R. Todesco
Das Kapital lesen – aber wie?
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Sollte man das Kapital von K. Marx als logische Wissenschaft begreifen?

Wolf F. Haug hat 1974 eine Einführung ins "Kapital" geschrieben und 2006 eine Fortsetzung, die G. Quaas als Anlass nimmt, sich mit der Theorieauffassung von W. Haug zu beschäftigen. G. Quaas macht das von einem mathematischen Standpunkt aus. Er schreibt eine substantiell zustimmend gemeinte Rezension zu Haug's Kapitalverständnis und begründet seine Zustimmung mit einer immerhin relativen Mathematisierbarkeit der Haugschen Auffassung der Werttheorie von Marx. G. Quaas formalisiert den Tauschwert in gemeinter Uebereinstimmung mit Haug und Marx und ist dann - statisch denkend - auch genötigt, den Preis vom Wert zu entkoppeln, respektive für den Preis ein Marktverhältnis mit Angebot und Nachfrage zu unterstellen, so dass der formal korrekt berechnete Tauschwert als okultes Wesen erscheint, das ewig hinter dem Preis lauert, aber nie zu Tage tritt. Diese Problematik macht ihn weiter nicht stutzig, weil er bei K. Marx und W. Haug auch keine bessere Sicht dazu finden kann. Er frägt ganz unbeschwert, wie man denn die wertunabhängige Preisgestaltung des Marktes, die er für wahr nimmt, je ersetzen könnte, denn er weiss schon, dass die staatliche Planwirtschaft keine Antwort dafür bietet und dass Gesellschaft überhaupt nur eine Konstruktion ist, weil er das bei K. Marx gelesen hat. Würde es nur um eine Formalisierung einer Tauschwerttheorie gehen, könnte man ja wenigstens meinen, dass der Preis dafür sorgt, dass Angebot und Nachfrage dort einpendeln, wo der Wert der Ware dem Preis entspricht, aber G. Quaas schöpft (in dieser Rezension) die formalen Möglichkeiten nicht aus, er verzichtet auf die Möglichkeit der dynamische Oszillation zwischen Wert und Preis in der Zeit. Ihm ist nur wichtig, dass er den Tauschwert als Durchschnittsgrösse der verausgabten Arbeitszeit wissenschaftlich korrekt, also eben formal beschreiben kann. Er diskutiert auch seinen Formalismus nicht, sondern postuliert - bezüglich quantifizierbaren Verhältnissen wohl zu Recht -, dass die Formalisierbarkeit ein Kriterium für die Wissenschaftlichkeit darstelle. G. Quaas behandelt den Wert wie A. Smith und D. Ricardo wissenschaftlich logisch als Resultate von auf dem Markt getauschten Arbeitszeiten. Und er liest im Kapital offenbar vor allem, K. Marx würde das auch tun.

