zurück ]     [ Publikationen ]    
 

Rolf Todesco

TZI im Internet

In: interaktiv - Zeitschrift von WILL Schweiz (TZI), Nr. 92, Herbst 2001, St. Gallen
 

Die gemeinsame Sache

Man kann das unter dem Label TZI bekannte Protokoll - das ich hier als bekannt voraussetze - als generelle Didaktik verstehen. Dann sieht man in den Aussagen der TZI Anweisungen dafür, wie man einen Lehrprozess führen oder gestalten sollte. Man kann aber - und ich tue es - die TZI auch als Beschreibung eines Lernprozesses sehen, in welchem sich die Teilnehmenden von ihren Interessen am Thema führen lassen. Ich deute die TZI als hierarchiefreie Interaktion, die durch Themen, statt durch Gruppenleiter oder Lehrer geführt wird.

Natürlich können Schüler sich zufällig für das Thema interessieren, das gerade im Lehrplan eines Lehrers steht. Und natürlich können sich Schüler auf irgendein Prüfungsthema (kon-)zentrieren. Aber wenn das Thema schon vorgegeben ist, ist die Interaktion gerade nicht themenzentiert. Eine themenzentrierte Interaktion ist jenseits didaktischer Tricks eine Interaktion, in welcher erforscht wird, was das Thema für die Beteiligten ist (1).

Wenn ich mich für etwas interessiere, dann habe ich Gründe und mithin Perspektiven. Ich weiss immer schon etwas - und nur das mache ich zum Thema. Und ich mache dann etwas zum Thema, wenn ich darüber mehr wissen will - das Neue im Thema nenne ich Rhema. Das, was ich schon weiss, bestimmt mit, was ich für Erfahrungen mache und was ich damit verbunden zusätzlich oder besser wissen will. Nur so zufällig, wie ein Schüler sich für den Stoffplan eines Lehrers interessieren könnte, könnte ein anderer Mensch dasselbe Thema und dasselbe Rhema haben wie ich. Jeder Mensch hat seine Geschichte. Themenzentrierte Interaktion kann deshalb für mich nicht bedeuten, dass die beteiligten Menschen dasselbe Thema haben, denn dazu müssten sie disselbe Wirklichkeit für-wahr-nehmen oder eine wirkliche Wirklichkeit wenigstens gleichgeschaltet deuten. Themenzentrierte Interaktion bedeutet für mich, dass alle Beteiligten an ihren Themen arbeiten. Authentisches Arbeiten muss in der eigenen Welt verwurzelt sein. Ich vertraue in einem humanistischen Sinn darauf, dass sich zwischen den andern und mir eine sinnvolle Kollaboration entwickelt, wenn alle, mit denen ich überhaupt zusammenarbeite, ernsthaft bei ihrer Sache bleiben.

Die dritte, gemeinsame Sache, die Brecht beschworen hat, kann niemand mitbringen oder benennen, sie entsteht im Dialog.


Internet

Kommunikation und Kollaboration betrachte ich als systemische Prozesse, die milieugebunden sind. Wenn ich mit andern Menschen zusammenarbeite, müssen bestimmte Umgebungsbedingungen erfüllt sein. Ein konventionelles Seminar braucht unter anderem einen Zeitort, wo die Beteiligten zusammenkommen. Seit einiger Zeit gibt es das Internet und mithin die Möglichkeit einer relativ ort- und zeitunabhängigen Kooperation. Ich organisiere an der Fachstelle für Weiterbildung an der Universität Zürich Lernveranstaltungen zum konstruktiven Wissensmanagement und zur Hyperkommunikation, in welchen das Internet als Plattform benutzt wird (2). In diesen Studiengängen gibt es anstelle von Kursunterlagen, in welchen steht, was einer schon weiss und jeder andere wissen muss, Kursunterlagen, die von den Beteiligten gemeinsam produziert werden. Mit Hypertext haben wir ein Medium, das sinnvolle Kollaboration zulässt, vor allem auch weil darin parallele Formulierungen zu sich überschneidenden Themen möglich sind. Die Teilnehmenden stellen sich eine Menge verlinkter Hypertextteile - eine Art themenspezifische Homepages - zur Verfügung. Als Hyperlesende setzen sie durch Anklicken der Links die Textteile zusammen, die sie interessieren. Wesentlich ist hier: Die Teilnehmenden formulieren selbst und sie lesen im selbst gewählten Kontext. Ein Server im Internet bietet die Möglichkeit, dass alle Beteiligten jederzeit mitschreiben und mitlesen können. Das Internet fungiert als gemeinsamer Arbeitsplatz, auf welchem die Beiträge so verwoben werden, dass die individuelle Autorenschaft in der Interaktion aufgehoben wird.


