Rolf Todesco

Und falls ich mich vorstellen sollte: Ich hätte am liebsten, wenn Sie von mir wüssten, dass ich der bin, der die Sachen gesagt hat, die ich sagen werde.

Radikaler Konstruktivismus – Eine Einführung

Fortbildung Kantonsspital Basel, Departement Anästhesie
Montag, 16. September 2002, 17.30 – 18.30 Uhr, Kantonsspital Basel, Klinikum 1, Spitalstrasse 21, 4031 Basel

Folien


 

Ich danke Ihnen herzlich für die Einladung mit Ihnen über den Radikalen Konstruktivismus zu sprechen. Ich schlage Ihnen eine Art diagnostisches Gespräch vor. Ich habe ich kürzlich einen Spitaldirektor sagen hören, dass die grösste medizinische Kunst die Diagnose sei, dass die Diagnose in der Ausbildung aber sehr vernachlässigt werde. Ich glaube, das stimmt nicht nur in der Medizin - falls es dort auch stimmt -, das stimmt auch in der (Weiter-)Bildung.

Ich habe also zunächst keine Ahnung, wo Sie stehen. Vielleicht sind Sie radikalere Konstruktivisten als ich, haben sich aber dazu bisher keine expliziten Gedanken gemacht oder andere Wörter dafür verwendet als ich. Im besten Falle wird Ihnen in unserem Gespräch bewusst, wie Sie sich die Welt vorstellen. Verändern möchte ich Ihre Vorstellungen nicht einmal, wenn ich das könnte. Der Radikale Konstruktivismus ist eine Art Explikation, wie man die Welt sehen könnte. Ob ich die Welt so sehen will, messen ich am Nutzen, den mir diese Sicht in meiner Praxis bringt. Was ich Ihnen vorschlage, ist also, dass wir gemeinsam herausfinden, wie unser Wissen zum Radikalen Konstruktivismus passt, respektive inwiefern diese Theorie unsere Selbstverständnisse fördert und unser Handeln erklären kann.

Ich habe mit Herrn Harms vereinbart, heute eine allgemeine Einführung zu machen und morgen exemplarisch zu zeigen, wie wir unsere Kommunikation konstruktivistisch verstehen können. Ich schlage also vor, dass wir heute einige der grundsätzlichen Postulate der Systemtheorie 2. Ordnung anschauen und morgen anhand der Konzepte Dialog und Hyperkommunikation den Radikalen Konstruktivismus unter Gesichtspunkten der Kommunikationstheorie betrachten.

Ich beginne mit ein paar historischen Anmerkungen. Konstruktivismus ist ein Ausdruck aus der Kunstwissenschaft, wo er sagen wollte, dass Kunstwerke keine Abbilder, sondern Konstruktionen, also kreative Schöpfungen sind. Jean Piaget hat den Ausdruck in seiner epistemologischen Kinderpsychologie verallgemeinert und postuliert, dass das Denken generell keine Abbildungen von der Realität macht, sondern schöpferisch konstruktiv die Realität überhaupt produziert. Ernst von Glasersfeld hat die Konzeption von Piaget ernster genommen als Piaget es selbst tat und so ist der Radikale Konstruktivismus zu seinem Namen gekommen.

Ganz vordergründig geht es darum, ob wir die Welt entdecken oder erfinden. Was meinen Sie?


Ein kleines Experiment

Ich möchte Sie zum Anfang des Wissens einladen. Bitte schliessen Sie die Augen. Bitte erinnern Sie sich an den Anfang - an Ihren eigenen Anfang. Bitte versuchen Sie jetzt einen Moment Ihres Anfangs ganz bildlich vorzustellen: Stellen Sie sich vor, sie würden im nächsten Augenblick den Leib Ihrer Mutter verlassen. Noch ist es dunkel, noch sind Sie nicht auf der Welt. Jetzt geht die Reise los. Sie sehen raus, sie sehen das Licht. Und jetzt gehen Sie raus ! Und jetzt sind Sie da. Bitte öffnen Sie die Augen.