Die als Beweis für logische Wissenschaftlichkeit gut gemeinte Rezension der Haugschen Auffassung von G. Quaas macht ein perspektivisches Problem deutlich, das in den Vorlesungen von W. Haug nicht klar ausgearbeitet ist, obwohl W. Haug speziell im letzten Kapitel seiner ersten Einführung ganz viele Hinweise darauf gibt. Es geht um die Frage, inwiefern K. Marx ein der wissenschaftlichen Logik verpflichteter Oekonom ist, oder darum, wie die marxsche Dialektik, die ja gemäss K. Marx eine Inversion der hegelschen Dialektik ist, mit der formalen Logik und mit einer bestimmten Auffassung von Wissenschaft, etwa jener der analytische Philosophie oder jener des kritischen Rationalismus kompatibel ist. Man kann sich auch etwas radikaler fragen, ob solche Wissenschaft in der marxschen Dialektik nicht überhaupt aufgehoben ist. Sowieso muss man sich fragen, warum solche formalisierbare Wissenschaftlichkeit überhaupt ein Kriterium für das Kapital darstellen sollte. Zum einen scheint die analytische Wissenschaft in bezug auf Logik seit einem Jahrhundert immer toleranter zu werden, was sich etwas in den Diskursen zur Selbstreferenzen von G. Gotthard und G. Spencer-Brown zeigt, und grundsätzlicher kann man die Wissenschaft selbst als ein der Revolution unterliegendes Paradigma sehen, das den religiösen Glauben an Gott durch einen Glauben an die Logik ersetzt hat. Man kann in diesem Zusammenhang auch darüber nachdenken, weshalb K. Marx keine Professur hatte. Man könnte sich anstelle der etwas oberflächlichen Erklärung, wonach er aus "politischen" Gründen keine Professur bekommen habe, auch wissenschaftsimmanentere Bedingungen vorstellen: die Wissenschaft könnte jenseits der Politik gemerkt haben, dass K. Marx ihr Paradigma, das an Logik gebunden ist, sprengen würde. Eine Anstellung an der Universität hätte K. Marx mit Ansehen und Brot unterhalten, aber daraus folgt ja nicht, dass er in seinem Selbstverständnis ein logischer Wissenschafter gewesen wäre. Und das könnte auch die Wissenschaft gemerkt haben, als sie K. Marx den Zugang verweigerte. K. Marx hat vielleicht während seiner wissenschaftlichen Ausbildung noch nicht realisiert, dass er einen anderen Weg eingeschlagen hat, aber spätestens in seinem durch die Feuerbachthesen entschiedenen Streit mit anderen Junghegelianern, hat er die Notwendigkeit einer Inversion der wissenschaftlichen Logik erkannt: es kömmt nicht darauf an logisch korrekt zu beschreiben, es kömmt darauf an, wer oder welche Klasse welchen Veränderungsvorstellungen widerspricht. Wer vermeintlich dialektische Widersprüche widerspruchsfrei darstellt, steht - wie die Logik - ausserhalb der Widersprüche. Ich will im folgenden die Differenz des Tauschens erläutern, und zeigen, inwiefern - also unter welcher Leseweise - die Dialektik des Tauschens in der Marxschen Theorie eine Konstruktion jenseits formalisierbarer Logik darstellt - gerade weil K. Marx in bezug auf die behandelten Widersprüche Partei genommen hat.

Man kann das Kapital von K. Marx als politische Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse lesen, K. Marx hat sein Werk aber als Kritik der politischen Oekonomie bezeichnet. Er hat also nicht eine gegebene Gesellschaft, sondern eine bestimmte ökonomische Beobachtung der gesellschaftlichen Verhältnisse kritisiert. Die Beobachtung, die K. Marx kritisierte, fand er in der Tauschwerttheorie exemplarisch bei A. Smith und D. Riccardo. In dieser Theorie konstituiert sich die Gesellschaft in Tauschverhältnissen, in welchen die durchschnittlich notwendige Arbeitszeit den Tauschwert der Waren bestimmt. A. Smith und D. Riccardo waren in der logischen Vorstellung eines wertgleichen Tauschens gefangen, das Mehrwert nur als Abweichungen zulässt, wie sie etwa der Markt, der Boden, der Besitz von Produktionsmittel und dergleichen generiert. K. Marx dagegen begriff, dass Mehrwert logisch sich nicht so entwickelt kann, sondern auf einem gesellschaftlichen Verhältnis beruht, dass eben gerade kein wertgleiches Tauschen darstellt. Differenztheoretisch formuliert ist Warentausch die dialektische Differenz zwischen dem Tausch von durch Arbeitskraft produzierten Waren und dem Tausch von Waren gegen Arbeitskraft. Im Tauschwert der Arbeitskraft als notwendiger Arbeitszeit für die Herstellung der Arbeitskraft wird diese Differenz aufgehoben. Die Differenz erscheint aber für jeden, der auf dem Markt Produkte oder Arbeitskraft anbietet, der eine bringt Waren auf den Markt, der andere sich selbst.

