Autopoietischer Kreis
Zürcher Forum für Konstruktivismen
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Rolf Todesco
-heit und -heiten (am Beispiel Freiheit)
(14. Nov. 2018, Folien [])

Ankündigung
Rolf Siebenmann hat im letzten Kreis über Wahrheit gesprochen. Er hat dabei wahr und Wahrheit unterschieden und damit eine Diskussion ausgelöst, die ich gerne etwas fortsetzen würde. Ich mag aber den Diskussionsmodus nicht. Ich mag den Dialog, in welchem sich verschiedene Vorstellungen zeigen. In meiner Vorstellung geht es darum, wie ich Worte verwende. Ich spreche also nicht darüber, was Freiheit ist und nicht darüber, ob es so etwas wie Freiheit oder Wahrheit gibt, sondern darüber, was ich mit -heit und -heiten bezeichne.
Ich nehme dabei Bezug auf den Behavioristen B. Skinner und dessen Buch: Jenseits von Freiheit und Würde. Er zeigt darin, wie er Freiheit deutet und das hat mir geholfen, mich selbst zu verstehen.

Vortrag

Einleitung: Autopoiesis, Konstruktivismus und Dialog

Ich werde vorab einiges zu meinem Konstruktivismus sagen und dazu, wie ich mir diese Veranstaltung vorstelle. Viele haben das schon oft von mir gehört, ich weiss.

Autopoiestisch heisst der Kreis, weil wir damals auf das Beobachter-Konzept von H. Maturana als Methode geinigt haben: Alles, was gesagt wird, wird von einem Menschen gesagt. Wir wollten nicht über die Wirklichkeit sprechen, sondern über unsere je eigenen Konstruktionen.

Konstruktivismen gibt es beliebige. Ich habe meinen eigenen Konstruktivismus. Ich konstruiere Erklärungen, nicht die Welt.


der Beobachter
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die Blackbox
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die Beobachterblackbox

Konstruktivismus: Ich konstruiere Erklärungen, nicht die Welt oder die Wirklichkeit. H. Maturana spricht vom U-Boot-Kapitän.

Ich unterscheide kompliziert und komplex. Das kybernetische Beispiel von H. von Förster ist die nichttriviale Maschine. Sie ist kompliziert (nicht sehr), erscheint aber komplex (sehr), wenn sie für mich eine Blackbox ist.

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Dialog: Aneigung von Formulierungen

Ich habe zur Einladung zu diesem Abend wieder einmal geschrieben. wie ich mir den Dialog hier vorstelle und wünsche. Ich prüfe, was ich wie sagen kann. Das hat nichts damit zu tun, was andere Menschen wie sagen. Es geht nicht um richtig oder wahr, sondern darum, wie ich spreche - und wie andere Menschen anders sprechen. Wenn jemand von Euch anders spricht, bin ich sehr froh, wenn er das erläutert.

Rolf Siebenmann hat uns erzählt, wie er mit "Wahrheit" umgeht. Jetzt erzähle ich, wie ich solche Wöter verwende und was ich mir dabei denke. Das heisst in keiner Weise, dass Rolf etwas Falsches gesagt hat. Ich gehe davon aus, dass jeder seine je eigenen Formulierungen finden kann. Macht einen Abend in unserem Kreis daraus, wenn Ihr ganz andere Vorstellungn habt - aber sagt mir nicht, was richtig und was falsch ist - oder wie es wirklich ist.

Rolf Siebenmann hat von einem Kategorienfehler gesprochen. Wenn ich bestimmte Kategorien als gegeben voraussetze, kann ich natürliche Kategorienfehler feststellen. Ich habe mich aber gefragt, welche Kategorien ich verwende, und welche Kategorienfehler ich dabei überhaupt erkennen könnte.

Im Dialog erkenne ich meine Kategorien, ich bezeichne sie in meiner Theorie (Weltanschauung) - dia logos, in meinem Reden. Im Dialog sage ich nicht, wer welche Wörter verwenden sollte oder darf. Ich prüfe, wie ich die Worte verwende oder allenfalls verwenden würde. Ich beobachte dabei die Situationen und Kontexte, in welchen mir die Worte begegnen.


Substantivierung: Hypostasierung, Verdinglichung

Ich habe Rolf Siebenmann so verstanden, dass er wahr kategoriell als Eigenschaft, als Eigenschaftsdomäne und als Gegenstand unterscheidet, und dass ihm ersteres sinnvoll erscheint, letzteres aber als Unsinn. Er hat gesagt, dass das Wort Wahrheit gar nicht verwendet werden sollte/dürfte, weil man damit einen Fehler mache.

