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Rolf Todesco

"Team Teaching" - Eine Verklärung

Gast-Vortrag an Schauspiel Akademie Zürich, 10. Mai 1999


 

Ich will hier praktizieren, was ich Ihnen vorschlage; Sie können es "Team Teaching" nennen - wenn Sie wollen.


1. Die Aufgabe

Ihr Herr Direktor Danzeisen sagte mir zunächst, Sie hätten gerne 10 Kriterien zum TeamTeaching, die Sie bei Ihren Projekten berücksichtigen könn(t)en. Auf meine Nachfrage hin, sagte er, dass sich Ihre Diskussion häufig dahin verlaufe, dass man die Schauspielerei eigentlich nicht lehren könne, was irgendwie wahr, aber für eine Schauspiel-Akademie naheliegenderweise auch irgendwie unbefriedigend sei. So ungefähr wissen wir also, was unser Thema ist, und wir wissen relativ gut, zu welchen irgendwie unbefriedigenden Schlüssen wir nicht kommen wollen.

Ich frage mich zunächst, wie die Kompetenzen zu unserem Thema in unserem Kreise liegen. Ich frage mich, was jeder von uns hier von den andern lernen könnte? Meiner Erfahrung nach ist diese Frage konstitutiv für jedes gemeinsame Lernen. Wenn ich mit angehenden Schauspielern zusammen die Schauspielerei lernen wollte, würde ich mich nichts anderes fragen, als was ich jetzt mit Ihnen zusammen erörtern möchte.

Wenn nämlich ein junger Mensch sich in einer Schauspielakademie meldet, dann weiss er unerhört viel über die Schauspielerei, sonst käme er ja gar nicht auf die Idee, in diese Ausbildung zu kommen. Die Frage ist, was er wie weiss. Und Sie wissen über Ihre Arbeit hier natürlich auch unerhört viel. Und dafür interessiere ich mich jetzt, weil Sie mich eingeladen haben, mich mit Ihrer Aufgabe auseinanderzusetzen, respektive mich mit Ihnen über Ihre Aufgabe zusammenzusetzen.


2. Das Team

Ich schlage Ihnen also "Teamarbeit" vor. Den Ausdruck "Team" verwende ich allerdings nur, weil Herr Danzeisen das vorgeschlagen hat. Der Ausdruck Team suggeriert ein gemeinsames Ziel. Das will ich im Laufe meiner Vorstellung etwas relativieren.

Und den Ausdruck "Teaching" will ich gar nicht mehr verwenden, weil ich mit "Teaching" Erziehung und Lehren, also Ziehen und Belehren verbinde. Wo ich Be-Lehrern begegnet bin, habe ich innerlich immer den bekannte Schlager "We dont need no education, we dont need no thougth controll ...." gesungen.

Wenn ich hier und jetzt kein Teacher bin, was bin ich denn dann?


3. Vorstellung statt Teaching

Ich gebe Ihnen eine Vorstellung. Ich gebe Ihnen eine Vorstellung meiner Vorstellung. Und dabei, also in bezug auf die Vorstellung fühle ich mich hier an der Schauspielakademie natürlich in der Höhle der Löwen. Ich schlage Ihnen vor, meinen Beitrag unter den Gesichtspunkten einer Vorstellung zu betrachten. Wenn wir uns mit der Ausbildung von Schauspielern beschäftigen, scheint mir dies eine adäquate Form.

Ich schlage Ihnen vor, dass wir uns über Vorstellungen unterhalten, über unsere Vorstellungen über das, was wir in unseren Vorstellungen tun. Wenn Sie meiner Einladung folgen, sitzen wir jetzt nicht mehr in einem Schulzimmer, sondern im Theater. Wir sind mitten drin in den Vorstellungen.

Ich will Ihnen etwas vormachen anstelle von etwas beibringen. Ich habe immer dort am meisten gelernt, wo ich von der Vorstellung, von der Performance beeindruckt war. Wenn jemand etwas kann, ist das für mich ansteckend, dann will ich das auch lernen.