In der hier vorgeschlagenen Leseweise geht es also gerade nicht darum, dass gleiche Werte getauscht werden und auch nicht darum, dass im Preis nicht der Wert zum Ausdruck kommt. Es geht vielmehr darum, dass solch ökonomistische Vorstellungen von Wert und Preis in der von K. Marx aufgezeigten Perspektive als kapitalistische Ideologie erscheinen, die Preis und Wert irgendwie vermittelt und vor allem der Arbeitskraft einen Tauschwert zuschreibt. Würde je, wie die Kapitalisten Glauben machen, Arbeitskraft gegen Ware getauscht, hätten in der Tat beide einen Tauschwert. Oder umgekehrt, aus der Vorstellung, dass Arbeitskraft einen Tauschwert habe, folgt leicht, dass sie gegen Waren getauscht werden kann. Genau das zeigt K. Marx in seiner Kritik an der Tauschwerttheorie. K. Marx dekonstruiert die Wertkategorie, indem er sie auf die "Ware" anwendet, die das Kapital konstituiert, also auf die Arbeitskraft. Es geht im Kapitalprozess nicht darum, das Gold und Seide in Geld ausgedrückt und zu Durchschnittspreisen oder Werten getauscht wird. Tauschen und Geld interessiert die Kapitalisten nicht mehr als jeden anderen Marktfahrer. Die Kapitalisten interessieren sich für Mehrwert, nicht für wertgleiches Tauschen. Und sie interessieren sich auch insbesondere nicht mehr als andere dafür, dass sie gelegentlich einen zu hohen Preis erzielen. K. Marx nennt sie Kapitalisten, nicht weil sie sich wie heutige Manager abzockerisch für "mehr Wert" interessieren, sondern weil sie Mehrwert durch Kauf von Arbeitskraft generieren.

Und an dieser Stelle lohnt es sich, in dem Sinne genau zu lesen, als man sich bewusst macht, wie man das Kapital liest. In der Leseweise, die ich hier vorschlage, geht es viel weniger darum, was die Produktionsmittelbesitzer, die Lohnarbeiter anstellen, wirklich tun, als darum, wie die politische Oekonomie dieses Verhältnis logisch in Form einer politischen Oekonomie beschreibt. Wenn man Arbeitskraft als Ware auffasst, die nach Gestehungswert getauscht werden kann, kann dieser Tausch gerecht stattfinden wie etwa auch F. Lasalle mit dem "gerechten Lohn" argumentierte. Die politischen Oekonomen können die Sache so sehen und damit verstehen, dass Kapitalisten sich fair verhalten können, aber jenseits derer Perspektiven geht das eben gerade nicht. Es geht mithin darum, wer was mit welchen Kategorien als gerecht und recht beobachten kann und wer diese Beobachtung gerade nicht leisten kann. K. Marx zeigt, wie Mehrwert als Lösung für ein Paradox eingesetzt wird. Man kann ökonomistisch und dann sehr logisch durchrechnen, indem man den kapitalistischen Trick "Mehrwert" in eine Formel einsetzt, in welcher der Tausch dann als Tausch zwischen Wert und äquivalentem Wert erscheint, wobei der eine Wert eben nebenbei Mehrwert abwirft, so wie gewöhnliches Geld Zinsen abwirft, wenn ich es auf einem Sparbuch anlege. Diese Oekonomie kann in der Tat formal korrekt und widerspruchsfrei durchrechnen. Aber mit Arbeitskraft als Ware rechnen nur kapitalistische Oekonomen. K. Marx aber grenzt als Kapitalisten genau diejenigen ab, die Ware Arbeitskraft kaufen oder als wertgleich "eintauschen". Die Explikation der vermeintlichen Ware Arbeitskraft in der Mehrwerttheorie zeigt gerade eine Formalisierung, die der Perspektive von K. Marx zutiefst widerspricht. Gezeigt wird damit ein Formalismus, der logisch korrekt konstruiert ist, aber jenseits des Kapitalismus nichts taugt.