In meiner Sprache unterscheide ich grammatikalisch verschiedene Wortarten. Hier interessieren mich aber nicht die Wortarten, sondern die Referenzierungen. Ich sage beispielsweise Vortrag und vortragen oder spazieren und das Spazieren. Sehr viele Substantive haben Endungen wie -heit, -keit, -ung, was mich auf eine Substantivierung hinweist. Wahrheit etwa ist ein Beispiel für ein Wort mit der Endung -heit, was mir anzeigt, dass es auch das Wort wahr gibt.

Es gibt in meiner Sprache auch beliebige andere Hypostasierungen, bei welchen ich gar nicht entscheiden mag, was das eigentliche und was das abgeleitete Wort sein mag. Ich spreche beispielsweise von glücklich und von Glück und habe keine Ahnung, was abgeleitet ist.

Die Substantivierung als grammatikalische Kategorie ist nicht generell ein Problem, aber ich kann sie als Hinweis auf Perspektivenwechsel wahrnehmen. Als Hypostasierung gilt etwa der Sohn Gottes, der in der Dreifaltigkeit obwohl Mensch auch Gott ist. Als Verdinglichung bezeichnete K. Marx unter ökonomischen Gesichtspunkten den Warenwert, in welchem lebendige Arbeit aufgehoben ist. Es geht dabei nicht um Substantive, sondern um Referenzierungen oder den Symbolgehalt.

Nochmals. Ich beobachte Wörter, die auf -heit enden, im Hinblick auf einen Perspektivenwechsel. Ich tue es. Das muss niemand auch so tun. Ich will das Verfahren anhand eines andern Beispiels verdeutlichen.
Metapher steht lax gesprochen für "uneigentliche Wortverwendung", genauer gesprochen für eine sprachliche Verhaltensweise im Umgang mit Homonymen. Als Metapher bezeichne ich ein erkenntnisleitendes Konstrukt, das auf der Grundlage von Homonymen beruht. Wenn ich Homonyme als Metaphern auffasse, postuliere ich ein Geber- und ein Nehmergebiet und frage, welche Eigenschaften übertragen werden. Homonyme bezeichne ich genau dann als Metaphern, wenn die doppelte Verwendung des Ausdruckes etwas über eine Beziehung zwischen den Referenten des Ausdruckes aussagen soll. "Bank" könnte zufällig für "Geldinstitut" und für "Sitzgelegenheit" stehen, dann würde ich von einem Homonym sprechen, oder aber weil die beiden Referenten in irgendeiner Weise verwandt sind, dann würde ich von einer Metapher sprechen, und untersuchen, worin die Verwandtschaft besteht.


Das Beispiel Frei-heit

Und nochmals, das Substantiv mit der -heit-Endung dient mir nur als Anlass über meine Verwendung des Wortes nachzudenken. Und die Wortart spielt dabei keine Roll. Ich kann auch gleichbedeutend sagen, dass ich frei sein möchte oder dass ich mich total befreien will.

Zunächst frage ich mich generell, wie und wann ich das Wort verwende. Bei Freiheit denke ich an die Differenzen Gefangenschaft und Pflicht, im Sinne von Müssen oder Sollen. Dann frage ich mich - in Anlehnung an B. Skinner -, welche Abstraktion ich mit -heit bezeichne. Ich lasse weg, was mein Freisein einschränkt. Und schliesslich frage ich mich welche Motive ich mit Freiheit verbinden würde. Gibt es so etwas wie eine Freiheitsliebe oder ein Freiheitsbedürfnis?

Zur ersten Frage: Von Freiheit spreche ich, wenn ich sie nicht habe. Ich bezeichne damit eine Not. Darauf will ich nier nicht näher eingehen, Weil es mir hier nicht um Freiheit geht, sondern um die -heit, wofür Freiheit hier nur ein Beispiel ist.

Zur zweiten Frage: Die entscheidende Differenz besteht für mich darin, ob ich bezeichne, was mein Freisein beschränkt. Wenn ich eingesperrt bin, und mir das nicht gefällt, will ich nicht frei, sondern nicht mehr eingesperrt sein. Ich kann dann schon von Freiheit sprechen, aber ich weiss dann, welche Art von Freiheit ich meine und vor allem auch, was meine diesbezügliche Freiheit begrenzt.

