Interpretation von Interpretation

Konstruktive Lösung der Interpreter-Paradoxie

Die Interpreter-Paradoxie

In vielen Computern gibt es ein Programm, das "Interpreter" heisst und die Aufgabe hat, Programme zu interpretieren. Wenn Programme interpretiert werden müssen und der Interpreter ein Programm ist, stellt sich natürlich die Frage, wer das Interpreterprogramm interpretiert. Interessant ist die Frage vor allem, weil sie sich nicht nur in bezug auf Computer, sondern, entsprechend angepasst, auch in bezug auf das Konstrukt "Hirn" stellen lässt. Welche Teile im Hirn interpretieren, was das Hirn "verarbeitet" hat?

Die Interpreter-Paradoxie hat eine zweite Erscheinungsform: im Computer sitzt (wie im Hirn) eine Instanz, die beliebig klein oder als emergentes Wesen gar ohne Ausmass ist. Diese Instanz trägt Namen wie Hommunkulus, Dämon oder kleines Männchen usw. und interpretiert die eingehende Information. Hommunkuli erklären sehr gut, weshalb wir mit Computern sprechen können, und wer in unserem Hirn die Abbildungen, die von aussen kommen interpretiert; aufgeklärt, wie wir sind, wissen wir aber, dass es keine Hommunkuli gibt - leider.

Ich werde im folgenden erläutern, was Interpretation im Zusammenhang mit technischen Geräten wie Computer bedeutet und worin die metaphorische Übertragung, die das Pseudoparadoxon verursacht, besteht. Damit wird auch dargestellt, was schon klar ist, nämlich wo der wirklich Interpretierende ist.

Konstruktive Erläuterung: Der übersteuerte Benutzer

Das wesentliche Konstruktionsprinzip bei Geräten wie Computer ist eine Verschachtelung von Verstärkern in Form von Relais oder Transistoren. Verstärker sind Schalter im arbeitenden Energiekreis, die mit einer Steuerungs-Energie geschaltet werden (Todesco, 1992, S. 103ff), die wesentlich geringer ist als die Arbeitsenergie. Dieses Verstärkerprinzip verwenden wir unter anderem im Auto bei Servoequipment (Steuerrad, Bremse) und insbesondere auch bei Antiblockiersystemen (ABS). Der konstruktive Witz aller Servosysteme zeigt sich etwa bei der Servobremse darin, dass der Benutzer nicht die zum Bremsen benötigte Bremskraft aufbringen muss, sondern nur die Kraft, mit welcher der Servomotor geregelt wird, der seinerseits die wesentlich grössere, eigentliche Bremskraft liefert. Wenn der Benutzer auf die Servobremse drückt, meint er naiverweise, er drücke auf die Bremsbeläge, in Wirklichkeit gibt er aber nur einen relativ schwachen Steuerimpuls an das Servosystem.

Der konstruktive Witz des Antiblockiersystems liegt überdies darin, dass der Benutzer des Systems den eigentlichen Systemprozess, also das Bremsen, nur vermeintlich regelt. Antiblockiersysteme tragen nämlich der Tatsache Rechnung, dass der nicht geschulte Autofahrer speziell in Notsituationen die Bremse auch dann noch durchdrückt, wenn die Räder bereits rutschen, und dies obwohl er bremsen, nicht schleudern will. Konstruktionen wie Antiblokkiersysteme verhindern, dass sich Benutzerhandlungen, die auf falschen Vorstellungen beruhen, negativ auswirken. Antiblockiersysteme etwa "übersteuern" die Vorstellung, dass durchgedrückte Bremsen oder blockierte Räder das Auto optimal verzögern. In solchen scheinbar "fehlertoleranten" Maschinen wird das menschliche Steuern "interpretiert" und technisch übersteuert.

Interpretieren heisst - vorerst in diesem Zusammenhang - eine Handlung oder einen Gegenstand als Symbol für etwas anderes aufzufassen. Natürlich interpretiert das konstruierte Gerät "Antiblockiersystem" im Auto, das im Wesentlichen aus einigen Schaltern besteht, nichts. Vielmehr interpretiert der Konstrukteur, der dieses technische Gerät (ein)baut, das durchgedrückte Bremspedal in einem Auto als Wunsch des Fahrers, das Auto möglichst rasch anzuhalten, obwohl das Verhalten des Fahrers diesem Ziel gerade nicht entspricht.

Solche Interpretationen - und das ist ein wesentlicher Bestandteil der üblichen Konnotation von Interpretation - sind häufig falsch. Geübte Autofahrer drücken nämlich, wie man im Rallyesport deutlich beobachten kann, das Bremspedal oft nicht zum Anhalten durch, sondern weil sie die Räder tatsächlich blockieren wollen, was beim gekonnten Kurvenfahren häufig mit Zeitgewinn verbunden ist. Da die Rallyefahrer wissen, dass ihr Verhalten in bestimmten Fällen falsch interpretiert wird, verwenden sie ein weiteres System, um die eingebaute Interpretation des ABS-Konstrukteurs zu übersteuern.

Von einem Antiblockiersystem kann man sich natürlich ebenso wie von einem "interpretierenden" Computer absurde Modelle machen. Man kann maxwellsche Dämonen phantasieren, die aufpassen, dass die Räder nicht blockieren. Während man aber beim Bremsen im Notfall mit einem Antiblockiersystem, unabhängig davon, wie man sich dieses vorstellt, das Bremspedal wirklich vollständig durchdrücken muss, kann man mit den phantasierten Hommunkuli nie wirklich sprechen. Man kann nur "so tun, als ob". Daran ändert auch nichts, dass viele Benützer nicht merken, dass sie, wenn sie dem Computer(männchen) etwas befehlen, nur tun, als ob.