Wenn man K. Marx so, wie ich es vorschlage, liest - was man nebenbei bemerkt nicht damit verwechseln sollte, was K. Marx wirklich gemeint hatte - liest man die Beschreibung von zwei verschiedenen Gesellschaften. Die kapitalistische Gesellschaft konstituiert sich über Lohnarbeit, die andere Gesellschaft, die wir zusammen mit K. Marx noch suchen oder konstruieren müssen, kennt keine Lohnarbeiter - und wie wir inzwischen begründet annehmen wohl auch keine realsozialistische Proletarier. G. Quaas weist darauf hin, dass K. Marx Gesellschaft als Konstruktion bezeichnet hat. Wenn ich eine Maschine als Konstruktion bezeichne, meine ich aber nicht, dass die Maschine nur ein Hirngespinst sei, sondern ich meine, dass die Maschine bewusst hergestellt wurde. Die Konstruktion, die K. Marx referenzierte, ist keine Maschine, sondern eine ökonomische Beobachtung, in welcher Gesellschaft als Warentausch entworfen wird. Und vor allem zeigte K. Marx damit, dass wir Gesellschaft auch ganz anders konstruieren können. Das, was wir als Gesellschaft bezeichnen, ist nicht gegeben, sondern wir von uns konstruiert. Wenn wir den Tausch von Arbeitskraft als gerecht konstruieren, indem wir auf deren Gestehungskosten zurückrechnen, konstruieren wir eine Gesellschaft, die K. Marx als kapitalistische Gesellschaft erkannte. Die Frage ist, wer diese Tauschgerechtigkeit beobachten kann, und wem diese Tauschgerechtigkeit als selbstverständlich und naturgegeben erscheint. K. Marx zeigte, dass diese Selbstverständlichkeit der politischen Oekonomie kritisiert, das heisst mit anderen Vorstellungen verglichen werden kann.

Ein Bild, das K. Marx gerne verwendet, weil es einen speziellen Aspekt der Lohnarbeiterschaft beleuchtet, ist der Sklave. Differenztheoretisch ist der Sklave, der in Nordamerika Baumwolle pflückte, Opfer eines bewussten Verbrechers, während der Sklave, der Aristoteles und die griechischen Philosophen insgesamt daran hinderte, Arbeit zu erkennen, Opfer einer "gesellschaftlichen" Formation ist, welche einen Teil der Menschen, unter anderen eben die Sklaven, wie die Tiere einfach ausgeschlossen hat. Es könnte sein, dass die griechischen Sklavenbesitzer das Sklavenhalten für etwas so natürliches hielten, wie heute das massenhafte Lohnverhältnis ganz vielen ganz unproblematisch erscheint. K. Marx staunt über beides.

Man kann K. Marxens Gesellschaft als Konstruktion sehr leicht so lesen, dass er als Gesellschaft das Resultat einer bestimmten Beobachtung bezeichnet. K. Marx beobachtet die kapitalistische Gesellschaft als Gesellschaft, die sich durch die Mehrwertproduktion konstituiert; oder - beobachtungstheoretisch vollständiger - wie die Mehrwertproduktion als Gesellschaft schlechthin beobachtet wird. Als kapitalistische Gesellschaft erscheint das massenhafte Verhältnis, in welchem Arbeitskraft als Ware in den Tausch gebracht wird. Die kapitalistische Gesellschaft wird nicht als eine Menge von Menschen begriffen, sondern als Verhältnis, in welchem Menschen, das was sie tun, als gerechten Tausch auffassen. K. Marx zeigt diese Gesellschaft als ein bestimmtes Verhältnis. Er zeigt, dass man Gesellschaft auch anders begreifen könnte, indem er etwa die Sklavenhaltung auch als Gesellschaft beobachtet, weil sie funktional ein stückweit äquivalent eine andere Möglichkeit darstellt, als die Haltung von Lohnarbeitern. Von der kapitalistischen Gesellschaft zurückblickend erscheint jede Produktionsform von Lebensmitteln als Gesellschaft. Und vorwärtsblickend zeichnet sich die künftige Produktionsform, die wir noch nicht haben und uns kaum vorstellen können, als kommunistische Gesellschaft ab.