Der Ausdruck Freiheit verliert diesen spezifischen Sinn, wenn ich damit ein Prinzip bezeichne, das ich auch mit Autonomie oder ganz allgemein die Unabhängigkeit von äusseren und inneren Zwängen bezeichnen kann. Die Fiktion bezeichnet einen Menschen, der keine Erfahrungen gemacht hat, die seine Wahl beschränken. Wenn ich die Hand schon einmal im Feuer hatte, bin ich nicht mehr unbedingt frei, meine Hand nochmals ins Feuer zu halten.

Die Hypostasierung des Freiseins hat aber gute Gründe. Unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen, unter welchen Menschen von anderen zur Rechenschaft oder Verantwortung gezogen werden, muss natürlich von einer Wahlfreiheit ausgegangen werden. Wenn jemand eine Norm verletzt, kann man ihn nicht gut bestrafen, wenn man davon ausgeht, dass er keine Wahl hatte. Wenn jemand betrunken einen Unfall verursacht, kann er ja nichts dafür, aber ihm wird angerechnet, dass er vor dem Trinekn von Alkohol noch nüchtern und frei war, Alkohol zu trinken oder eben nicht.

Aber auch nüchtern bin ich nicht frei, sowohl zu trinken als auch Auto zu fahren. G. Leibniz - der leider nicht in unserem Kreis verkehrt - hat geschrieben: "Freiheit besteht im Vermögen, das zu tun, was man tun möchte", hat das aber sofort relativiert mit "...oder in dem Vermögen, das zu wollen, was erreicht werden kann". Natürlich kann ich mir wünschen wie ein Vogel zu fliegen, und dann realisieren, dass ich diese Freiheit nicht habe. Ich bin in diesem Sinne nur frei, wenn ich nicht frei bin zu wünschen, was ich mir wünsche. Ich bin dann auf Beschränkungen zurückgeworfen. Eine andere berüchtigte Formulierung dieser Beschränkung wird I. Kant zugeschrieben. Meine Freiheit soll dort enden, wo sie die Freiheit eines andern beeinträchtige.


Behaviorismus

Weil ich auf B. Skinner bezug nehme, sage ich ein paar Worte zum Behaviorismus.

Als Behaviorismus bezeichne ich ein Paradigma der Psychologie, in welchem das operante Konditionieren beobachtet wird. Ein berühmter Vorläufer des Behaviorimus ist I. Pawlow. Er hat anhand von Hunden entdeckt, dass Reflexe konditioniert sein können. Die eigentlichen Behavioristen haben dann das operante Konditionieren untersucht, womit bewusste Verhaltensregelung bezeichnet wird. B. Skinner hat allerlei Tiere wie Ratten und Vögel dressiert und dabei die Lehre der Verstärkung entwickelt. Er bezeichnet sie als Grundlage der Sozialtechnologie.

Als Verstärkung bezeichne ich in diesem behavioristischen Sinn, dass Konsequenzen von Verhalten für künftiges Verhalten in Betracht gezogen werden. Was sich bewährt, wiederhole ich, das andere meide ich. Ich will hier nicht näher auf diese Theorie eingehen, nur anfügen, dass ich Walden III als Remake von Skinners Walden II geschrieben habe, weil mir sein Buch sehr gut gefällt. Ich bin also in gewisser Weise selbst ein Behaviorist. Ich gehe davon aus, dass das Verhalten durch die wahrgenommene Umwelt bestimmt wird und umgekehrt, dass ich mit meinem Verhalten mein Wahrnehmung steuere.

In seinem Buch "Jenseits von Freiheit und Würde" beobachtet B. Skinner Freiheit als Hypostasierung, durch die ausgeblendet wird, wer sich welche Freiheit unter welchen Bedingungen wünscht. Ich formuliere die Frage etwas anders. Ich frage mich, was ich mit Freiheit bezeichne, wenn ich mir Freiheit überhaupt wünsche.

Hier geht es mir darum, dass ich nicht nur phylogenetische und ontogenetische Erfahrungen, sondern auch soziale Kontrolle wie Lob und Strafe berücksichtige. Mein Verhalten ist in diesem Sinne in keinem Moment autonom. Wenn von meiner Freiheit gesprochen wird, erlebe ich das als Verleumdung meiner Erfahrungen. J. Rousseau hat das auf den Punkt gebracht: "Machen Sie das Kind glauben, es sei frei."