Konstruktives Wissensmanagement

Ich verstehe Wissensmanagement als kollaborativen Prozess, in welchem die Beteiligten ihr eigenes Wissen einbringen, indem sie einen gemeinsamen Hyper-Text produzieren. Alle schreiben das, was ihnen - also dem jeweiligen TZI-ICH - im Kontext angemessen scheint. Natürlich ist denkbar, dass verschiedene Menschen so verschiedene Themen behandeln, dass keine Berührungspunkte entstehen. Praktisch mache ich aber ganz andere Erfahrungen. Wie in beliebigen Gesprächen mit fremden Menschen finde ich fast immer sehr viele Anknüpfungspunkte.

Wer Lernveranstaltungen zum konstruktiven Wissensmanagement konventionell begreift, mag Wissensmanagement als Thema verstehen und erwarten, dass er darüber die neusten Theorien und Erkenntnisse zu hören bekommt. Ich begreife Wissensmanagement im Rahmen meiner Veranstaltungen aber nicht als Thema, sondern als Pratice. Wir dozieren nicht über Wissensmanagement, wir machen Wissensmanagement und alle Beteiligten deuten den Prozess auf ihre eigene Weise. THEMA im Sinne des Dreigestirns der TZI ist das gemeinsam benutzte Werkzeug "Internet" und der gemeinsam entwickelte Hypertext, aber nicht etwas, was in diesem Text zu lesen ist.

Natürlich befassen sich viele Beiträge der Veranstaltung auch inhaltlich mit Wissensmanagement, weil in vielen Beiträgen die gemeinsame Praxis als Wissensmanagement reflektiert wird. Dabei zeigen sich aber so verschiedene Auffassungen von Wissensmanagement, dass es mir unmöglich erscheint, von einem gemeinsamen Thema im traditionellen Sinn zu sprechen. Das, was das TZI-WIR konstituiert, ist die gemeinsame Arbeit, nicht eine gemeinsame Ideologie oder Lehr(er)meinung.


Hyperkommunikation

Hypertexte sind Konglomerate von mit (Hyper)-Links verbundenen Text-Teilen, wie sie vor allem durch das World Wide Web im Internet bekannt wurden. Hypertexte sind Textgrundlagen, die im Wissen geschrieben werden, dass der Hyper-Leser selbst entscheidet, was er wann und in welcher Reihenfolge liest. Die Reihenfolge der Textelemente wird also nicht im Schreiben, sondern im Lesen festgelegt. Der jeweils gelesene Text entsteht erst beim Hyper-Lesen. Da der Hyperleser jeweils (oder manchmal) nur bis zu einem (Hyper)-Link liest, geht sogar häufig nicht das ganze Hypertextelement in den gelesenenHypertext-Text ein.

