AG3: Die Kraft der Sprache: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 18. September 2009, 07:54 Uhr

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Die Kraft der Sprache


Diskussionspapier zur MMK 2009 von Erhard Nullmeier

Vorbemerkungen: Ich bin bei diesem Thema – wie wohl die meisten der MMK-Teilnehmer ein Laie, habe eher unsystematisch dies und das gelesen sowie dies und das gedacht. Die damit verbundene Zu¬fälligkeiten und vor allem die Lücken in der Argumentation können und sollen zu kreativen Diskussio¬nen anregen., Irritationen sind ja ein beliebtes Erkenntnismittel bei der MMK. Ich werde versuchen, das „weite Feld“ Sprache unter dem Blickwinkel zu sehen, dass eine Maschine (was immer das sei) beteiligt (was immer beteiligt sein mag) ist. „Weites Feld“ werden manche als einen sonderbaren Ausdruck, andere als Zitat zu Theodor Fontane und/oder Günter Grass sehen; einen Eigenschaft von Sprache scheint es zu sein, unterschiedliche Interpretationen und Assoziationen zuzulassen.

1. Wozu dient Sprache?
Sprache dient der zwischenmenschlichen Kommunikation, aber auch dem menschlichen Denken. An¬weisungen/Anfragen an Maschinen können auch sprachliche Form annehmen, ebenso Ausgaben von Maschinen. Zu unterscheiden ist auf einer MMK-Tagung, ob Sprache der zwischenmenschlichen Kommunikation dienen soll oder aber einer Maschine eine Anweisung (im Sonderfall eine Anfrage, die zu beantworten ist) gegeben werden soll.
Ist die Maschine nur ein Medium zur Speicherung und Übermittlung sprachlicher Äußerungen, so dient dies der Kommunikation zwischen Menschen, kann aber durch die Art der Speicherung (wie bei allen anderen Speichern auch) und Übermittlung zu Informationsverlusten und -verfälschungen führen. Diese Verluste werden meist negativ gesehen (vgl, media richness theory), können aber auch helfen, Missverständnisse zu vermeiden. Darauf haben mich Studierende in einer interkulturell gemischten Gruppe hingewiesen: viele Missverständnisse entstehen durch nichtsprachliche und metasprachliche Formen der Kommunikation wie beispielsweise Gesten und Betonungen.
Bei der sprachlichen Anweisung (bzw. Anfrage) an eine Maschine entfallen nichtsprachliche und me¬tasprachliche Elemente, der Tastendruck, mit dem ich dies schreibe und meine Sitzhaltung werden vom Computer nicht erfasst und stehendem Leser dieses Textes nicht zur Verfügung. Zusätzlich han¬delt es sich bei der Sprachkommunikation über Computer (wie auch vermittels anderer Speichermedi¬en) um eine asynchrone, d.h. zeitversetzte Kommunikation. Durch das Speicher- und Übertragungsme¬dium und u.U. den Entwickler ist festgelegt, welche (z.B. sprachlichen) Zeichen für die Kommunika¬tion zugelassen sind.


2. Mensch-Mensch-Kommunikation durch Sprache
Zunächst werde ich auf sprachliche Kommunikation eingehen. Bei Wolfgang Engler habe ich Zweifel aus uralter Zeit hinsichtlich der Eignung von Sprache zur Kommunikation gefunden: „Der Zweifel an der Brauchbarkeit der menschlichen Sprache für Verständigungszwecke ist alt…. Ausgangs des 5. vor¬christlichen Jahrhunderts zieht Gorgias ein erstes Resümee: Angenommen, es gibt ein Seiendes (das es nicht gibt) und dieses Seiende wäre erkennbar (was es nicht ist), so ließe sich diese Erkenntnis den Mitmenschen gleichwohl nicht adäquat vermitteln. Denn erstens erlischt im Wort die lebendige Vor¬stellung der Dinge. Wie könnte das (Ding) dem deutlich werden, der es gehört, aber nicht gesehen hat? Denn gerade wie das Auge nicht die Töne wahrnimmt, so hört auch das Gehör keine Farben, sondern Töne. Und es spricht der Sprechende (Worte), aber keine Farbe und überhaupt kein Ding. Wovon jemand (überhaupt) keine Vorstellung hat, wie könnte er das von einem anderen vermittels ei¬nes Wortes oder irgendeines Zeichens, das doch von dem Dinge selbst verschieden ist, geistig aufneh¬men?“(zitiert nach Wolfgang Engler, S .61)
Nach diesem Zitat setzt sprachliche Kommunikation gemeinsame Weltenkenntnis, gemeinsame Erfah¬rungen (die es streng genommen beide nicht gibt) voraus . Eine besondere Kenntnis bzw. Erfahrung ist das Kennen des- bzw. derjenigen, mit dem/der man kommuniziert. Da beides an die menschliche Existenz, sein Dasein, gebunden ist, kann eine Maschine in diesem Sinne nicht kommunizieren (vor Jahren wurde für diese simple Erkenntnis Heidegger herangezogen).