Die Logik der marxschen Dialektik besteht darin, dass sich im Widerspruch verschiedene Interessen begegnen, die verschiedene Sachverhalte beobachten. Es geht also nicht darum, dass eine gegebene Sache verschieden, von den je einen richtiger oder wahrer oder formal korrekt gesehen wird, sondern darum, welche Beobachtungen mit welchen Unterscheidungen gemacht werden. Die Logik und die Wissenschaft sind so konstruiert, dass sie keine Standpunkte zulassen, das ist genau das, was sie innerhalb einer gegeben Welt auszeichnet. Die marxsche Dialektik dagegen repräsentiert den Widerspruch von Klassen, der im Lohnverhältnis logisch aufgehoben ist. G. Quaas meint am Ende seiner Auffassung, dass seine Auffassung ohne Ethik nicht möglich sei. Ihm scheint es eine Frage der Ethik, wie beobachtet wird. Die liberalkapitalistische Ethik etwa findet die Abzockerei des heutigen Managements und den sogenannten Manchesterkapitalismus unmoralisch und asozial, sie verlangt eigentlich den gerechten Lohn. K. Marx dagegen braucht keine Ethik, er zeigt, dass es verschiedene Beobachtungen und mithin verschiedene Gesellschaften gibt, und setzt darauf, dass bewusstgemachte Beobachtungen besser sind als jede Moral. Solange ich Sklaven und Lohnarbeiter nicht als spezifische Konstruktionen wahrnehmen kann, hilft keine Moral.

Natürlich stellt sich durch diese Leseweise auch die von G. Quaas bei W. Haug aufgehobne Frage neu, wie das Bewusstgemachte bewusst gemacht werden soll, weil man sich mit dieser Leseweise ja ganz andere Zusammenhänge bewusst macht. Die Frage lautet jetzt gerade nicht - wie G. Quaas rhetorisch suggeriert - wer oder was denn die Funktion des Wertgesetzes am Markt übernehme, das die Produktivkräfte den gesellschaftlichen Bedürfnissen assimiliere. G. Quaas verwirft den Staat wie die Gesellschaft als Funktionsträger, vielleicht weil er den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft nicht sieht und umgekehrt beides mit dem realen Sozialismus assoziiert. Damit macht G. Quaas auf eine weitere Problematik aufmerksam, die auch bei W. Haug zu finden ist. Wer nicht realisiert, dass K. Marx den Kapitalismus perfekt und den Kommunismus gar nicht beschrieben hat, neigt dazu, das, was Lenin geschrieben hat, als logische Folgerung von K. Marxens Analyse zu lesen. K. Marx hat aber den Kapitalismus, in welchem er lebte, erkannt, während Lenin nie einen Kommunismus, noch nicht einmal eine marxistische Beschreibung davon gesehen hatte. Lenin hatte als kommunistische Gesellschaft nichts zu analysieren, was ihm faktischen Widerstand entgegengesetzt hätte. Er hat nicht nur eine eigenwillige Interpretation einer kommunistischen Gesellschaft geleistet, er hat sie vor allem auch als politische Aufgabe wahrgenommen, was K. Marx wohl mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit geteilt hätte, da auch er ein Kind seiner Zeit gewesen ist. Dass K. Marx aber von einer Kritik der politischen Oekonomie gesprochen hatte, zeigte auch diesbezüglich Problembewusstsein. Obwohl er zweifellos zwischen Politik und Oekonomie unterscheiden konnte, konnte er sich im Kapital nicht entscheiden, ob die Aufhebung der Lohnarbeit ein politisches oder ein ökonomisches Programm darstellt. Wenn man nicht wie etwa die Wikipedia meint, dass politische Oekonomie ein anderes Wort für Volkswirtschaft sei, muss man sich nochmals überlegen, ob man das Kapital als politisches oder als ökonomisches Buch lesen will, etwas populär gesprochen, ob man Gesellschaft mehr mit Staatspolitik oder mehr mit Aktiengesellschaft assoziiert. Es ist wohl kaum ein Zufall, dass sich die sich durchsetzende Form der Organisation der Lohnarbeit Gesellschaft nennt, während der Ueberbau Bezeichnungen wie Volk, Nation oder Staat verwendet.