Hyper-Kommunikation nenne ich die Kollaboration verschiedener Menschen an einem gemeinsamen Hypertext. In dieser Kollaboration nehmen alle Beteiligten am gemeinsamen Hyper-Text die Veränderungen vor, die den Text für sie selbst "stimmig" machen. Der Hypertext einer Hyperkommunikation ist das Produkt einer kollektiven Produktion, die ich als eigentliche Kommunikation begreife. Der Ausdruck "Kommunikation" hat umgangssprachlich zwei relativ unmittelbare Konnotationen: einerseits die Kommune, etwa in der Form der kommunistischen Gemeinschaft, und andrerseits den Prozess, in welchem Signale übertragen werden. Die Kollaboration am Hypertext ist kommunikativ im Sinne von gemeinschaftlich, weil ein gemeinsames Produkt ohne Arbeitsteilung hergestellt wird: jeder tut alles und alle tun das gleiche, sie bearbeiten den gemeinsamen Text. Die Hyperkommunikation konstituiert einen kollektiven Autoren als emergentes Phänomen, der etwas anderes ist, als die Summe der Beteiligten. Der kollektive Autor verhält sich wie ein einschwingendes System, das auf Perturbationen reagiert, die es durch seine Kompensationen von vorangegangenen Perturbationen selbst erzeugt (3). Kommunikation zwischen Menschen findet solange statt, wie sie gegenseitig auf ihre kommunikativen Verhaltensweisen reagieren. Die (Hyper)Kommunikation bricht ab, wenn relativer Gleichstand erreicht ist, das heisst, wenn die Texte nichts mehr bewirken oder die Unterschiede der Konstruktionen keine Unterschiede mehr im Verhalten machen (Todesco 1999).

In der Hyperkommunikation hat Text keine didaktisch-belehrende Funktion, weil der Schreibende ja nicht weiss, was der Lesende liest. Die Kommunikation liegt in der kollaborativen Produktion des Textes, im gemeinsamen Schreiben, nicht in einer nachgelagerten Rezeption. Das gemeinsame Einschwingen wie ich es etwa in kommunizierenden Röhren sehe, geschieht im Schreiben des Textes, nicht im nachgelagerten Lesen.

In der Hyperkommunikation muss der gemeinsame Text in meinen Augen stimmen, er muss nicht für andere richtig sein. Die Hyperkommunikation setzt deshalb auch keine gemeinsamen Sinnwelten oder Themen voraus. Die Vorstellung des sich gegenseitigen Verstehens ist in der Hyperkommunikation aufgehoben. Die Arbeit am gemeinsamen Hypertext erzeugt einen Handlungszusammenhang, in welchem die Beteiligten den ästhetischen Entwicklungsprozess der Textstruktur begreifen, in den sie selbst involviert sind, in welchem sie mithin etwas von sich selbst "verstehen". In diesem Sinne ist die Hyperkommunikation radikal konstruktivistische Praxis, in welcher unerheblich ist, was andere wie deuten oder wissen. Erheblich sind die Beiträge der andern, für mich so, wie ich sie deute.


Interaktion als Prozess

Interaktion nenne ich den Prozess zwischen von mir unterschiedenen Entitäten. (Hyper)-Kommunikation ist ein spezifischer Fall von Interaktion, und Wissensmanagement ist ein spezifischer Fall von Kommunikation.

Prozess nenne ich die Veränderung der Struktur einer Entität. (Re-)konstruieren eines Prozesses bedeutet in diesem Sinne Rekonstruieren der Veränderung der Entität, die vom gemeinten Prozess betroffen ist. So kann ich etwa die Renovation eines Hauses als Prozess auffassen, wenn ich die Zustände des Hauses vor und nach der Renovation unterscheiden kann. Ich sehe dann nicht zwei verschiedene Häuser, sondern dasselbe Haus, das sich verändert hat. Wenn ich ein neues Haus baue, dann sehe ich mit derselben Perspektive, wie ein und dasselbe Haus sich vom Noch-nicht-Sein zum fertigen Haus entwickelt. Das geplante und fertige Haus sehen - im Idealfall - zwar identisch aus, gleichwohl kann ich die beiden Zustände, die durch den Herstellungsprozess vermittelt sind, gut unterscheiden.