Jenseits von Freiheit und Würde

Zur dritten Frage: Wortendungen wie -heit und -keit suggerieren ein Faktum ohne Herkunft. Freiheit scheint etwas zu sein, was der Mensch seiner Natur nach will, ohne dass er dafür Gründe hätte. Die Liebe zur Freiheit gehört in dieser Sichtweise wie die Liebe zum Sauerstoff zum Wesen des Menschen, wie die Liebe zur Wahrheit, zur Schönheit oder zur Gerechtigkeit. Es muss aber offenbar auch eine Liebe dazu geben, diese -heiten bei andern zu missachten, sie ihnen vorzuenthalten.

In Anlehnung an S. Skinner unterscheide ich Sichtweisen oder Perspektiven, Rolf Siebenmann hat von Kategorien gesprochen, ich kann auch Theorie oder Weltanschauung sagen. In der Perspektive des Behaviorismus beobachte ich das Verhalten. In meiner eigenen Perspektive die Tätigkeit von Menschen. Freiheit ist weder ein Verhalten noch eine Tätigkeit, sondern - in Abhängigkeit der verwendeten Theorie - ein Ziel des Verhaltens, etwa des Verhaltens von Freiheitskämpfern oder von ausbrechenden Gefängnisinsassen. Solche Ziel kann ich verkürzt als Bedürfnisse bezeichnen. Ich habe das Bedürfnis solche Ziele zu erreichen. Und das Bedürfnis erscheint dann als Grund oder Motiv meines Handeln. Darin erkenne ich eine Commonsensevorstellung, wie sie etwa der Maslow-Pyramide zugrunde liegt. Der Mensch hat Bedürfnisse und richtet sein Handeln danach aus. Das Bedürfnis ist in dieser Perspektive gegeben und erklärt das Verhalten.

In dieser Perspektive kann Freiheit als Bedürfnis oder Emotion gesehen werden. Und in dieser Perspektive hat der Ausdruck auch seinen Sinn, er beruht dann nicht auf einem Kategorienfehler, sondern eben auf einer bestimmten - vielleicht freien - Wahl der Kategorien.

Ich unterscheide Bedarf und Bedürfnis. Wer Bedürfnisse voraussetzt, kann etwa sagen, dass er esse, weil er hungrig sei. Das Hungrigsein erscheint dabei als Grund für das Essverhalten. Aber weshalb bin ich denn hungrig? Ich esse nicht, weil ich hungrig bin, sondern weil ich Nahrung brauche. Dass ich hungrig bin, ist nur eine Emotion davon, dass ich Nahrung brauche. Mein Verhalten hat also einen einsichtigen Grund. Hunger aber ist nur eine Emotion, die die fehlende Einsicht kompensiert, dass ein Organismus Nahrung braucht. Einfache Organismen haben dieses Wissen nicht, sie haben stattdessen Hunger.

Die Nahrung, die ein Organismus braucht, bezeichne ich als dessen Bedarf. Das Wissen um diesen Bedarf habe ich unabhängig davon, ob ich Hunger habe und insbesondere auch dann, wenn ich gar keinen Hunger habe. Menschen produzieren Nahrungsmittel, weil sie einsichtig produzieren, nicht weil sie Hunger haben. Hunger haben Menschen nur, wenn die Produktion, die die Konsumption umfasst, nicht funktioniert. Die Produktion erzeugt das Bedürfnis, das zunächst teilweise mit dem Bedarf zusammenfallen mag, aber das Bedürfnis kennt seine Grenzen nur in der Produktion. Menschen produzieren viel mehr Nahrungsmittel als sie brauchen, sie produzieren grenzenlose Gelüste, die mit ihrem Bedarf gar nichts zu tun haben.

Freiheit sehe ich wie Hunger. Ich kann mir dann auch gut die Freiheit vorstellen, die Freiheit der andern zu beeinträchtigen, so wie ich mir den Hunger auf eine Kreuzschifffahrt vorstellen kann. Und logisch finde ich, dass Philosophen, die Freiheit bedenken, diese Freiheit immer begrenzen, also eben gerade negieren müssen. Sie muss aufhören, wo jene das andern beginnt.