Was könnte nach dieser skeptischen Einschätzung die „Kraft“ der Sprache ausmachen? Schon durch den Titel des Buches von Wolfgang Engler, „Lüge als Prinzip“, kommt einer bestimmten Sicht von Sprache einen besondere Bedeutung zu: „Sprache verbirgt die Welt hinter einem Schleier von Symbo¬len“ (S. 70). „Sprache und Schrift lenkten das Denken vom Wesen der Dinge ab und sabotierten die Verständigung der Menschen über sich und die Welt“ (S. 73). Je unterschiedlicher die Weltenkenntnis zwischen dem Sprecher und dem Hörer ist, desto leichter kann Sprache zur Manipulation missbraucht (gebracht) werden. Ich will auf weitere Zitate verzichten, aber Sprache hat eben auch die Funktion, einen Schein aufzubauen, Verstellungen, Lügen usw. zu ermöglichen. Da zur Zeit gerade „Wahl-kampf“ ist, ist auch eine sprachliche, wortreiche „Nicht-Aussage“ ein Indiz für die Kraft der Sprache? Ist es die Kraft einer Sprache, die solches ermöglicht und unterstützt?


3. Intentionen und Sprache
Julian Nida-Rümelin (JNR) hat in „Die Grenzen der Sprache“ (schon der Titel reizt hinsichtlich des Themas dieser Arbeitsgruppe) konstatiert, „dass Außersprachliches für Sprachliches konstitutiv ist, genauer, dass der Intentionalität ein logisches und genetisches Prius gegenüber der Sprache zu-kommt“. Intentionen lassen sich sowohl durch Sprache als auch durch Außersprachliches ausdrücken. Außersprachlich sind alle Verhaltensweisen während (und auch vor) der sprachlichen Kommunikation, beispielsweise Gesten, Körperhaltung, Blicke. Dazu kommen noch metasprachliche Verhaltensweisen wie Betonung, Lautstärke usw.
„In letzter Instanz sind es die Intentionen, die einen Ausschnitt des Verhaltens zu etwas Sprachlichem machen, die es erlauben, diesen Ausschnitt als Teil eines Verständigungsprozesses zu interpretieren.“ JNR vertritt diesen Ansatz als Gegenpol zu „radikalen Varianten des Lingualismus“, die meinen, Sprache „bedarf keiner Interpretation, sie repräsentiert nichts, weder Äußeres noch Inneres, sie nimmt keinen Bezug auf nicht-sprachliche Gegenstände und Intentionen spielen keine Rolle“. Diese Haltung erinnert an Diskussionen zwischen Hilbert und Brouwer über Zusammenhänge zwischen Mathematik und realer Welt (vgl. Bettina Heintz: Die Innenwelt der Mathematik). Zurück zu JNR: Die „über gemeinsames Wissen interpersonell verkoppelte spezifische Intentionalität ist für Kommunikation konstitutiv (Hervorhebungen von JNR). Unter der Überschrift „Die Grenzen der Sprache sind nicht die Grenzen der Welt“ schreibt JNR „Die Grenzen der Sprache lassen sich durch einen Begriff charakterisieren, es ist der der Intentionalität. Intentionalität ist fundamentaler als Bedeutung: Intentionalität hat das logische Prius. ...Die Verfügbarkeit von Sprache (und ihrer normativ verfassten Institutionen) erweitert das Spektrum unterschiedlicher kommunikativer Akte, es reichert die im menschlichen Handeln verfügbare Intentionalität an.“ .Obwohl bei JNR die direkte, zeit- und ortsgleiche Kommunikation im Fokus zu stehen scheint, sind die Bedeutung von Intentionen und auch des gemeinsamen Wissens auch für andere Kommunikationsformen relevant.