4. Performance

Ich fasse meine jetztige Tätigkeit hier in diesem Theater als Kunst auf, das heisst praktische Erwägungen gelten mir im hegelschen Sinne aufgehoben. Als Lehrer würde ich Ihnen sagen, was Sie machen sollen und was Sie falsch machen. Ich würde Sie über Sie belehren. Als Künstler mache ich keine Mitteilungen, als Künstler suche ich den richtigen Ausdruck. Mein Werk gibt (auch mir) Auskunft über mich.

Ich gestalte mich in meinem Werk. Es wird mir Gegenstand und Widerstand, es zeigt mir, welche meiner Vorstellungen funktionieren und welche nicht. Mein Werk ist mein Spiegel. Ein Gemälde, eine Skulptur, ein Text, eine Aufführung sind physische Gegenstände, die ich mit meinen Vorstellungen vergleichn kann. Erst wenn ich produziere, kann ich meine Vorstellungen mit meinen Wahrnehmungen kritisieren.

Ich gestalte mein Werk autonom, nicht in Vor- oder Rücksicht auf Applaus oder Einschaltquoten. Wenn ich mich um Zustimmung in Form von Einschaltquoten kümmere, dann bin Verkäufer, nicht Künstler. Wenn ich mich hier um praktischen Nutzen meiner Vorstellung kümmern würde, wäre ich bestensfalls Kunsthandwerker. Dann würde ich etwas für Sie produzieren, nicht (für) mich. Kunst ist autonom. Ich mache Kunst für mich, nicht für andere. Meine Vorstellung muss mir gefallen. Natürlich nehme ich in Kauf, dass sie andern auch gefällt. Und wo ich ähnlich wie andere Menschen bin, rechne ich sogar damit, dass was für mich gut ist, andern auch gefallen kann.

Was mir gefällt, finde ich in mir. Wie aber könnte ich wissen, was Sie brauchen, was Ihnen gefällt? Wenn ich nicht mir vertraute, blieben nur Einschaltquoten.


5. Practise

Wie Sie sehen, haben wir keine Zuschauer. Wir können also frei und unbelastet üben. Frei von Vorstellungen, was die Zuschauer - und irgendwelche Lehrer und Kritiker - gerne sehen würden. In gewisser Weise haben wir aber natürlich ganz kritische Zuschauer - nämlich uns selbst. Wir erkennen leicht, ob unsere Vorstellung gut ist - gut für uns.

Ich würde beispielsweise gerne etwas vorsingen, ich merke aber, dass ich das nicht gut genug kann. Nich gut genug für meine Ansprüche. Ob es Ihnen vielleicht trotzdem gefallen würde, kann ich nicht beurteilen. Das ist mir aber auch kein Kriterium, in meiner Kunst muss ich mir genügen.

Meine Frage ist also, was kann ich gut genug, um es hier aufzuführen. Wenn wir zusammenarbeiten, ohne uns zu belehren, ist das eine mögliche Frage für alle Beteiligten. Dann stellen sich sofort auch die Bedingungen des Uebens ein. Ich mache auch etwas, was ich noch nicht gut genug kann, weil ich am Lernen bin.


6. Ursprüngliche Regie

Im Schauspiel gibt es Rollen. Es gibt zwei sehr verschiedene Rollen. Es gibt die Rollen innerhalb der Aufführung, die Masken, den König, den Romeo und den Frosch. Und es gibt die Rollen ausserhalb der Aufführung, die Rollen des Schauspielers und jene des Regisseurs, der weiss, was die Schauspieler tun sollen. Was ich aus der Theatergeschichte weiss - ich weiss es ganz unabhängig davon, in welchem objektiven Sinne es wahr sein könnte - ist, dass das Schauspiel lange Zeit keine Regie kannte. Die Schauspieler überlegten jeweils, wessen Kompetenzen für das aktuelle Spiel geeignet waren, die Ueberzähligen mussten raussitzen. Die machten sich dann mit allerhand Zwischenrufen wichtig, weil sie nicht mitspielen durften. So etablierte sich die Regie. Ich verstehe Ihre Einladung in diesem Sinne der ursprünglichen Regie, als Einladung zu Zwischenrufen, weil ich von Ihrem Unterrichts-Schauspiel nicht so viel wie Sie verstehe.

