Thesenpapier von Dietmar Hennig
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Dietmar Hennig
Thesenpapier zu AG3: SEHEN – GEHEN – VERSTEHEN
Vorbemerkung:
Nachdem ich seit einigen Jahren in dieser Welt verweile, habe ich eine Menge gesehen, bin etliche (Um-)Wege gegangen und habe nicht immer alles verstanden. Will heißen, dass ich erstens nicht alles sehe, was es zu sehen gibt. Kein Nachteil, weil mich nicht alles interessieren muss. Weiter kann ich nicht alles verstehen, was ich sehe (wahrnehme).
Die Wahrnehmungsprozesse verlaufen in engen Grenzen: Das Gesehene muss thematisch mein Interesse wecken. Es muss für mich ansprechend präsentiert sein und die Wege, die ich gehen muss um ein tieferes Verständnis zu erlangen, müssen mir genehm sein.
Mein Wahrnehmungsprozess wird von mir also mit einem hohen Maß an Bewußtsein gesteuert.
Gehen ist das Bindeglied zwischen Sehen und Verstehen, Verstehen steuert das Sehen
Sehen setzt den richtigen Abstand zur wahrgenommenen Struktur voraus. Aus zu großer Entfernung erkenne ich die erforderlichen Details nicht – zu dicht am Objekt erkenne ich seine Einbettung und die möglichen Relationen zu anderen Objekten nicht. Ich sehe jedesmal etwas anderes.
Daraus folgt Gehen beeinflusst ganz entscheidend das Verstehen des betrachteten Objekts. Gehen ist eine Metapher für Fokussieren.
Ein Objekt kann sich mir auch nähern. Damit ist dann meine Wahrnehmung der Willkür Dritter ausgesetzt. Hierzu gehört z.B. die Werbung im Internet bei der Nutzung kostenfreier Seiten.
Der Zyklus der Wissensgewinnung:
- Sehen liefert Erkenntnis und leitet das Verstehen ein oder verhindert es. Mit dem kognitiven Prozess „Einleiten von Verstehen“ sind wir hinlänglich vertraut. Wie läuft das Verhindern ab? Oft schauen wir nicht ausreichend genau hin, um einen Nutzen in der Fokussierung zu erkennen.
Ein Beispiel: Aus Angst, die durch ein erstes Hinsehen auslöst wird, schauen wir nicht mehr genau hin, sondern laufen weg. Auf Grund der Täuschung, die im ersten Augenblick entstanden ist, verhindern wir durch unser Weglaufen, dass wir das richtige Verständnis erlangen können.
Beim Waldspaziergang sehen wir einen Ast in ein paar Metern Entfernung vor uns liegen, der einer Schlange täuschend ähnlich sieht. Um Verstehen nicht zu verhindern müssen wir uns hier vorsichtig dem Ast nähern, bis wir erkennen, dass von diesem keine Gefahr ausgeht. Andernfalls nehmen wir einen Umweg in Kauf um dem Hindernis auszuweichen.
Angst ist also einer von vielen Faktoren, die Verstehen verhindern können. Faktoren, die Verstehen verhindern, lassen sich systematisieren nach unterschiedlichen Kriterien, wie bewusst – unbewusst gesteuert, von außen – von innen angestoßen, ….
Dieser Punkt ist in der Arbeitsgruppe zu vertiefen.
- Gehen erfordert eine Orientierung und eine Richtung im Bewegungsraum. Wo bin ich? Wo will ich hin? Wo war ich gerade eben noch? Weiter setzt Gehen eine Motivation voraus, die Absicht einen bestimmten Nutzen zu erzielen oder ein Ziel zu erreichen. Bewegung verläuft nicht geradlinig oder entlang bekannter bzw. unbekannter Pfade. Die Beziehung zwischen Bewegungsrichtung und Motivation ist vielschichtig und nicht immer einfach herzuleiten. So umkreist (=gehen) ein Hund seinem Lagerplatz bevor er sich dort hinlegt. Damit überprüft er die Sicherheit des Lagerplatzes. Allein aus seinem Gehen ist dies nur zu abzuleiten, wenn es im richtigen Kontext eingeordnet wird. Gehen als Bindeglied zwischen Sehen und Verstehen wird in unserer Arbeitsgruppe einen Schwerpunkt bilden, da hier die kognitiven Prozesse unseres Wahrnehmungs- und Handlungszyklus sichtbar werden.
- Verstehen resultiert aus dem Abgleich von Wahrgenommenen mit Bekanntem und steht für Wissensgewinn. Mit jedem Verstehen wächst der Erfahrungshintergrund und in Folge dessen, die Zahl der verfügbaren Verhaltens- und Handlungsmuster, denen allen gemeinsam ist, das sie durch Sehen ausgelöst oder abgerufen werden. Auf Verstehen wie Nichtverstehen folgt immer ein Sehen.
Die drei Schritte Sehen, Gehen und Verstehen bilden den Zyklus der Wissensgewinnung, wie Rainer Groh in seiner Einladung zur Arbeitsgruppe schreibt.
Der kognitive Prozess der Wissensgewinnung ist eindeutig mit der Zeit verknüpft. Wiederkehrende Verhaltensweisen (Rituale?) werden vom Nutzer angestoßen und vom Netz verfolgt und unterstützt.
In der Arbeitsgruppe
möchte ich ein gemeinsames Verständnis über die relevanten kognitiven Prozesse erarbeiten. Zentrales Element ist ein Wahrnehmungs- und Handlungszyklus, der die Wissensgewinnung als Folge der Interaktion zwischen Mensch und IT-System beschreibt.
Seine Tauglichkeit können wir an Hand von vielen offenen Fragen erörtern, die sich auf die Metapher vom Gehen beziehen. Dabei werden wir sicher auf viele bekannte Antworten stossen und gleichzeitig neue Aspekte entdecken.
- Wo nutzt mir die Metapher vom Sehen, Gehen und Verstehen mich besser im Netz zu bewegen?
- Was ist die passive Form von Gehen? Kommen, kommen lassen?
- Welche Muster beeinflussen mein Gehen?
- Welche Absichten motivieren mich zum Gehen?
- Wie müssen die Beziehungen zwischen Inhalten im Netz gestaltet sein, damit mir mein Gehen nutzt?
- Reichen die bekannten Gestaltungselemente? Sind es etwa zu viele? Sollten wir hier nicht besser von Präsentationsmustern reden?
- Wer darf die Beziehungen und die Inhalte gestalten?
- Gibt es eine Ethik, die der Gestaltung von Beziehungen und Inhalten im Netz zu Grunde liegt?
- Wo beeinflusst das Wissen um die Verfolgung meiner Interaktion durch Dritte mein Verhalten?
- Wie gestaltet sich soziale Interaktion via IT? Wo muss ich hin gehen, um eine gesuchte Person zu finden?
- In welchen Situationen ist es notwendig, dass sich das Netz meinen Weg merkt, damit ich davon profitieren kann, damit Dritte davon profitieren können? Wer darf überhaupt meine Spur verfolgen?
- Gibt es weitere Metaphern, die uns helfen können die Interaktion mit IT-Systemen besser zu verstehen oder gar besser zu vermitteln?
München, im Oktober 2011