-heit versus -heiten

Wenn ich von FreiheitEN spreche, verwende ich das Substantiv Freiheit, aber ich bezeichne eine Kontingenz. Es geht nicht um die Freiheit überhaupt, sondern um je bestimmte Freiheiten, die ich benennen und mit verstärkenden Erfahrungen verbinden kann. Wenn ich im Gefängnis sitze, will ich nicht Freiheit, sondern das Gefängnis verlassen, falls es mir dort nicht gefällt.


Wahrheit

Und noch ein Nachsatz zum Kategorienfehler bei der Wahrheit. Mir ist natürlich das Wort wahr so unangenehm wie das Wort Wahrheit. Ich würde immer fragen: Welche Wahrheit?


 

Der Vortrag erscheint ohne Kontext, der nur angedeutet ist, als Fragment. Er hat seinen allfälligen Sinn im Dialog des Autopietischen Kreises über viele Sitzungen und Vorträge hinweg. Das zeigt sich auch in ein paar Reaktionen, die das Fragmentarische ansprechen.

Ein paar Anmerkungen im Nachhinein:

Lieber Rolf
Herzlichen Dank für Deinen Vortrag im autopoietischen Kreis und dem Volltext dazu.
Ganz kurz meine Sicht der Dinge bezüglich dem, was ich von Skinner meine verstanden zu haben.
Du schreibst unter dem Stichwort Behaviorismus: «Ich gehe davon aus, dass das Verhalten durch die wahrgenommene Umwelt bestimmt wird und umgekehrt, dass ich mit meinem Verhalten meine Wahrnehmung steuere.»
In der obigen Aussage verstehe aus Sicht von Skinner nicht, was mit ‘wahrgenommene Umwelt’ gemeint ist. Wenn ich die inneren Zustände des Menschen wie die radikalen Behavioristen als Blackbox betrachte, kann ich nicht wissen, was wahrgenommene Umwelt bedeutet, es sei denn, Wahrnehmung wird wie auch immer vermittelt zu einem beobachtbaren Verhalten. Skinner kommt ohne Wahrnehmung aus. Er ist radikal, indem er sagt: «Ein ‘Ich’ ist ein Verhaltensrepertoire, das einem gegebenen Komplex von Kontingenzen entspricht.»
Die Aussage, «dass ich mit meinem Verhalten meine Wahrnehmung steuere» impliziert ein ‘Ich’, das dem ‘autonomen Menschen’ von Skinner entspricht, den er gerade aufheben will.
Skinner ernst nehmen würde für mich bedeuten, mein Verhaltensrepertoire - und das des Menschen generell - zu erklären, ohne auf Konzepte des ‘autonomen Menschen’ wie Wahrnehmen, Denken, Fühlen, die (vorläufig) nicht mit gegenstandsbedeutendem Verhalten zu erklären sind, urückzugreifen.
Auf die Schwierigkeit des Vorhabens, Skinner in letzter Konsequenz ernst zu nehmen und sprachlich nicht zu schummeln, verweist er selbst mit dem Beispiel Sonnenaufgang, den wir so bezeichnen obwohl wir wissen, dass die Sonne nicht aufgeht.
Herzlich
Röbi

Lieber Röbi
herzlichen Dank für Deine Rückmeldung. Ich habe bemerkt, dass ich zwei Dinge vermischt habe, nämlich die “-heit” und den Skinnerbehaviorismus. Deshalb habe ich eingangs noch meine Blackbox-Tempel-Geschichte erzählt und darin auf den Dialog Bezug genommen. Es war eine etwas chaotische Sache, so habe ich die Gesichter der Anwesenden interpretiert.
Dein Skinner-Lesen finde ich .. ähh radikal ist das richtige Wort, wie beim Radikalen Konstruktivismus. Und ja, radikal sein und dann auch so sprechen, ist eine hohe Kunst.
Ich werde jetzt das Buch von B. Skinner nochmals – radikaler – anschauen. Hergebracht, also wie ichs bis jetzt gelesen habe, gibt es eine Instanz, die Erfahrungen bewertet. Und Erfahrungen habe ich als Wahrnehmung von Konsequenzen von Verhalten interpretiert. Die Autonomie schien mir bei B. Skinner nicht bestritten, nur die Verinnerlichung von Prinzipien wie Freiheitsliebe oder relativ zur Bestrafung die Freiheit gegen die Norm zu handeln.
Insgesamt scheint mir das zitierte Buch etwas umgangssprachlich verfasst. Hast Du auch dieses Buch (Jenseits von Freiheit) gelesen, oder eine andere Quelle für Deinen Behaviorismus?
Herzlich
Rolf

