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Aus Mmktagung
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Weisheit des Augenblicks

Echtzeitabhängigkeiten von Entscheidungsprozessen

Sabine Graeser und Rainer Groh

Ich muss mich entscheiden! Was soll ich schreiben? Es wirrt in meinem Kopf. Welchen thematischen Schwerpunkt setzen auf der Spur von Echtzeitabhängigkeiten und Entscheidungsprozessen? Wann klicke ich wann wo und wie viel?'

Wenn man die Schlagworte des Themas unserer AG »googelt«, dann bemerkt man, dass über »Echtzeit« und »Entscheidungsprozess«  vielfach nachgedacht und entsprechend umfänglich veröffentlicht wird. Die Verknüpfung der Begriffe wird in den Bereichen Logistik und Fertigungsprozesssteuerung diskutiert. Es geht um die Beschleunigung der Entscheidungsprozesse bei konstanter Güte und Präzision der Entscheidungen. Den Nutzer stellt man sich hier als klassischen Bildschirmarbeiter vor: Er sitzt »vor« der GUI, befindet sich also außerhalb des Bildraumes und er interagiert zeitlich entkoppelt. Das heißt, ihm wird vom technischen System kein Zeitregime oktroyiert.

Ich entscheide mich Wann ist eine Entscheidung eine Entscheidung? Kaffee oder Tee? Kaffee trinken? Kaffee trinken mit Milch? Kaffee trinken mit Zucker? Kaffee mit Milchschäumchen? Milchkaffee? Nein, dann lieber Tee!

Im Rahmen der AG soll einer Frage nachgegangen werden, die bislang nicht aufgeworfen wird: Welche Bild- und Interaktionsstrukturen sind dann entscheidungsförderlich, wenn der Nutzer (der Entscheider) quasi im Strom der entscheidungsrelevanten Informationen steht, die ihm per GUI (Webservices, Browser, RSS-Feeds, ...) dynamisch (in Echtzeit) präsentiert werden? Im Bereich der Computerspiele gibt es diesen Nutzertyp schon lange: als Egoshooter oder Rennfahrer. Und es gibt ihn als Besucher einer CAVE, also einer virtuellen Umgebung. Man kennt die Situation auch ansatzweise als sogenannter Informationworker vom Googeln her: Die Echtzeitreaktion schneller Netze lässt die Trefferlisten so schnell erscheinen, dass man glaubt, sie kämen einem entgegen. Die Klickfrequenz steigt. Der Nutzer ist erschöpft ob einer Komplexität, die als nicht beherrschbar erscheint. Das Chaos wächst und Rauschen ist das Ergebnis.

Schaut man jedoch jungen Leuten bei der Arbeit zu, dann fällt auf, dass diese so gar kein Problem mit der von traditioneller Warte aus beobachteten Unschärfe haben. Sie surfen leichthin – wie es metaphorisch heißt – auf den Trefferwellen der Suchmaschinen. Zurück also zur Frage: Welche visuellen Merkmale stützen diese Beobachtung? Welche Phänomene erzeugen diesen Eindruck? Am Ende wird die Frage zu beantworten sein, ob diese Merkmale eine neue Qualität des Retrievals und der Erkenntnis begründen.

Das Medium Internet beeinflusst das Wahrnehmen und das Entscheidungsverhalten der Menschen an ihren Maschinen. Da gibt es Menschen, die im Umgang in der wwWelt schnell entscheiden und eine rasche Auffassungsgabe von Informationen haben. Andererseits tun sie sich aber schwer Entscheidungen in Ihrem Alltag zu treffen? Kaffee oder Tee? Alleine wohnen oder in eine Wohngemeinschaft ziehen? Das NZZ Folio Ausgabe vom März 2009 beschreibt 10 Tipps - Wenn entscheiden, dann: 1. Keine Angst vor den Folgen 2. Misstrauen Sie ihrem Urteil 3. Hüten Sie sich vor bedeutungsloser Information 4. Trauern Sie nicht Verlusten nach 5. Vertrauen Sie Ihren Instinkten 6. Achten Sie auf Ihre Gefühle 7. Entziehen Sie sich dem Gruppendruck 8. Betrachten Sie die Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven 9. Begrenzen Sie ihre Auswahl 10. Lassen Sie andere für sich entscheiden Wie beeinflussen die Entscheidungsmuster die Arbeit an Maschinen? Wie nehmen Menschen Informationen auf und verarbeiten diese? Der Lernstiltest nach Kolb unterscheidet auf welche Art Menschen Informationen aufnehmen und verarbeiten. Es wird zwischen 4 Lernstilen unterschieden: Entdecker, Macher, Denker und Entscheider. Beeinflusst diese Präferenz das Verhalten?

