsam haben mögen: Soziale Systeme und psychische Systeme haben eben vor allem den Sinnbezug gemeinsam.

Zur untersten, der dritten Ebene der Luhmann-Graphik muss man noch verdeutlichen: Er hat überhaupt noch keine ausgearbeitete Gesellschaftstheorie (die hat er ja erst - auch noch "im Fluss - 1997), aber er unterscheidet hier Interaktionen, Organisationen und "Gesellschaft"; an die Stelle der Gesellschaft stünde hier genau seinem Buch entsprechend besser "die großen Funktionssysteme", die zusammen erst die Gesellschaft sein sollen.

Wer in der Allgemeinen Systemtheorie (der Theorie funktionaler gesellschaftlicher Differenzierung) kybernetische Elemente herausstellen möchte, oder wer umgekehrt in der Kybernetik systemtheoretische Gesichtspunkte bearbeiten möchte, wird sich nur beschränkt auf Luhmann beziehen können, weil der offensichtlich so nicht unterschieden hat.

(Mir ist ganz schwindlig, mit einer solchen Antwortlänge habe ich beim Beginn der Antwort naiverweise nicht gerechnet; hoffentlich sehen dies auch andere als wasserdicht an).


[ Beobachtung ]