Lieber Rolf
Ja, ich lese auch das Buch mit dem Titel Jenseits von Freiheit und Würde. 'Mein' Buch ist ausgeliehen von der ETH-BIB, Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1973, Deutsch von Edwin Ortman. Ich vermute, die Übersetzung ist mehr schlecht als recht. Wenn es um Details geht, müsste man auf das Original in Englisch zurückgreifen.
Lesen hiess zunächst, überfliegen, nachdem Du bei der Ankündigung des Vortrages darauf verwiesen hast und ich mich ein wenig vorbereiten wollte.
Nach Deinem Vortrag habe ich dann genauer gelesen aber immer noch selektiv, angefangen bei den Aussagen zum 'autonomen Menschen', den Skinner explizit (als Programm) aufgeben wollte (entsetzen, wie es in der Übersetzung heisst) und auf der Suche nach dem, was er diesem entgegensetzt.
Das widerspricht Deiner Aussage: "Die Autonomie schien mir bei B. Skinner nicht bestritten".
Im Anhang ein paar Zitate zu diesem Thema mit den Seitenangaben aus 'meinem' Buch.
Wesentliche Aussagen.pdf
Herzlich
Röbi

Lieber Röbi
da haben wir das gleiche Buch. Aber das bedeutet ja nicht, dass wir das Gleiche lesen.Ich habe das Buch in zwei elektrischen Formen, die ich Dir anhänge. Im pdf kann ich nur suchen aber nicht rauskopieren im andern kann ich auch rauskopieren.
Meine Ankündigung meinte ich viel mehr zu den “-heiten” weil das im Vortrag von Rolf Siebenmann wichtig war. Hr. Skinner war mir nur Schützenhilfe dafür.
Aber unabhängig vom Vortrag interessiert mich Hr. Skinner und die Arten wie seine Texte interpretiert werden sehr, was ich mit Walden ja belegt habe Zwinkerndes Smiley
Ich formuliere jetzt also etwas differenzierter:
Statt “Die Autonomie schien mir bei B. Skinner nicht bestritten", würde ich jetzt sagen “bestimmte Auffassungen oder argumentative Verwendungen von Autonomie bestreitet er, aber nicht, dass “der Mensch” es ist, der Erfahrungen macht, die er reflektieren oder kybernetisch kontrollieren kann.”
Vor allem aber – und das meinte ich mit meiner kurzen dialogischen Einleitung – was Hr. Skinner meint, ist mir nicht zugänglich, was er geschrieben hat, kann ich ernsthaft nur als Text lesen, den ich mir aneigne, mit meinen Bedeutungen erfülle.
Zuerst, vor allem andern, ist mir undenkbar, dass jemand das Beobachten nicht einem Menschen zurechnet, der seine Kategorien autonomen reflektiert. Mein Vortragsbeispiel ist die Unterscheidung Bedarf/Bedürfnis, die ich nicht auf eine Umwelt zurückführen kann – oder sag Du mir, wie.
Herzlich
Rolf

Lieber Röbi
ich bedenke jetzt meine Leseweise nochmals. Ich gehe davon aus, dass sie von B. Skinners Leseweise unabhängig ist. Wo er von Verhalten spricht und auch dasVerhalten von Tieren und das Verhalten in Laborsituationen mitmeint, lese ich von Tätigkeit, die ich als Verhalten beschreiben kann, so wie ich einen Handlung als Operation beschreiben kann.
Mich interessiert dann nicht das Verhalten, das sich zeigt, sondern das Tätigsein, das sich in diesem Verhalten zeigt. In meiner Systemtheorie habe ich diese Unterscheidungen schon etwas zur Sprache gebracht. Ich muss nur merken, dass ichden Text mit diesen Unterscheidungen, die ja im Text nicht vorkommen, lese.
Ich sehe darin eine autonome Handlung, WEIL ich sie nicht auflösen oder auf eine Erfahrung zurückführen kann. Hr. Skinner würde in meiner Theoriewahl keine autonome Handlung sehen, WEIL er alles auf Erfahrungen zuführt, obwohl er diese Rückführung nur in Laborsituationen zeigen kann.
(K. Holzkamp entwickelt diese Differenz in seinem Buch ausführlich, aber für mich nicht erhellend).
Hr. Skinner kritisiert sich und seinen Waldentext damit, dass er sich nur auf kleine Menschengruppen beziehen kann. In seinem Walden leben etwa 1000 Menschen, in meinem sogar nur 5. Die Skalierung auf grosse Ansammlungen von Menschen erscheint als Problem – wenn man will.
Ich dagegen befasse ich damit, was (Blackbox) ich mir womit erkläre. Ich lese deshalb im Text von Hr. Skinner Erklärungen und frage mich, was ich damit erklären würde.
Zurück zum Thema Autonomie. Autonomie ist für mich wie Schwerkraft ein Erklärungs-Prinzip, das ich verwende, wenn ich etwas nicht erklären will. Es macht dann keinen Sinn mich zu fragen, ob es sie gibt oder nicht. Sie ist ein Eigenwert meiner Konstruktion. Bei Hr. Skinner lese ich hinein (eben weil ich so lese), dass er Autonomie auch so verwendet. Dass heisst sie erklärt nichts und kann nicht als Erklärung dienen.
Dein Einwand hat mir sehr geholfen, mein Lesen besser zu verstehen. Ich danke Dir dafür. Und ich bin sehr an Deiner Leseweise interessiert, weil ich auf dem Weg bin.
Herzlich
Rolf