Kommen wir noch einmal zum Googeln als dem Präzedenzfall zurück: Die Ergebnisse tauchen schnell und im Zuge des Interaktionsprozesses unmittelbar auf. Man kann von instanten Anzeigen sprechen. Darauf beruht ein weiteres Merkmal: Die Anzeigen, die »Schlag auf Schlag« (durch Klicken und Scrollen) wechseln, lassen die Treffer als gleichzeitig erscheinen. Sie werden alle im nur wenige Sekunden umfassenden Bereich des visuellen Kurzzeitgedächtnisses gespeichert. Sie sind also gegenwärtig. Im Unterschied zum sukzessiven Durcharbeiten eines Buches oder eines Verzeichnisses unterliegen beim Googeln die angezeigten Informationen damit einer ganz anderen Erscheinungsweise. Gleichzeitigkeit bildet wiederum die Basis von Vergleichbarkeit. Der Vorwärts-Rückwärts-Button im linken oberen Eck des Browserfensters stützt diese Wahrnehmung von Gleichzeitigkeit. Mit der Chronik kann der Stapel der Trefferseiten immer neu gemischt werden. Die Treffer können so um die Aufmerksamkeit des Betrachters quasi konkurrieren.

Für unsere Betrachtungen könnte auch ein Ausflug ins Kino sinnvoll sein: Vom Kino her weiß man, dass erst der Schnitt im Film das Erzählen möglich macht. Rückblenden, dramatische Konvergenzen und Parallelsichten werden begreifbar. (vgl. WINKLER, 1992) Obwohl der Schnitt als solcher ein Echtzeitelement ist, wird erst durch ihn die messbare Zeit zur Erzählzeit. Hinzu kommt, dass der schnelle Schnitt den nachlaufenden filmischen Raum für einen Moment verflachen lässt. Es mag der Bezug der letzten Aussage zum Googeln befremdlich erscheinen, doch besitzt das Durchklicken der Seiten letztlich Merkmale des Schneidens. Auch scheint eine Neubestimmung des Wertes der Fläche notwendig. Flächigkeit ist für den an Printerzeugnisse (Texte und Karten) und planare Projektionen gewöhnten Menschen der optimale Weg, Relationen und Vernetzungen darzustellen. Nach wie vor müssen nahezu alle informellen Räume »durch die Fläche«. Sie ist die zentrale Kommunikationsform, so sehr auch die Entwerfer von 3D-Visualisierungen auf Powerwalls und in der CAVE die Fläche für begrenzt erklären. Jedoch sperrt sich die Fläche gegen die Echtzeitinteraktion. Sie (in aller Ruhe) will gelesen werden. Oder kann sie doch »diagonal« gleichermaßen gut erfasst werden? Fläche (Zeitunabhängigkeit) und Tiefe (Zeitabhängigkeit) scheinen die polaren (klassischen) Möglichkeiten der Strukturierung interaktiver Strukturen zu sein. Beide binden eigene Kulturtechniken (Lesen vs. Zielen, Operieren vs. Orientieren). Können die Gegensätze verbunden werden? Brauchen wir den lesenden Rennfahrer? Hatte Odysseus – Skylla und Charybdis meidend – schon das richtige Rezept? Wie viel Erkenntnis ist augenblicklich möglich?

Produktentwicklungen in der WWWELT finden statt in interdisziplinären Arbeitsgruppen. „In vielen Situationen sind spontan getroffene Bauchentscheidungen unserer Ratio überlegen!“ Malcom Gladwell (Autor von BLINK) meint dazu: „Denken ohne zu denken“. Oftmals gelangen wir gar nicht durch bewusste Anstrengung unserer grauen Zellen zum richtigen Schluss. Statt grübeln, bis der Kopf raucht, liegt die Lösung häufig ganz nah. Je komplizierter eine Entscheidung ist, desto weniger nutzt langes Nachdenken. Gerhard Roth (Hirnforscher) empfiehlt: 1. Sachlage rational überdenken 2. Entschluss aufschieben 3. Zum Schluss dem Gefühl folgen Wie und was beeinflusst den Entscheidungsprozess in Teams? Wie lassen sich Entscheidungen synchronisieren? Die Arbeit in der Arbeitsgruppe (AG). Die AG wird zu einem Entscheidungslabor. Gemeinsam möchten wir u. A. dem Nutzerverhalten im Umgang mit der Maschine auf den Grund gehen. Mit dem Medium Video möchten wir arbeiten. Wie im Film können wir Echtzeitzustände simulieren und gestalten resp. sichtbar machen. Daraus erwünschen wir uns wesentliche Erkenntnisse von Echtzeitabhängigkeiten in Entscheidungsprozessen zu erarbeiten.

Anmelden, kommen und mitmachen? Kopf oder Bauch? Logik oder Intuition?

Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit und das Wiedersehen! Rainer Groh und Sabine Graeser



Quellen NZZ Folio, Ausgabe März 2009 Gehirn und Geist, Ausgabe November 2007 Maja Storch, Das Geheimnis kluger Entscheidungen, Mosaik bei Goldmann Gerd Gigerenzer, Bauchentscheidungen (goldmann) Malcolm Gladwell, Blink die Macht des Moments (piper) Heike Klippel, Gedächtnis und Kino, nexus 39 Gerhard Roth, Aus der Sicht des Gehirns, suhrkamp