Intentionen können vielfältig sein und auch vielfältig ausgedrückt werden: Paul Watzlawick u.a. betonen, dass jede menschliche, also auch die sprachliche, Kommunikation einen Inhalts.- und einen Beziehungsaspekt hat. Ist damit das Gleiche gemeint, was JNR mit Intentionalität bezeichnet? Der Beziehungsaspekt kann und sollte weit aufgefasst werden. Meine schwerhörige Tante beispielsweise redet viel, um nicht zuhören zu müssen.- die Inhalte ihrer Äußerungen müssen nur die Funktion erfüllen, dass niemand nachfragt. Ein weiteres Beispiel nennt Monika Maron: „Manchmal frage ich nach einer Straße oder der Zeit, nur um sprechen zu kön¬nen“ (1981, S. 15). In weitestem Sinne ist die Kopplung Sprache-Intention sicher zutreffend, die Intention hat aber u.U. nichts mit dem Gesagten zu tun; siehe auch Wahlkampfäußerungen. Im Beispiel von Monika Maron fällt es auch schwer, einen Beziehungsaspekt als Intention i.S. von Paul Watzlawick u.a. auszumachen; Intention – wohl eher Motivation - ist hier das eigene Wohlbefinden. Ausdrucksmittel für Intentionen sind neben sprachlichen Äußerungen auch das nonverbales Verhalten, die sprachliche Ausdrucksweise usw.

Wenn von den „Grenzen der Sprache“ die Rede ist, kann die „Kraft der Sprache“ über die Menge, Vollständigkeit, Konsistenz ausdrückbarer Intentionen „gemessen“ werden?


4. Sprache als Handlung?
Sprache ist Handlung und soll Handlungen beim Adressaten bewirken. Sprachliche Äußerungen sind insofern Handlungen im Gegensatz zu bloßem Verhalten, als mit ihnen Intentionen verbunden sind. Bezieht man Handlung auf den Gebrauch der Hände, ist zumindest die gesprochene Sprache vorder-gründig keine Handlung; Sprechen hat aber, verbunden mit Gesten, einen Handlungscharakter, Psy-chologen nennen dies „Sprachhandlungen“. Arbeits- und andere Psychologen (wie Leontjew) haben auf die Bedeutung der Gegenständlichkeit des Handelns hingewiesen. Ein weiterer wichtiger Aspekt des gegenständli¬chen Handelns ist die direkte Rückkopplung - man sieht, was man getan hat . Die getane sprachliche Äußerung hört man zwar auch, aber das „getan hat“ bezieht sich auf eine Veränderung (in) der Welt – ob meine Rede etwas bewirkt hat, sehe bzw. höre.ich nicht immer. Trotzdem, es könnte hilfreich sein, Sprach“handlungen“ (vgl. JNR) zu betrachten; vielleicht lassen sich Teile einer Handlungstheorie auf diese Form von Handlungen anwenden.

„Äußerungen sind Handlungen oder sie haben keine Bedeutung“ (JNR).Damit eine Handlung Träger von Bedeutung ist, sind spezifische Intentionen erforderlich. Nehmen wir das Beispiel einer informativen Mitteilung. Eine „Person äußert etwas in der motivierenden Absicht, damit dem Adressaten Grund für die Überzeugung zu geben, dass etwas der Fall ist“ (JNR). Beim Sender liegt eine Sprachhandlung vor, beim Adressaten würde ich nicht davon sprechen. Wenn eine „veränderte Überzeugung beim Adressaten“ schon „bewirken Handlungen beim Adressaten“ bedeuten soll, könnte ich dem zustimmen, eine Bewusstseinsänderung beim Adressaten ist für mich aber noch keine Handlung. Auch JNR merkt an, .dass sprachliche Äußerungen nicht zwangsweise Handlungen beim Adressaten hervorrufen.
Interessant für uns (MMK) könnte es sein, dass wir immer dann, wenn wir mit Maschinen „kommunizieren“, eine „Handlung“ der Maschine erwarten. Da der Begriff „Handlung“ mit Intentionen verknüpft ist, sollten wir bei Maschinen eher von Zustandsänderungen, nach JNR auch Verhalten, sprechen.