Lieber Rolf
Nur ganz kurz zu Deinem Schluss:
Du schreibst: Bei Hr. Skinner lese ich hinein (eben weil ich so lese), dass er Autonomie auch so verwendet. Das heisst, sie erklärt nichts und kann nicht als Erklärung dienen.
Das habe bei Skinner nicht hinein-, sondern herausgelesen. Er schreibt ja explizit "Der autonome Mensch ist ein Mittel, dessen wir uns bei der Erklärung jener Dinge bedienen, die wir nicht anders erklären können". Ich lese vielleicht hinein, dass sein Interesse genau darin liegt, diesem für Erklärungen untauglichen Mittel etwas entgegenzusetzen, das als Grundlage für Erklärungen dienen kann – eben das beobachtbare und das mittels Umwelt veränderbare Verhalten. Das Erklärungsprinzip habe ich bei Maturana resp. beim Dialog Batsons mit seiner Tochter auch nicht hinein, sondern herausgelesen. Aber vielleicht meinst Du mit «hineinlesen» etwas anderes.
Herzlich
Röbi

Lieber Röbi
herauslesen und hineinlesen sehe ich als perspektivische Formulierungen in Bezug auf Text. Für mich hat der Text die Bedeutung, die ich hineinlese. Was ich herauslese, wäre dann nicht im Text, sondern in einer Art Zwischenwelt.
Aber hier meinte ich tatsächlich meine Tat, den Text als Text über Tätigkeit statt als Text über Verhalten zu lesen. Ich kann nicht sehen, was Hr. Skinner mit “erklären” bezeichnet, aber ich unterstelle (lese hinein), dass er – mindestens in einer ihm nicht bewussten Form – etwas dasselbe meint wie ich, obwohl ich das bei ihm nicht formuliert finden kann (was meiner Einschätzung nach nicht an der Übersetzung liegt).
Ich lese also hinein, wie ich das Wort erklären verwende. Ich entscheide damit, wie ich seinen Text in Bezug auf Autonomie lese. Gemeinhin wird dem Behaviorismus vorgeworfen, dass er jede Autonomie negiere. Dann gäbe es keine Wahl, keine Freiheit, keine Wahrheit usw.
Ich problematisiere aber weder Autonomie noch Freiheit, sondern nur dass damit etwas erklärt werden soll. Mein Konstruktivismus befasst sich nicht mit “es gibt” sondern mit Erklärungen, die ich mache.
Hast Du Walden von B. Skinner gelesen?
Ich habe mal mit Ernst von Glasersfeld darüber gesprochen, weil er B. Skinner persönlich kannte und als Mensch sehr schätzte, während er seine “Theorie” gar nicht schätzte. Ernst sagte, dass aus der negativen Verstärkung (das und das will ich nicht) nicht folge, was ich wollen soll. B. Skinner postuliert Kontingenzen. Wenn ich ein Kontingent mit 5 Optionen habe und 4 nicht will, weiss ich, was ich tun muss. So ist Walden von B. Skinner gestrickt.
ohhh ... ich bin wieder nicht nur ganz kurz Zwinkerndes Smiley
Herzlich
Rolf