Was machen Sie als erstes, nachdem Sie nun auf der Welt sind? Sie müssen atmen! Aber woher wissen Sie das? Gut, die Hebamme hält Sie an den Füssen hoch und schlägt sie auf den Hintern bis Sie schreien und deshalb zwangsläufig atmen. Aber woher wissen Sie, dass Sie schreien müssen, wenn Sie von der Hebamme geschlagen werden?

Wie wissen wir was, wenn wir noch gar nichts wissen?


noch ein Experiment

(Ich zeige einen Kugelschreiber) Sie sehen diesen Kugelschreiber. (Ich verdecke den Kugelschreiber mit einem Blatt Papier) Jetzt sehen Sie ihn nicht mehr. Wo ist er? (Jetzt nehme ich das Papier wieder weg) Jetzt sehen Sie wieder einen Kugelschreiber. Glauben Sie, dass das derselbe Kugelschreiber ist, den Sie vorher gesehen haben?

Da Sie eben auf die Welt gekommen sind, haben Sie noch keine gute Gründe, diese Fragen zu beantworten. Die Frage ist, woher Sie später gute Gründe haben. Piaget nannte das Erfinden dieser Gründe "La construction du réel" Die spezifische Leistung bei dieser Konstruktion besteht in der Verifizierung der Hypothese, dass es konstant existierende Objekte gibt (1).

Haben Sie einmal gesehen, wie David Cooperfield Elefanten und Eisenbahnzüge verschwinden lässt? Zauberer, die Objekte verschwinden lassen oder aus dem Hut hervorzaubern, spielen mit der Ambivalenz der Vorstellung der Objektonstanz. Es ist ja klar, dass ich den Kugelschreiber nicht wegzaubern könnte, wenn Sie nicht glauben würden, dass er ein konstant existierendes Objekt ist.


und noch ein Experiment

Seit die alten Griechen den - in der Philosophiegeschichte immer wieder auftauchenden - Skeptizismus erfunden haben, kann man sich sogar fragen, ob der Kugelschreiber und alle andern Objekte überhaupt existieren, oder ob überhaupt alles nur Illusionen sind, wie es in den Fahrzeugen des Buddhismus vertreten wird. Ich will später noch etwas zum Unterschied zwischen Konstruktivismus und Skeptizismus sagen.

Jetzt stellen Sie sich bitte vor, wir seien im alten Griechenland, wo die griechische Bauwut alle Bäume durch strenge Steinsäulen ersetzte. Wir stehen vor einem Tempel, der Priester tritt hervor und zündet das Tempelfeuer an. Die Tempeltüre öffnet sich. Etwas später löscht der Priester das Feuer und die Tempeltüren schliessen sich.

Ich bezeichne die sich automatisch öffnenden Tempeltüren als Phänomen, wenn ich nach einer Erklärung dafür suche. Suchen Sie auch eine Erklärung, oder sind Sie im Geiste schon klar?

Ich habe einige Erklärungen: Die Götter finden im Priester wohlgefallen und helfen ihm. Oder der Priester ist ein Scharlatan, der uns hypnotisiert oder verzaubert. Oder unter dem Tempel gibt es eine Maschine, die mit dem Feuer angetrieben wird.

Diese Erklärungen sind ziemlich verschieden konstruiert. Haben Sie noch andere Erklärungen? Welche gefällt Ihnen am besten?

Erklärung

Alle Erklärungen beschreiben Operationen. Eine der Erklärungen beschreibt einen Mechanismus, der die Operation verkörpert. Mir gefallen solche Erklärungen am besten. Ich halte ein Phänomen für erklärt, wenn ich einen Mechanismus bauen kann, mit welchem ich das Phänomen erzeugen kann. Die Funktionsweise eines Mechanismus ist durch den Mechanismus gegeben. Sie ist Gegenstand der Konstruktion. Erklärungen werden - in genau diesem Sinne - konstruiert. Auch dazu ein Beispiel: Heron erklärt das Phämomen, dass sich die Tempeltüre öffnet, wenn davor ein Feuer entfacht wird, mit einer unterirdischen Konstruktion mit Seilen und Winden, die durch eine durch das Feuer geheizten Maschine angetrieben werden.