Beim Computer übernimmt ein spezifisches, lokalisierbares Programm die Rolle, die das ABS im Auto spielt. Dieses Programm ist wie das ABS eine eigens für diesen Zweck hergestellte Konstruktion. Der Konstrukteur (Programmierer) dieses Programmes interpretiert mittels dieses Programmes, was die Benutzer mit den Tastenfolgen, mit denen sie ihre Eingaben machen, oder mit den Zeichen in den Programmen, die auch bestimmten Tastenfolgen entsprechen, bezwecken. Dieses Programm wird Interpreter genannt, aber nicht, weil es irgendetwas interpretiert, sondern weil es wie das ABS Mittel der Interpretation ist. Es ist leicht erkennbar, dass jedes Programm, das auf Benutzereingaben reagiert ein Interpretationsmittel ist. Das nur das maschinennächste Programm Interpreter heisst, ist arbiträre Konvention.

Das Interpreter-Programm ist also ein Programm, mittels welchem die Eingaben der Benutzer interpretiert werden. Der Interpretationsprozess wird durch diese Konstruktion generell erläutert, interpretieren heisst generell eine Handlung oder einen Gegenstand als Symbol für etwas anderes aufzufassen. Wenn wir einen Text interpretieren, verhalten wir uns konstruktiv, indem wir den objektiven Handlungen, die zum Text führten, also etwa dem Schreibprozess, der darin besteht, dass jemand Graphit auf einem Papier verteilt, eine Intention zuordnen, wie der Ingenieur des ABS es einem durchgedrückten Bremspedal tut. Auch unsere Textinterpretationen sind nicht immer adäquat, das heisst, andere Leser, zu welchen insbesondere der Autor des Textes gehört, können den Text anders interpretieren. Von gelungener Kommunikation sprechen wir, wenn die Interpretationen von Leser und Autor "passen".

Da Symbole nur für Beobachter existieren, ist auch bestimmt, wer als Interpreter überhaupt in Frage kommt. Da Beobachter Menschen sind, könnte man versucht sein, den Interpreter im Hirn zu lokalisieren. Aber selbstverständlich ist das Hirn im objektiven Sinn, der ihm durch unsere neurobiologische Modellierung zugewiesen wird, nur eine Maschine, die wie ein ABS oder ein Computer in beobachtbare Zustände fällt. Nur der Beobachter wird bestimmte Zustände des Hirns als Symbole auffassen, das Hirn selbst hat sowenig Anlass etwas zu interpretieren wie irgendwelche andere Maschinen.

Epilog: Interpreter als Metapher

Weshalb verwenden wir Metaphern, die uns irre machen? Die Redeweise, in welcher wir ein bestimmtes Programm Interpreter nennen, entspringt nicht einer zufällig unglücklich gewählten Verkürzung von "Mittel des Interpreters" zu "Interpreter", sondern der bewussten und begründeten Absicht, eine Computerwirklichkeit zu schaffen, in welcher ein Hommunkuli als Kommunikationspartner des Benutzers vorkommt. Diese Konstruktion will nichts erklären, sondern im Gegenteil, die Bedienung des Computers ermöglichen, ohne dass man den Computer versteht. Sie beruht auf der banalen, ökonomistischen Erkenntnis, dass man, um einen Computer zu benützen, ihn so wenig verstehen muss wie das Auto, mit dem man fährt. Einige von uns sparen viel Geld damit, dass sie den andern geistige Krücken statt Bildung zur Verfügung stellen. Dass die Hommunkuluskonstruktion eine Krücke ist, die Einsicht verhindert, zeigt sich darin, dass sie kein Modell des Computers ist. Ein Modell ist abstrakt, also eine durch Weglassen vereinfachte Darstellung. Der Hommunkulus im Computer (und im Hirn) entspringt aber keiner Abstraktion, er ist eine hinzugedachte, ideologische Konstruktion. Solche Konstruktionen führen mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu paradox wirkenden Formulierungen.

Genaugenommen handelt es sich bei derartigen Formulierungen nicht um Paradoxien, sondern um Pseudo-Paradoxien, was schon daran zu erkennen ist, dass sie im Unterschied zu eigentlichen Paradoxien wie "ich lüge" im Gespräch wirklich verwendet werden. Eigentliche Paradoxien sind widersinnige Formulierungen, die nur in formalen Systemen, also in Beschreibungen von Systemen auftreten (können), die die beschreibende Instanz, "den Beobachter", ausblenden. Pseudo-Paradoxien dagegen entstehen durch semantisch nicht adäquat interpretierte Ausdrücke, wozu Metaphern besonders verleiten - speziell, wo sie genau dieser Intention geschuldet sind. Alles was wir nur mit kognitivistischen Metaphern ausdrücken können, haben wir konstruktiv nicht begriffen. Dazu dürften wir schweigen (Wittgenstein, 1963: 115). Nicht schweigen sollten wir, wo mit kognitivistischen Metaphern verschleiert wird, dass Wissenschaften wie Informatik und Neurobiologie ausschliesslich über objektive Tatbestände sinnvolle Aussagen machen, also zum Verständnis des Wesens der Interpretation gerade nichts beitragen können.


 

Literatur

Ich nenne hier einige Texte, in welchen Sie etwas mehr über die Voraussetzungen meiner Vorstellungen nachlesen können. Ich arbeite aber auch laufend an eigenen Texten, die Sie unter meinen Publikationen finden.