Rolf Todesco

Die Doping-Paradoxie

Floyd Landis hat die Tour de France gewonnen. Und dann doch nicht - aber wer weiss. Floyd Landis beteuert, dass er kein Doping genommen habe - und er beteuert das so, dass ich - und ganz viele andere Menschen tun das auch - ihm einfach glauben muss. Werner Franke, ein Professor für Molekularbiologie, der gedopte Sportler jagt wie Van Helsing die Vampire, sagte, dass die Tests zweifelsfrei ergeben haben, dass Floyd Landis hohe Testosteronwerte pflanzlicher Herkunft seien. Das beweise, dass das Testosteron synthetisch produziert, also von aussen zugeführt wurde. Diese wissenschaftliche Zweifelsfreiheit zwingt mich, auch ihm zu glauben. Und jetzt bin ich in einer paradoxe Situation, weil ich zwei Menschen glaube, die sich scheinbar widersprechen. Indem ich diesen Widerspruch zwischen zwei Menschen als Paradoxie wahrnehme, statt einfach nur dem einen oder dem andern zu glauben, produziere ich einen Anlass, über die Verhältnisse nachzudenken. Ich muss so eine Form finden, so dass ich beiden Seiten glauben kann, ohne verrückt zu werden. Dazu muss ich den Widerspruch so verteilen, dass er logisch erträglich ist. Eine solche Entfaltung einer Paradoxien ist kreativ im Sinne des Wortes, ich muss dabei eine neue Sichtweise gewinnen.

Weil Radrennfahrer wie Floyd Landis an strengen Radrennen dreimal oder viermal so viele Kalorien verbrauchen wie Menschen, die im Büro arbeiten, müssen sie sich sehr gezielt ernähren. Nun kann ich mich jenseits von Doping fragen, was sie wie zu sich nehmen. Und da finde ich allerhand an Ernährungsergänzungen und an Ernährungsarten, die ich jenseits von Hochleistungssport nicht freiwillig applizieren würde. Insbesondere brauchen die Rennfahrer auch prophylaktisch Medikamente, weil ihre Körper auf so grosse Belastungen mit Krankheiten reagieren könnten und sie während den Rennen ja nicht krank sein dürfen. Die Ernährungsergänzungen bis hin zu Medikamenten ermöglichen Leistungen, die sonst nicht möglich wären. Ein Rennfahrer mit Heuschnupfen etwa müsste ohne Gegenmittel zu Hause bleiben.

Die Frage ist also zunächst, was als Doping bezeichnet wird. Wenn die beiden Menschen, die sich scheinbar widersprechen, ganz verschiedene Vorstellungen von Doping haben würden, würde sich dieser Widerspruch auflösen. Dabei könnten natürlich andere Widersprüche entstehen. Der eine würde allenfalls gegen den andern sagen, dass nicht jeder für sich definieren könne, was er als Doping bezeichne. In einer umgangssprachlichen Formulierung ist Doping alles, was ich einnehme, um meine Leistungsfähigkeit zu vergrössern. In einer unpraktisch rigiden Hinsicht wäre das fast alles, was über die Ueberlebensnotwendigkeit hinausgeht, weil fast alles meine Leistungsmöglichkeiten erhöht. In einer pragmatischeren Hinsicht ist nur die Verwendung von bestimmten Sustanzen Doping. Man kann sich - in Fall von Floyd Landis wird das als gegeben angenommen - beispielsweise auf die Auffassung der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) einigen: Neben Phenyläthylaminderivaten (Weckamine, Ephedrine, Adrenalinderivate), Narkotia, Analeptika (Kampfer und Strychninderivate) und anabolen Hormonen können weitere Substanzen, wie Alkohol, Sedativa, Psychopharmaka unter den Dopingsubstanzen aufgeführt werden. Die Bestimmung der Substanzen erfolgt durch eine laufend wachsende Liste, die alle verbotenen Substanzen, beispielsweise auch mein eigenes aufgefrischtes Blut, enthält. Weil die Einnahme solcher Substanzen nur sehr selten unmittelbar beobachtbar ist, werden vor allem Rückstände im Körper der Sportler beobachtet, mit welchen die Einnahme dann "zweifelsfrei bewiesen" werden kann. Aber auch die Beobachtung der Rückstände ist nicht ganz einfach, so dass pragmatischerweise Grenzwerte gesetzt werden, die mittels auf einer ebenfalls wachsenden Liste festgesetzten Messverfahren geprüft werden. Als Doping wird von der WADA - unter vielem anderen - bezeichnet, wenn diese Grenzwerte von aufgelisteten Substanzen überschritten werden.

Doping ist also gewissermassen immer der Unterschied zwischen Doping und nicht erlaubtem Doping. Doping beruht auf der Unterscheidung, ob verbotenen Substanzen eingenommen werden. Auf der markierten Seite der Unterscheidung wird die Unterscheidung aber wiederholt. Doping ist nur, wenn ich so viel verbotene Substanz zu mir nehme, dass ich in einer Kontrolle, in welcher Rückstände gemessen werde, an den Grenzwerten hängen bleibe. Wenn ich also von einer verbotenen Substanz quasi homöpatisch, etwa durch gezielte oder zufällige Verunreinigung von Medikamenten und Nahrungsmittelergänzungen, so wenig zu mir nehme, dass ich unter den kritischen Messwerten bleibe, kann ich mit gutem Gewissen sage, dass ich kein Doping gegemmen habe, oder aber niemand könnte sagen, das er kein Doping genommen habe, wenn er nicht alles, was er zu sich nimmt listenvollständig analysieren liesse. Wir wissen nur zu gut, wie verseucht unsere alltägliche Nahrung ist. Wenn ich von einem Trainigsarzt betreut werde, der mein Training und meine Ernährung optimiert, wie das etwa der Stararzt Eufemiano Fuentes für viele Radrennfahrerstars macht, kann mir dieser Arzt auch sagen, wieviel von welcher Substanz gerade kein Doping ist. Wenn ich dann weniger als diese Menge einnehme, habe ich - in dieser Legalitätslogik - kein Doping genommen.