5. Kommunikation durch „gespeicherte“ Sprache

Intentionen können in „face-to-face“-Situationen durch Handlungen ausgedrückt werden. Wie aber sieht es bei zeitversetzten Kommunikationsformen aus?
Zu unterscheiden ist, ob es sich um „flüchtige“ oder „dokumentierte“ Sprache handelt. Flüchtig soll bedeuten, dass zwischen zwei oder mehr Personen sprachliche Kommunikation stattfindet, die nur im Augenblick da ist. Damit können alle Anforderungen von Watzlawick u.a. und auch JNR erfüllt werden. Neben der FTF-Kommunikation kommt auch ein Telefongespräch in Frage. Ein Sonderfall liegt bei Überwachungssystemen vor: die Kommunikation der direkt Beteiligten ist meist flüchtig, die spätere Nutzung der Überwacher beruht auf der Dokumentation.
Wir sollten uns auf einer MMK-Tagung auf die Besonderheiten dokumentierter Sprache beschränken; damit ist auch die „digitale Dichtung“ (der ursprüngliche Untertitel der Arbeitsgruppe) eingeschlossen. Eine nächste Unterscheidung bzw. Eingrenzung liegt darin, ob es sich um frei formulierte oder vor-formulierte sprachliche Äußerungen handelt. Unter Menschen ist die freie Formulierung üblich, der Empfänger muss interpretieren, was der Sender „sagen wollte“. In Fach-Kommunikationen (beispielsweise der Juristerei) ist der freie Sprachgebrauch schon eingeschränkt, weil sich bestimmte sprachliche Ausdrücke unter Juristen eingebürgert haben.
Ein- und Ausgaben beziehen sich auf (visuell erkennbare) Zeichen oder auf Laute. Schon Gorgias unterscheidet (wiederum nach Wolfgang Engler) zwischen der Schriftsprache, die Zeichen verwendet, und gesprochene Sprache, die Laute verwendet. Er meint, dass bei beiden etwas Verschiedenes im Vergleich zum Seienden (die Dinge, Farben usw.) verloren geht. Schriftsprache ist immer gespeicherte Sprache, gesprochene Sprache war früher flüchtig, nur im Augenblick des Sprechens existent, kann heute aber ebenso gespeichert werden. Schriftsprachen sind uralt, gespeichert auf Steintafeln, Papyrus, Papier, Disketten, USB-Sticks usw. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich die Möglichkeiten, Schriftsprache technisch zu reproduzieren, zu speichern und an andere weiterzuleiten, ständig verbessert.
In diesem Sinne ist ein Computer (als eine Maschine) ein Speicher – der Mensch bekommt die sprach¬lichen Äußerungen zu lesen bzw. zu hören, wie sie vom Computer ausgegeben werden, er allein in¬terpretiert Sprache. Der Computer muss die Eingaben des Menschen (Tastendrücke, Mausklicks, Sprache) „interpretieren“, in dem er sie einer gespeicherten Alternative zuweist.,die Zeichen müssen im Computerspeicher darstellbar sein (u.U. mit Hilfe von Umcodierungen).
Ist eine Maschine über die Speicher- und Übertragungsfunktion hinaus beteiligt, sind der freien For-mulierung weitere Grenzen gesetzt. Die Maschine (meist der Rechner) versteht nur das, was in ihrem Wortvorrat enthalten ist, d.h. Sie kann nur das in eine Aktion umsetzen. Daher ist die Interaktionstechnik des Auswählens und Anklickens so bequem. Auch Suchmaschinen wie google oder Navigationsgeräte suchen eine gespeicherte Zeichenfolge, sie haben aber auch die vorprogrammierte Möglichkeit, eine ähnliche Zeichenfolge vorzuschlagen: „Meinten Sie XXX?“. Eine Ausnahme könnten lernende Systeme sein, da kenne ich den neuesten Stand nicht.
Bei der MMK ist noch zwischen Ein- und Ausgaben zu unterscheiden (bei menschlicher Kommunika¬tion ist das schwerer, siehe das 5. Axiom von Watzlawick, in dem der Rückkopplungschararkter von Kommunikationsprozessen betont wird. Der Mensch als Benutzer muss eine Einga¬be tätigen, die der Rechner „versteht“ bzw. die Rechnerausgabe selbst verstehen (richtig interpretieren). Der Mensch als Entwickler muss festlegen, welche Eingaben zulässig sind und wie sie interpretiert werden sowie welche Ausgaben möglich sind. Die Freiheit der Sprache wird durch den Entwickler eingeschränkt.
Frieder Nake unterscheidet beim Interpretanten von Zeichen den Menschen mit seiner intentionalen Seite und den Computer (als Modell einer Maschine) mit einer kausalen Seite.
„Die Interpretation, die ein Mensch einem Software-Element oder -Ereignis zukommen lässt, ist von vollständig anderer Art als jene Interpretation, die ein Computer zum gleichen Zeit punkt und aus gleichem Anlaß leistet. Ihm geht es so wie jeder anderen Maschine auch: er kann gar nicht interpretieren, wenn wir unter „Interpretation“ die Zuschreibung einer hand lungsrelevanten Bedeutung verstehen wollen, die der Situation, dem Kontext und dem Interes se eines lebendigen körperlichen Wesens eigen ist. Die Interpretationsleistung eines Computers ist der Grenzfall einer Interpretation: die Ent scheidung für eine Zuschreibung aus einer Menge möglicher Zuschreibungen (intentional) schrumpft zusammen auf die Bestimmung der im allgemeinen Schema vorgesehenen und vor her bestimmten Zuschreibung (kausal). Wie nennen diesen Grenzfall Determination. Interpretation findet durch Herstellen und Auswählen von Kontext statt. Determination findet im Rahmen eines gesetzten und unverrückbaren Kontextes statt, der Berechenbarkeit nämlich. Die Interpretation des Computers ist die präzise und wiederholbare Ausführung einer bere chenbaren Funktion“. (Frieder Nake) Genau das, was wir von einer Maschine erwarten!
Ein schönes Beispiel der Schwierigkeiten, aber auch der Möglichkeiten der menschlichen Sprachinterpretation bei einer Kommunikation (Herausfinden der Intentionen der Autorin) sind Varianten eines Satzes in „Flugasche“ von Monika Maron (zitiert nach v. Thadden, im Roman (Westausgabe) habe ich nur das erste Zitat gefunden):
„B. ist die schmutzigste Stadt Europas.“ „In B. steigt nur aus, wer hier aussteigen muß, wer hier wohnt oder arbeitet oder sonst zu tun hat.“