 


Systemteorie

Den Ausdruck "System" verwende ich für Mechanismen, die ich als Erklärungen verwende. Als System bezeichne ich eine Konstruktion, die ich mit einem Regelkreis-Schema (Feedback) sinnvoll beschreiben kann. Ein System hat also sekundäre Energiekreise, die Schalter in relativ primären Energiekreisen steuern, das heisst es verwirklicht das Verstärker-Prinzp (Relais, Transistor usw). Die Stellungen der Schalter (Variablen) bezeichne ich als Systemzustand. In diesem Sinne von einem System zu sprechen, macht nur Sinn, wenn beide Energiekreise, der steuernde und der gesteuerte, bezeichnet werden (können). Typische Beispiele für Systeme sind etwa die thermostatengeregelte Heizung oder ein muskulärer Organisms mit Nerven. Im Thermostat fliesst Strom, um Schalter im Kreis der primären Energie Heizoel zu steuern. In den Nerven fliesst Strom, um die zuckerverbrennende Muskulatur zu steuern. Kompliziertere Systeme haben Verschachtelungen von sekundären Energiekreisen, die gemeinhin mit Schaltalgebra dargestellt wird, Beispiele sind Computer, Hirn usw.
 


Die Blackbox in der Systemtheorie

Wenn ich als Systemtheoretiker von einem Mechanismus (noch) nicht weiss, wie er konstruiert ist, respektive dessen Funktionsweise (noch) nicht erkannt habe, nenne ich ihn Blackbox. So kann man sich als typisch wissenschaftliche Aufgabe beispielsweise überlegen, was in einer bestimmten Blackbox sein könnte, zu der man die Funktion zwischen Tastatur und Bildschirm beobachtet. Analoge Fragen sind etwa: Wie ist eine Ratte "konstruiert", die den Weg durch ein Labyrinth findet; wie ist der Sternenhimmel "konstruiert", der die uns bekannten Phänomene wie Sonnenaufgang und Abendstern zeigt; wie ist der Körper von Säugetieren "konstruiert", der bei verschiedenen Aussentemperaturen immer ungefähr dieselbe Temperatur beibehält; usw. Viele dieser Fragen lassen sich mit wirklichen "Konstruktionen", etwa mittels Robotern erklären, die die verlangten Aufgaben erfüllen.


Beobachter

Alle Aussagen und Theorien über Systeme stammen von einem Beobachter. Der systemtheoretische Beobachter sucht nach einer Erklärung für das Verhalten einer Blackbox - der genauer gespochen, für das Verhalten, dass er wahrnimmt.

Viele Blackboxes kann man manipulieren. Stellen Sie sich Ihren PC vor. Sie drücken bestimmte Tasten und am Bildschirm zeigen sich bestimmte Bilder. Der Mechanismus im PC ist die Erklärung dafür, wie die Tasten und die Bilder zusammenhängen.

Viele "systemtheoretisch" genannte Erklärungen sind in ihrem Anspruch viel weicher. Sie beruhen auf Pseudo-Mechanismen, die kein Wissenschafter wirklich bauen könnte. Eigentliche Systemtheorie ist Engineering, also Konstruktion, nicht Jules Verne.


 

Konstruktivismus als Systemtheorie 2. Ordnung

Natürlich spielt keine Rolle, ob der Beobachter relativ zur Blackboxwand innen oder aussen ist. Die Blackbox ist immer das, was er aufgrund von Beobachtungen an deren Oberfläche rekonstruieren muss. Das Szenario, in welchem Beobachter leben, die innerhalb der Blackbox sind, kann man sich anschaulich vergegenwärtigen, wenn man sich einen U-Boot-Kapitän oder einen Piloten im Blindflug vorstellt. Der Pilot kann im Blindflug nicht sehen, was ausserhalb des Flugzeuges ist, er sieht und reagiert nur auf die Anzeigen auf seinen Instrumenten. Und die Auswirkungen seiner Handlungen sieht der Pilot wiederum nur auf seinen Instrumenten, er steuert also eigentlich die Anzeige seiner Instrumente. Das ist besonders deutlich der Fall, wenn der Pilot statt in einem Flugzeug in einem Flugsimulator sitzt, aber genau dieselbe Aufgabe erfüllt, die er auch im Flugzeug zu erfüllen hat. Ob der Pilot im Simulator sitzt oder nicht, ist - bei einem hinreichend guten Simulator - nur für den aussenstehenden Beobachtenden entscheidbar, der Pilot kann keine Unterschiede festellen.