Dieses Verständnis des Unterrichtens liegt immer auch ganz nahe, wo etwa im Sport ein Trainer einen Weltmeister trainiert. Wenn dort der Lehrer besser wäre als der Schüler, dann wäre der Lehrer Weltmeister, nicht der Schüler. Je mehr eine Sportart in chauvinistisch-militärischem Nationalismus eingebunden ist, verkehren sich die Rollen und die Regisseure und die Trainer gewinnen Macht. Und in der Schule im engeren Sinne sind die Rollen ganz verkehrt, dort weiss der Schüler gar nichts und der Lehrer alles.

Im Ursprung des Wortes Pädagoge steckt ein römischer Diener, der vom Vater des Schülers - in der heutigen Zeit vom Staat - bezahlt wird. Aber nicht um den Schüler zu lehren, sondern um den Schüler sicher zu den Orten zu führen, wo er etwas lernen kann.


7. Lernen im Dialog

Lernen im Dialog bedeutet, dass alle Beteiligten lernen. Die Ausdrücke Monolog und Dialog sagen im hier gemeinten Sinn nichts über die Anzahl der beteiligten Personen, sondern etwas über die Anzahl der Sichtweisen. Monolog heisst die Einheit der Sichtweisen, wie sie von Lehrern angestrebt, respektive durchgesetzt wird. Die Schüler lernen, was der Lehrer weiss, am Schluss wissen alle dasselbe, nämlich das, was der Lehrer schon wusste.

Im Dialog wird gemeinsam erforscht, was jeder weiss. Dazu stellt jeder seine Vorstellungen vor. Jeder gibt seine Performance. Dabei lernt jeder das, was ihm lernenswert erscheint. Ziel des Dialoges ist Vielfalt, nicht Einfalt.


8. Lernen als Co-Evolution

Als Co-Evolution bezeichne ich die Evolutionen von verschiedenen Systemen, die einander gegenseitig voraussetzen. Grünpflanzen etwa produzieren im Metabolismus ihrer Autopoiese (Selbstorganisation) als Abfallprodukt Sauerstoff, den die Menschen für ihre Autopoiese brauchen. Menschen produzieren umgekehrt CO2, was die Grünpflanzen brauchen. Beide tun dies jedoch nicht für die je anderen Lebewesen, sondern beide sind für die je andern unabdingbare, aber einfach - also nicht aufgrund von Intention oder Koordination - vorhandene Milieueigenschaften. Normalerweise atmen Menschen nicht, damit die Planzen Stickstoff haben, und die Pflanzen haben schon Sauerstoff produziert, lange bevor es Menschen gab. Beide Systeme kümmern sich um ihre Bedürfnisse und nehmen die strukturelle Koppelung, die Co-Evolution lediglich in Kauf.

Wenn jeder das lernt, was für ihn gut ist, dann ist das in bestimmten Umgebungen auch für alle andern gut. Wenn ich hier eine Vorstellung gebe, die mir gefällt, dann kann die Vorstellung auch Ihnen gefallen.


9. Reflektion: Konstruktivismus und Systemtheorie

Ich will noch einige Anmerkungen zum theoretischen Hintergrund meiner Vorstellung machen. Wir können, wenn Sie wollen, in der Diskussion mehr darauf eingehen. Vielleicht wollen Sie aber auch einfach etwas mehr darüber lesen.

Der Volksmund macht sich über den Nürnberger Trichter lustig, also über die Idee, dass man den Schülern das Wissen eintrichtern könne. Vielen Pädagogen ist klar, dass die Schüler selbst lernen müssen. Die Frage, die ich mir als Pädagoge stelle, lautet deshalb, was kann ich Sinnvolles beitragen, wenn die Schüler doch alles selbst tun müssen?

Es gibt in dieser Diskussion über Lernen seit einiger Zeit systemtheoretische Ansätze unter Namen wie Radikaler Konstruktivismus, Systemtheorie 2. Ordnung oder Neue Lernkultur. Diese Ansätze gehen alle davon aus, dass jeder Mensch seine Welt selbst konstruiert. Es gibt keine Realität, die man erkennen kann oder muss. Es gibt nur die Welt, die man selbst hervorbringt. Es gibt dazu eine breite erkenntnistheoretische Diskussion. Ich verstehe diese Ansätze aber viel mehr pragmatisch. Meine Frage ist, woher kann ich wissen, was andere Menschen wissen müssten. Als Pädagoge kann ich Sie fragen, was Sie gerne wissen wollen.