In einem metaphorischen Sinn kann ich Lernen als Prozess auffassen, in welchem sich der Lernende verändert. Ein renoviertes Haus sieht nach der Renovation anders aus als davor. Wenn ein Kind die Hand am Ofen oder an der Kochherdplatte verbrennt, sieht das Kind anders aus als zuvor, ich weiss dann aber noch nicht, ob das Kind - falls das überhaupt möglich ist - aus Schaden klug geworden ist. Wenn ich etwas gelernt habe, sehe ich normalerweise nicht anders aus als zuvor. Nicht nur der Lernprozess ist unsichtbar, auch die Veränderung des Lernenden, die ich als Lernprozess bezeichne, zeigt sich nicht unmittelbar. Sehen kann ich das Gelernte nur als Produkt.

In der total verschulten Gesellschaft, die ich um mich herum wahrnehme, wird das Produkt des Lernens typischerweise - und fatalerweise - sehr oft in Resultaten von Prüfungen gesehen. Texte, die ich als Prüfungen schreibe, werden korrigiert. Das bedeutet, dass ein anderer Mensch in meinen Text eingreift. Potentiell wäre das der Ort einer Kollaboration im Sinne der Hyperkommunikation. Zu zweit - modern gesagt, interaktiv - könnten wir den Text besser machen, als ich es alleine kann. Wenn der andere aber ein Prüfender ist, der in meinem Text mit einem Rotstift markiert, was er mir als Fehler anlastet, erlebe ich keinerlei Kollaboration, sondern eine Schändung, die es mir mit zunehmender Häufigkeit immer unmöglicher macht, meine Texte als Beiträge zu verstehen.

Die Interaktion am Text bedeutet, dass die je anderen am Text mitarbeiten, indem sie prüfen, wie gut der jeweils aktuelle Text zu ihnen passt und den Text entsprechend verändern. Ein solcher Textentwicklungs-Prozess mag schliesslich Millionen von Zeichen umfassen, er beginnt aber - so wie ich jede noch so lange Wanderung mit einem ersten Schritt antrete - mit einem ersten noch provisorisch gesetzten Zeichen. Und die Interaktion beginnt dort, wo ich meine Zeichen zur Verfügung stelle (4).

Wenn ich meinen Lernprozess mit andern teile, erlebe ich was TZI wirklich heisst.


 

Anmerkungen

1) Irgendwie grotesk tönt in meinen Ohren die Empfehlung von Langmaack, wonach der Leiter das Thema nicht im voraus bekannt geben soll, weil sonst der Reiz des Neuen verloren geht (2000:120). ( zurück)
 
2) Nähere Angaben unter den URL's Fachstelle für Weiterbildung an der Universität Zürich (http://www.weiterbildung.unizh.ch) und Konstruktives Wissensmanagement (http://www.weiterbildung.unizh.ch/kurse/kowi), respektive Hyperkommunikation (http://www.weiterbildung.unizh.ch/kurse/hyperkomm) ( zurück)
 
3) Perturbation ist ein Terminus im Radikalen Konstruktivismus. Er steht für Störungen, die eine Kompensationshandlungen auslösen, wobei gleichgültig ist, ob die "Störung" positiv oder negativ erlebt wird. ( zurück)
 
4) Natürlich kann ich Interaktion und Kommunikation auch dort noch erkennen, wo jemand einen fertiggeschriebenen Text in einem klassischen Vermittlungsmedium, etwa in einer Zeitschrift, publiziert. Auch in solchen Fällen ist es im Prinzip möglich, dass andere Menschen so reagieren, dass ein dialogisches Hin und Her entsteht. Wenn ich ein Buch für eine weitere Auflage überarbeite, kann ich das als Interaktion mit dem reagierenden Publikum auffassen. In einer Interaktion im engeren Sinne sehe ich aber den Beitrag des Einzelnen aufgehoben. ( zurück)
 
 

Literatur