Die Blackbox des konstruktivistischen Beobachters ist seine "Haut", respektive seine Sensoren. Alle Phänomene die ich wahrnehme, nehme ich für wahr. Die generellste Erklärung ist was Piaget in seiner Objektkonstanz impliziert. Wenn ich einen Kugelschreiber sehe, erkläre ich dieses Phänomen damit, dass der Kugelschreiber existiert und ich mit meinen Augen sehen kann, was es gibt.

Die Objekte und mithin die Welt sind meine Erklärungen für die Phänomene, die ich wahrnehme. Es geht hier also nicht - wie im früher erwähnten Skeptizismus - darum, ob die Welt existiert. Es geht darum, dass ich für meine Erfahrungen Erklärungen konstruiere.

Oft höre ich die unsinnige Verkürzung, dass Konstruktivisten meinen alles sei konstruiert. Radikale Konstruktivisten wissen, dass Erklärungen Konstruktionen sind. Mehr nicht.


Um-Welt

Um-Welt bedeutet Welt-um-etwas-herum. Die Um-Welt, die der Pilot mittels seiner Instrumente für-wahr-nimmt, ist die Welt ausserhalb seines Flugzeuges. Was der Pilot wirklich - im Sinne von "was wirkt" - wahrnimmt, ist das Flugzeug, resp. die Instrumente, die zum Flugzeug, nicht zur Um-Welt des Flugzeuges gehören.

Wenn man - wie es tendenziell in Virtual-Reality-Spielen mit Cyber-Helmen und Cyber-Handschuhen gemacht wird - das Cockpit des Piloten so schrumpft, dass die Anzeigen und Bedingungselemente mit der sensorischen-effektorischen Oberfläche des Piloten zusammenfallen, ist alles, was ausserhalb des "Netzhaut-Bildschirmes" ist, (die) Um-Welt des Piloten. In genau diesem Fall ist der Pilot ein (wissenschaftlicher) Beobachter. Der Beobachter ist also ein Pilot, dessen Flugzeug aus ihm selbst besteht. Er nimmt seine Um-Welt mittels seiner Sinne wahr. Goethe sagte in seiner naturwissenschaftlichen Arbeit, dass uns kein wissenschaftliches Instrument mehr zeigen könne, als wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können. Das ist nicht technikskeptisch oder -feindlich zu verstehen, sondern heisst, dass wir Insturmente wie Fernrohr oder Mikroskop und natürlich Anzeigen im Cockpit letzlich wieder vor unsere Sinne halten.


Operationelle Geschlossenheit

Da die Instrumente zum Flugzeug gehören, kann man sagen, dass der Pilot nur auf Zustände des Flugzeuges reagiert, und nicht auf irgendetwas, was ausserhalb des Flugzeuges ist. So wie der Pilot die Anzeigen seiner Instrument steuert, so steuert der Beobachter seine "Anzeigen". Wenn ich etwa den Kopf in einer bestimmten Situation drehe, sehe ich bestimmte Gegenstände, beispielsweise mein Büchergestell oder den Eifelturm, je nachdem, wo (in welchem Zustand) ich mich gerade befinde. Wenn ich den Kopf zurückdrehe, sehe ich, was ich zuvor gesehen habe. Mit den Bewegungen des Kopfes beeinflusse ich also, was ich sehe, so wie der Pilot mit seinen Bewegungen die Anzeigen seiner Instrumente bestimmt. In diesem Sinne kann man sagen, dass wir auf unsere eigenen Sinneszustände reagieren und dass unser Verhalten der Steuerung unserer Wahrnehmung dient. (Powers 1973).

Natürlich kann ich nicht nur meinen Kopf bewegen. Ich kann Maschinen konstruieren und so beliebige Erklärungen für beliebige Phänomen produzieren.