Diese Ansätze haben einen ethischen Aspekt. Wenn ich meine Welt selbst hervorbringe, dann bin ich dafür verantwortlich. Wenn ich nur erzähle, wie die Welt wirklich ist, dann kann ich nichts dafür. Und natürlich ist hier mit Welt insbesondere unsere Unterrichtssituation gemeint. Wenn ich den Schülern etwas beibringen würde, dann müsste ich das verantworten. Was die Schüler selbst lernen, liegt in deren Veranwortung.

Diese Ansätze sind alle sehr subjektorientiert. Ich lade Sie ein, einmal zu versuchen, etwas für sich, anstatt etwas für die Schüler zu tun.


10. Rekursion: Alles nochmals

Wenn Sie am Anfang meines Vortrages gewusst hätten, was Sie jetzt (über diesen Vortrag) wissen, dann hätten Sie einen völlig anderen Vortrag gehört. Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Ich erzähle Ihnen deshalb den ganzen Vortrag nochmals. Ich bitte Sie dabei zu bedenken, dass ich wieder zu diesem Schluss gelange.

Ich stelle mir vor, dass Ihnen beim 2. Hören einige Punkte praktischer erscheinen. Schliesslich wollten Sie so etwas wie 10 Anweisungen.

Der 1. Punkt ist, dass wir klären, was wir nicht wollen. In unserem Falle war das, dass wir nicht finden wollen, dass man gar nicht lehren kann.

Der 2. Punkt ist, dass wir klären, was wir tun können, wenn wir nicht belehren wollen. Wir erforschen die Kompetenzen im Team. Wir machen eine Liste, wo jeder reinschreibt, was er gut kann.

Der 3. Punkt ist das Selbstverständnis, das wir einnehmen, wenn wir tun, was wir tun. Ich kann zu Ihnen als Lehrer sprechen und Ihnen mitteilen, was Sie tun sollen. Ich kann aber auch fast dasselbe tun und sagen und das als ansteckende Aufführung auffassen. Wir kritisieren uns unter ästhetischen Gesichtspunkten: Ich sage nicht, dass etwas nicht richtig ist, sondern warum mir die Vorstellung gefällt.

Der 4. Punkt ist das Referenzsystem: mache ich etwas für andere, bin ich fremdbestimmt. Mache ich etwas für mich, bin ich autonom. Kunst ist autonom, wenn ich als Pädagoge auftrete, dann im Sinne einer Performance.

Der 5. Punkt ist das Ueben. Es geht darum, dass ich im geschützten Raum der Akademie das Vorzeigen üben kann. Beim Ueben übe ich auch die Selbstbeurteilung.

Der 6. Punkt ist Regie. Als Pädagoge sehe ich mich als derjenige, der draussen sitzt und Zwischenrufe macht. Ich übernehme damit eine reflektierende Aussensicht. Im besten Falle mache ich vor, wie das aussieht, was auf der Bühne gemacht wird. Natürlich spielen alle Rollenträger auch diese Rolle.

Der 7. Punkt ist der Dialog. Es gibt keine richtige Lösung, die für alle gut wäre. Jeder trägt seine Sicht bei, alle wählen unter den beigetragenen Sichten das aus, was zu ihnen passt. Die Lehre besteht darin, möglichst viele Möglichkeiten, wie man etwas tun kann, aufzulisten.

Der 8. Punkt ist die Einsicht und das Vertrauen auf die Co-Evolution. Wenn jeder das tut, was für ihn gut ist, trägt er am meisten zum Gesamtnutzen bei. Jeder Unterricht wird langweilig, wenn man etwas für andere, insbesondere für den Lehrer tun muss.

Der 9. Punkt ist die Selbstverantwortung aller Beteiligten. Die Welt ist nicht vorgegeben. Jeder ist verantwortlich für das, was er wahrnimmt.

Der 10. Punkt ist die Rekursion. Do it again. Wir wiederholen die Aufführung, solange sie uns unterhält, solange wir in ihr etwas Neues finden können.


 

Literatur

Ich nenne hier einige Texte, in welchen Sie etwas mehr über die Grundlagen meiner Vorstellungen nachlesen können.