Die Intention der Aussagen ist die gleiche, der Wortlaut aber sehr verschieden . Eine „richtige“ Interpretation ist dem Leser nur möglich, wenn er „B.“ (mit Bitterfeld) gleichsetzt und die dortigen Verhältnisse Mitte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts kennt. Ein weiteres Beispiel der Abhängigkeit der Interpretation von Sprache (im Sinne der Ermittlung der Intention) von der gemeinsamen Weltenkenntnis ist die Überschrift des Artikels von Elisabeth v. Thadden zum neuen Buch von Monika Maron: „Brüder zur Sonne“. Da heute Bitterfeld eine Standort der Solartechnik ist und dessen Entstehung im Buch geschildert wird, wäre als Erklärung eine Betonung dieses Zusammenhangs naheliegend; der historisch gebildete (oder einfach ältere) Leser wird aber sofort im Geiste ergänzen „... zur Freiheit“ - eine Anspielung auf die DDR-Zeit, als in Bitterfeld von Sonne nur wenig zu sehen war. Die Kraft der Sprache zeigt sich hier in der vielfältigen Bedeutung, wenigstens im Kontext der historischen Situation.
Wie sieht es aber aus, wenn ich etwas lese, beispielsweise ein Gedicht von Goethe, das er vor 200 Jahren geschrieben hat? Sicher hatte Goethe Intentionen, aber sind die in dem Text erhalten geblieben und für mich heute erkennbar? Hat die äußere Form des Schriftstücks, Handschrift, Originaldruck mit damaliger Rechtschreibung,Neuausgabe oder Bildschirmanzeige, einen Einfluss auf das Erkennen der Intentionen? Sind die Intentionen von Goethe (für Nicht-Philologen) überhaupt wichtig? Sind die Ana¬logien, die ich heute beim Lesen des Textes entwickle, nicht viel interessanter? Macht es einen Unter¬schied, ob ich den Text lese oder höre , gar noch vom Autor selbst gelesen (im Falle der Buddenbrooks von Thomas Mann könnte ich seine sprachliche Interpretation mit der von Gert Westphal vergleichen). Sowohl das Medium (Tonträger oder Zeichenträger) als auch der Zeit-, Orts- und Kulturunterschied erschweren das Erkennen der Intentionen des Autors und führen u.U. zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen.
Was macht in diesen Fällen die Kraft der Sprache aus? Intuitiv, dass mir das Gedicht heute noch etwas sagt. Die Vielfalt möglicher Interpretationen, d.h. auch eine gewisse Vagheit, macht es möglich, das Gedicht in gänzlich anderem Kontext zu lesen als dem von Goethe und seiner Zeit. Bei Monika Maron ist der erste Satz „brutal“ eindeutig, der zweite lässt Interpretationsspielräume – je nach Weltenkenntnis des Lesers. Nun bedeutet aber nicht jede Vagheit und jeder Interpretationsspielraum eines Textes, einer sprachlichen Äußerung, eine „kraftvolle“ Sprache!
Zu fragen und zu diskutieren ist, ob die Art der Speicherung, Weiterleitung und Ausgabe die Kommunikation verändert Walter Benjamin würde dies wahrscheinlich so sehen. Was ist in diesem Kontext die „Kraft“ der Sprache?