Nachdem Floyd Landis an der Tour auf einer Etappe eine unglaublich anmutende Leistung zeigte, wobei er jederzeit wusste, dass er als Etappenieger zwangsläufig auf Doping kontrolliert wird, wurde in seiner A-Probe ein Testosteron/Epitestosteron-Quotient von 11:1 ermittelt - der Grenzwert beträgt 4:1. Dabei war zunächst nicht die Frage, ob es synthetische oder körpereigene Hormone sind, sondern lediglich die relative Menge. Hätte er also körperfremdes Testosteron in seinem Blut gehabt, wäre das in der aktuellen Kontrolle kein Problem gewesen, wenn das Verhältnis im Rahmen 4:1geblieben wäre. Nun stellt sich nicht nur für mich die Frage, wie dieser Wert so hoch sein kann, wenn Floyd Landis kein Doping genommen, sondern allenfalls im nicht verbotenen Umfang verbotene Substanzen zu sich genommen hat. Floyd Landis argumentierte damit, dass er einerseits von Natur aus eine sehr hohe Testosteronproduktion hat. Etwas muss ihn ja von anderen Radfahrern unterscheiden, wenn er die Tour gewinnen kann. Dann aber führt er auch an, dass ein Bier und ein Wisky und psyschischer Stress die körpereigene Produktion sehr ankurbeln können. Ein Radrennfahrer ist wie alle Menschen ein hochkomplexes System, in welchem geringste Ursachen sehr grosse Auswirkungen haben können. In der Chaostheorie wird das versinnbildlicht mit einem Flügelschlag eines Schmetterlings, der wenn alles andere zusammenpasst, am andern Ende der Welt einen Hurrikan auslösen kann. Die Systemtheorie ist voll von Beispielen, in welchen Aufschaukelungen wie in einem Reaktor in Tschernobyl zu Katastrophen führen. Ich kann deshalb ohne weiteres glauben, dass Floyd Landis kein Doping genommen hat, dass aber die Substanzen, verbotene und erlaubte, die er eingenommen hat, durch die Umstände sich so auswirkten, dass sein Testosteron-Wert wieder alle Erwartungen - auch von seinem Facharzt - auf 11:1 emporstiegen ist.

Ich löse meine Paradoxie also damit auf, dass ich glaube, dass Floyd Landis kein Doping genomen hat und trotzdem synthetisch produziertes Testosteron in seinem Körper gehabt hat. Die Leistungen, wofür sich Trainingsärzte bezahlen lassen, bestehen genau darin, den Sportlern dabei zu helfen, dass sie kein Doping nehmen, sondern sich im legalen Bereich "ernähren". Natürlich kann es Pannen und Pleiten geben, die Sache ist eben etwas kompliziert.

Der Vorschlag von Dopingjäger Werner Franke, man müsse intelligente Dopingtest entwickeln, ist ambivalent. Wenn man davon ausgeht, dass die Sportler Doping im illegalen Bereich machen, muss man als Doping-Fahnder Verfahren entwickeln, mit welchen man die Vergehen aufdecken kann. Das heisst, man muss die Sportler überlisten und überführen. Wenn man aber davon ausgeht, dass die Sportler im legalen Bereich Doping machen, was dann eben kein Doping ist, muss man Wege finden, dass keine Pannen passieren. Damit würde man dem Sport mehr helfen und auch dem Publikum gerecht werden, das seine Helden nicht fallen lässt.

Das "eigentliche" Doping-Problem wird dadurch natürlich nicht gelöst, aber ich kann (er)finden, dass es dieses Problem jenseits von bestimmten Sichtweisen gar nicht gibt. Das Problem ist - wie auch meine Paradoxie - durch eine bestimmte Beobachtung konstruiert. Ich will diese Beobachtung beobachten. Lance Amstrong, der die Tour de France auch gewonnen hat, falls das so bleibt, hatte mit seinen Medikamenten sogar den Krebs besiegt. Floyd Landis wollte nach der Tortur de France sein Hüftgelenk durch ein künstliches, körperfremdes ersetzen lassen. Man kann annehmen, dass er das nicht ohne Schmerzen, die Medikamente verlangen, so entschieden hat. Man könnte alle Medikamente verbieten

, wobei nicht notwendigerweise die Substanzen selbst gefunden werden müsssen, oft genügen Indizien Ich will hier davon absehen, dass einerseits oft genug Spritzen und Medikamente im Umfeld von Sportlern gefunden werden und auch davon, dass es seit jüngerer Zeit gar nicht mehr nötig ist, dass Rückstände gefunden werden. Neuerdings genügt es, wenn man in irgendwelchen verschlüsselten Listen vielleicht erwähnt worden ist.