Strukturelle Koppelung

Ein System, das nur auf seine eigenen Zustände reagiert, nennt man "operationell geschlossen". Operationell geschlossene Systeme haben weder Output und noch Input im Sinne der Informationstheorie, sie sind nur energetisch offen, das heisst sie verbrauchen Energie. Damit sie Energie aufnehmen können, müssen sie in einem Umfeld sein, in welchem die Energie in einer für sie aufnehmbaren Form vorhanden ist. Mit diesem Umfeld sind diese Systeme "strukturell gekoppelt". Menschen beispielsweise verbrennen Sauerstoff. Auf der Erde wird Sauerstoff von Pflanzen ausgeschieden (Photosynthese). Solange Sauerstoff nicht anders produziert werden kann, sind die Menschen deshalb mit den Pflanzen strukturell gekoppelt. Umgekehrt brauchen die Pflanzen jemanden, der Sauerstoff vernichtet, resp. CO2 produziert. Normalerweise atmen aber Menschen nicht dazu, dass die Planzen Stickstoff haben, und die Pflanzen haben schon Sauerstoff produziert, lange bevor es Menschen gab. Beide Systeme kümmern sich um ihre Bedürfnisse und nehmen die strukturelle Koppelung lediglich in Kauf. Darauf werde ich morgen, wenn ich über Kommunikation spreche, zurückkommen


 

Wozu Systemtheorie 2. Ordnung

Kopernikus zog die Erde, auf der er lebte, aus dem Zentrum der Welt. Darwin zog die Gestalt, in der er lebte, aus dem Zentrum der Schöpfung. Freud zog das Bewusstsein, in dem er lebte, aus dem Zentrum seines Handelns. Der Mensch dieser Wissenschaften ist ein zufälliges Wesen (der Evolution) an einem zufälligen Ort (auf einem Planet der Sonne der Milchstrasse der ...), das sich zufällig (un- und unterbewusst) verhält.

Universum, Evolution und Unbewusstes sind Elemente der herrschenden Ordnung, also Elemente der Ordnung der Herrschenden. Universum, Evolution und Unbewusstes sind (wissenschafts-)kulturell die letzten Konsequenzen daraus, dass die Herrschenden ihr Erleben und ihre Erfahrungen in Form einer objektiven Welt wahrnehmen (müssen), welcher sie - wie das Wort sagt - als verantwortungslose Sub-Jekte unterworfen sind. Die Herrschenden spielen ihre Rolle als Rolle in einer gewalt-igen Institutionalisierung, in welcher die Rolle bestimmt, was der Rolleninhaber tut. Die brutalste (nackteste) Formulierung dieser Welt ist Luhmann's soziales System, in welchem Menschen wie Zellen eines Organismus nur noch als Körper fungieren.


Subjekte der Realität

Die Ordnung, welcher wir als Subjekte unterworfen sind, ist die 1. Ordnung. Es ist die Ordnung, die ein sich selbst nicht bewusster Beobachter für-wahr-nehmen kann. Es ist die objektive Ordnung der Realien, die wissenschaftlich beschrieben werden (können). Der Wissenschaftler beschreibt die Objekte und die Verhältnisse der Objekte wie sie sind, er ist nur für die richtige, wahre Beschreibung zuständig, nicht für die Realität selbst.

Als objektiv unterworfenes Subjekt komme ich nicht - oder nur unter Freud'scher Verdrängung - umhin, auch mich selbst als Objekt (für)wahrzunehmen. Und natürlich kann ich - wenn ich will - mich fragen, was ich wahrnehmenderweise tue, wenn ich Objekte und Beobachter von Objekten fürwahrnehme, die unabhängig von mir sind, wie sie sind. Sinnigerweise werde ich dabei zu meinem eigenen Objekt und gerate unter das objektive Verfahren, durch welches ich Objekte eben wahrnehme. Ich werde dabei quasi Objekt eines Objektes oder eben zu einem Objekt 2. Ordnung, weil ich dann den Beobachtenden und den Beobachteten als identisch oder selbstbezüglich verstehe.