Lieber Rolf
Und wieder ganz kurz.
Ich sehe den wesentlichen Unterschied in Deiner Argumentation nicht. Skinner sagt ja auch - und das explizit -, dass er mit Autonomie und Freiheit nichts erklären kann. Und wie Du "nur" in dieser Hinsicht problematisiert er Autonomie und Freiheit. Und wenn Du Erklärungen machst, die es dann gibt, machst Du Erklärungen zu etwas. Dieses Etwas sehe ich bei Skinner als steuerbares Verhalten. Hier beginnt dann der für mich der Unterschied, indem ich bei Skinner das gegenstandsbedeutende Instrumentarium nicht ausmachen kann, um das steuerbare Verhalten im konstruktiven Sinn zu erklären. Und in dieser Hinsicht weiss ich nicht, was für ihn Erklärungen sind. Bisher glaube ich, nur sein Programm verstanden zu haben, aber nicht, was damit erreicht werden kann.
Und ja, ich habe Skinners Walden Zwei vor langer Zeit gelesen und stelle mir vor, dass ich es heute ganz anders lesen würde.
Herzlich
Röbi

Lieber Rolf
Ein Detail, das mich nicht in Ruhe gelassen hat:
Du scheibst, dass Ernst gesagt habe "dass aus der negativen Verstärkung (das und das will ich nicht) nicht folge, was ich wollen soll." Ich lese das bei Skinner nicht so. Negative Verstärkung bedeutet, Entfernung eines aversiven Stimulus, was wie bei der positiven Verstärkung, das die Darbietung eines positiven Stimulus bedeutet, zu einer Erhöhung der Verhaltenswahrscheinlichkeit des intendierten Verhaltens führt. Skinner unterscheidet Verstärker und Verstärkung. Verstärkung ist der Prozess des Darbietens oder Weglassens eines Reizes und beides führt zu einer Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des intendierten Verhaltens. Ein Verstärker hingegen kann positiv (angenehmer Stimulus) oder negativ (unangenehmer Stimulus) sein. Die Anwendung der Verstärker scheint mir kompliziert, die Verstärkung nicht.
Herzlich
Röbi

Lieber Röbi
nur ganz kurz Zwinkerndes Smiley: Ich lese bei B. Skinner, dass er ein jeweiliges Verhalten durch Verstärkungen erklärt. Das ist zunächst ein sehr anderer Erklärungsbegriff als ich ihn verwende. Insbesondere scheint mir, dass er auch meine Unterscheidung etwas mir oder etwas anderen zu erklären nicht macht – oder nicht explizit macht. Ich sehe damit einen grossen Unterschied, den Du nicht siehst.
Ich nehme Walden II genau als das, was durch das “Programm” von B. Skinner erreicht werden soll/kann. Er spricht explizit von Sozialtechnologie, ein recht seltsames Wort, mit welchem er in meiner Leseweise die Differenz zur Verhaltens-Wissenschaft bezeichnet.
Der Anspruch ist, derartige wissenschaftliche Ergebnisse zu produzieren, die als “Werkzeuge” in der Praxis eingesetzt werden können. Diese Sprache macht für mich Sinn, wenn ich Technik und Wissenschaft in einem konventionellen Sinn unterscheide: Forschende Ingenieuere machen keine Wissenschaft, sondern anwendbare Technik.
In Walden II zeigt. B. Skinner, wie seine Resultate zu verstehen sind, also welche Verstärker eingerichtet werden sollten. Der einzige Verstärker, den ich in Walden III zeige, ist der Verzicht auf Lohnarbeit, während B. Skinner eine ganz Palette vorführt.
Herzlich
Rolf

Lieber Röbi
danke, das lässt mich jetzt auch nicht mehr in Ruhe.
Deine Unterscheidung zwischen Verstärker und Verstärkung lese ich vorerst praktisch in Bezug auf Walden. Wenn ich Verstärkung (und all die Arten operanter Konditionierung) so wie Schwerkraft voraussetze, kann ich mir praktisch-politsch überlegen, welche Verstärker “eingerichtet” werden sollten.
Verstärkung wäre dann ein wissenschaftliches Konzept, das im Labor untersucht und quasi-falsifiziert werden kann.
Verstärker dagegen wären praktische Einrichtungen, die etwas verstärken - so wie der Verstärker Radiosignale verstärkt, um eine ganz unkomplizierte Anwendung zu nennen.
Ich erkenne aber jetzt, dass ich nicht recht weiss, was ich in Walden III relativ zu diesem Unterschied eigentlich beschreibe, ich bin jetzt auch in Unruhe ..
Herzlich
Rolf