6. Bildersprache oder natürliche Sprache?
Die sprachliche Mensch-Maschine-Kommunikation zeichnet sich, wie oben dargestellt – durch eine Auswahl aus vorher festgelegten und in der Maschine gespeicherten Zeichenketten (oder akustisch: Lautfolgen) aus. Die Mensch-Mensch-Kommunikation, auch wenn sie über den Umweg gespeicherter Zeichen (oder Laute) geht, durch eine relativ freie, durch die Regeln der Grammatik eingeschränkte Bildung von Sätzen aus ; die verwendeten Worte haben zwar eine vorgegebene Bedeutung, die aber durch den Kontext von Sprecher und Hörer (Sender und Empfänger) variiert wird.
Durch die bekannten grafischen Benutzungsoberflächen (GUIs) werden uns – soweit möglich, d.h mengenmäßig auf dem Bildschirm darstellbar - die möglichen Eingabeoptionen vorgegeben. Bei Suchmaschinen, auch bei Navigationsgeräten ist es nicht möglich, alle potentiell auszuwählenden Zei¬chenketten (hier sprachliche) gleichzeitig auf dem Bildschirm zu zeigen; das Prinzip bleibt aber das Gleiche. Wir können nur das von der Maschine verlangen, was durch die GUI vorgesehen ist . Die auszuwählenden Optionen werden in Form einer Bildersprache dargestellt; damit besteht eine (gewoll¬te) Sprachunabhängigkeit, die Bildersprache soll möglichst weltweit, auch von Kindern und Analpha¬beten, verstanden werden. Auf Sprache im Sinne freier Formulierungen und kontextabhängiger Inter¬pretation – und damit auf die Kraft der Sprache - wird verzichtet.
Im Mensch-Maschine-Dialog bedeutet „Kraft“ der Sprache eher die Vollständigkeit der Sprache in Bezug zu vom Benutzer beabsichtigten Eingaben, die Eindeutigkeit der Reaktion auf die sprachlichen Eingaben, allenfalls die Möglichkeiten zu erkennen, was der Benutzer gemeint haben könnte. Dies bedeutet eine Reduzierung der Möglichkeiten von Sprache. Alles fast diametral zur Kraft der Sprache bei der menschlichen Kommunikation.


Literatur:
Benjamin, W.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2006, Original 1936
Engler, W.: Lüge als Prinzip - Aufrichtigkeit im Kapitalismus, Berlin: Aufbau Verlag 2009
Fetcher, C.: Gigabytes statt Gutenberg – Schöne neue Wissenschaft: Wie das Internet den Prozess der Erkenntnis verändert, Der Tagesspiegel, 14.7.2009,
Maron, M. Flugasche, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 1981
Maron, M.: Bitterfelder Bogen, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 2009
Nake, F.: Das algorithmische Zeichen, GI-Jahrestagung 2001, auch im Internet
Nida-Rümelin, J.: Die Grenzen der Sprache, in: Bubner/Hindrichs (Hrsg.): Von der Logik der Sprache, Stuttgart 2006; auch als Vortragsmanuskript der Hegel-Tagung am 28.5.2006 in Stuttgart im Internet
Thadden, E.v.: Brüder zur Sonne, Die Zeit vom 14. Juli 2009, S. 43
Watzlawick, P., J.H. Beavin, and D.D. Jackson: Menschliche Kommunikation, 10. Aufl., Bern u.a. Verlag Hans Huber 2000, Original 1969