Fortgesetzte Reflexion

Wenn der Beobachter etwas über seine Um-Welt sagt, sagt er etwas über sich selbst. Fragten wir Kopernikus nach dem Ort der Erde, würden wir nichts über den Ort der Erde erfahren, sondern etwas darüber, wie Kopernikus die Welt erlebt und erklärt, was wir unsererseits mit seinen bescheidenen Mittel und seiner mittelalterlichen Erziehung in Verbindung bringen könnten, wenn wir wollten. Fragten wir Darwin, wie der Mensch entstanden sei, würden wir nichts darüber erfahren - wie sollte Darwin, der "seine" Abstammungslehre bei Wallace abgeschrieben hat, das auch wissen können? Wir könnten von Darwin allenfalls erfahren, wie er sich erklärt, dass er in seinen Augen den Affen gleicht. Aber natürlich ist die Situation ein bisschen komplizierter: Denn das, was wir erfahren würden, wären unsere eigenen Wahrnehmungen und mithin würden wir etwas über uns erfahren, wenn wir "von Freud erfahren", dass unser Handeln libidinöser Sublimation unterliegt. Wir würden erfahren, dass in unserer Erfahrung Freud mit einer bestimmte Aussage vorhanden ist. Beobachter beobachten ausschliesslich sich selbst.

Wenn der Beobachter etwas über die Um-Welt sagt, sagte er etwas über seine Um-Welt (die identisch ist mit seiner Erfahrung von sich selbst). Jede Um-Welt ist die Um-Welt eines Beobachters. Der Konstituent liegt innerhalb seiner Um-Welt, da sie ihn umgibt, aber er gehört nicht zu seiner Um-Welt, da sie ihn um-gibt. "Unsere" Um-Welt gibt es für einen Beobachter nicht, weil jeder Beobachter in der Um-Welt der andern vorkommt, in seiner eigenen aber nicht. Der Beobachter hat immer einen Standpunkt, den er exklusiv besetzt. Kein anderer Beobachter kann je das gleiche beobachten. Die Um-Welten sind so verschieden wie die Beobachter es sind. Einen andern Beobachter "ver-Stehen" würde bedeuten, dorthin stehen, wo der andere steht - was (nicht nur) physisch nicht möglich ist.

Wenn der Beobachter sich seiner selbst bewusst wird, tritt er in die 2. Ordnung. Es ist die Ordnung, die er - in seiner Autopoiesis/Selbst-Organisation - selbst konstruiert, die (nur) für ihn existiert und nicht mitteilbar ist. Der Beobachter 2. Ordnung bestimmt die Bedeutung seiner Wahrnehmungen. Und natürlich kann ein Beobachter, der andere Beobachter wahrnimmt, davon ausgehen, dass genau das alle andern Beobachter auch tun. Der Beobachter, der andere Beobachter wahrnimmt, ist im Zentrum seiner Um-Welt, das er aber nicht als Zentrum der Welt auffassen kann, weil jeder andere Beobachter ja auch im Zentrum seiner Um-Welt steht. Ein logisches Bild dafür ist die 2-dimensional gesehene Oberfläche einer Kugel. Jeder Punkt hat die gleiche Berechtigung in der Mitte zu sein.

In der 2. Ordnung gibt es keine Objekte und mithin auch keine Objektivität und kein unterworfenes Subjekt. In der 2. Ordnung ist die 1. Ordnung aufgehoben, Aussagen über die 1. Ordnung erscheinen in einem neuen Licht (Perspektive): Wenn ein Beobachter etwas sagt, ist das richtig, sonst würde er es ja nicht sagen. Es ist aber richtig für ihn. Jeder Leser/Hörer wird angesichts Aussagen für sich prüfen, inwiefern das Aussagen sind, die er machen würde. Dadurch erfährt der Leser/Hörer etwas über sich, nämlich zu welchen Aussagen er Sinn und Konsistenz erfährt, wobei Sinn und Konsistenz für die Erfahrung stehen, dass die kybernetischen Ziele (Soll-Eigen-Werte) erreicht werden oder erreichbar bleiben. Als Pilot erlebe ich die Anzeigen meiner Instrumente dann als sinnvoll und konsistent, wenn ich das Gefühl habe, sie seien beabsichtigte Resultate meiner Handlungen.

 

Anmerkungen

1) Karl Popper argumentiert in seinem Kritischen Rationalismus, dass sich Hypothesen nicht verifizieren lassen. Ich tue es aber ununterbrochen. ( zurück)
 


 

Literatur



 

Nacharbeit

Mir sind im Gespäch wieder einige Dinge bewusster geworden:


 

Anhang

Piloten steuern ihre Instrumente. Dass dabei das Flugzeuge in seiner Um-Welt etwas sinnvolles macht, entspringt der Koppelung der Zustände der Instrumente mit Zuständen des Flugzeuges, die im Falle von eigentlichen Flugzeugen von den Konstrukteuren natürlich sehr bewusst eingerichtet sind. Die Piloten dürfen sich aber nicht darum kümmern. Sie müssen lernen und immer wieder trainieren, nach den Instrumenten zu fliegen. Wenn sie nämlich in kritischen Situationen nicht mehr auf die Instrumente schauen, sondern wissen wollen, wie es ausserhalb ihres Flugzeuges ist, und aus dem Fenster schauen, stürzen sie in der Regel ab. Sie stürzen aber nicht ab, weil sie "hinausschauen", sondern sie schauen hinaus, weil sie abstürzen, respektive Angst haben abzustürzen. Und das ist nicht nur bei Piloten so: Wenn alles gut läuft, interessiert uns die Um-Welt nicht. Nur wenn Probleme auftreten, richtet man seine Aufmerksamkeit auf Um-Welt. Wenn wir beispielsweise auf einer Strasse gehen, schauen wir nicht auf die Strasse. Wenn wir aber plötzlich stolpern, also unsere normale Bewegung gestört ist, suchen wir sofort nach einen Grund in der Um-Welt, sei es ein Stein oder ein Loch im Belag der Strasse. Wenn wir aber auch unseren Sinn(esorgan)en nicht mehr trauen und wissen wollen, was jenseits unserer Sinne - in der sogenannten Realität - der Fall ist, laufen wir grosse Gefahr wahnsinnig zu werden oder angelogen zu werden. Im Normalfall spielt es keine Rolle, ob ich auf mich oder auf meine Um-Welt reagiere. Im Alltag machen wir diese Unterscheidung ja auch nicht: wir essen, bis wir wahrnehmen, dass wir satt sind, nicht bis wir die nötige Menge an Nährstoffen zu uns genommen haben. Wir gehen auf eine Fata Morgana zu, weil wir sie sehen, nicht weil dort etwas ist.

Für Piloten, die sich nicht in einem Simulator wähnen, ist "sinnen"-klar, dass sie mit ihren Flugzeugen durch die Um-Welt ihrer Flugzeuge und mithin durch ihre Um-Welt überhaupt fliegen, obwohl sie diese nur durch die Instrumente wahrnehmen. Selbst wenn die Piloten wissen, dass sie in einem Simulator sitzten, verbinden sie mit den Anzeigen der Instrumente ganz bestimmte Bedeutungen. Zur Zahl auf dem Höhenmesser etwa stellen sie sich vor, auf einer bestimmte Höhe zu fliegen, usw. Es fällt uns unabhängig davon, ob wir in einem Simulator spielen oder nicht, leichter, bestimmte Aufgaben zu lösen, wenn wir sie uns räumlich und zeitlich vorstellen, weil wir uns anhand solcher Vorstellungen orientieren und Handlungszusammenhänge ordnen können. Während Piloten die Beziehung zwischen den Instrumenten und den Bedeutungen, die die Instrumente haben, in bewusster Ausbildung trainieren müssen, nimmt der Beobachter seine Wahrnehmungen quasi automatisch als Wahrnehmung seiner Um-Welt. Als Beobachter nehmen wir nicht unsere Netzhaut (oder die Zustände anderer Sinnesorgane) wahr, sondern Gegenstände. Wir sehen nicht irgendwelche Pixel, Raster, Muster, usw (was den Anzeigen im Cockpit entsprechen würde), sondern bedeutungstragende Dinge wie Tische, Berge, Menschen. Beobachter sind Piloten, denen es immer "sinnen"-klar ist, dass sie sich in der Um-Welt befinden, die sie wahrnehmen.