Wer K. Marx nicht nur philosophisch verstanden hat, was Klassenbewusstsein impliziert, wird sich wie Lenin fragen, was zu tun wäre. Aber man muss die Frage natürlich nicht so stellen wie Lenin und sie schon gar nicht so beantworten wie er. Und die Antwort wird auf die Leseweise zurückwirken. Ich lese in der Analyse von K. Marx, wohl wie Lenin, die Aufforderung eine kommunistische Gesellschaft zu konstruieren. Und dieser Gesellschaft ist vorerst nur eines gewiss: die Arbeitskraft ist keine Ware. Sie hat keinen Tauschwert, weil sie nicht, das heisst nur unter einer kapitalistischen Ideologie, getauscht werden kann. Die Arbeitskraft kann ohne noch primitivere Ideologie auch nicht mehr versklavt werden. Es geht darum, die gesellschaftliche Produktion ohne Lohnarbeit zu organisieren.

In gängigen Kapitalrezeptionen ist oft von Produktionsmittelbesitz und -eigentum die Rede. Aber schon als W. Haug seine erste Einführung schrieb, gehört die Firma Ford, die dem Fordimus ihren Namen gab, den Banken. Und mithin waren es die sparbuchbesitzenden Lohnarbeiter, die das kapitale Vermögen, das in den Produktionsmitteln steckte, vorgeschossen haben. Wem die Produktionsmittel gehören, ist schon in der kapitalistischen Gesellschaft gleichgültig, wieso sollte das in der kommunistischen Gesellschaft anders sein. Und dass Glücksritter manchmal am Markt enorme Gewinne verbuchen, spricht keineswegs gegen den Markt, es zeigt nur, dass der Markt im Kapitalismus nicht richtig funktioniert. Wenn die Werttheorie eine Theorie und nicht eine kapitalistische Ideologie wäre, müsste sie zuerst erklären, warum der Markt es nicht schafft, die Preise beim nahe beim Wert zu halten, also warum der Markt nicht schnell genug funktioniert. Die Frage lautet also - unter der vorgeschlagenen Leseweise - nicht wer oder was anstelle des Marktes die Produktivkräfte den gesellschaftlichen Bedürfnissen assimiliere, sondern wie und auf welche Weise das am Markt geschehen könnte. Das ist aber eine sekundäre Frage, die sich erübrigen könnte, wenn die primäre Frage gelöst wurde. Das von K. Marx verortete Problem ist nicht der Markt und seine Schwankungen, sondern dass im kapitalistischen Markt Arbeitskraft gehandelt wird.

Lenin suchte eine politische Lösung und formatierte eine bestimmte Leseweise des Kapitals, nach welcher das Proletariat die Produktionsmittel durch eine Revolution bezüglich der Staatsmacht übernehmen sollte. Das mag den politischen Ideen von K. Marx, zumindest als er das Manifest geschrieben hat, entsprechen, aber aus der Analyse des Kapitals folgt das mitnichten. Schon gar nicht folgt daraus, dass die Produktionsmittel so "sozialisiert" werden sollten, dass sie von einer Partei oder einem Staat zum Wohle der Besitzer verwaltet werden sollten. Ich kann nicht sehen, wie man das Kapital so lesen kann, aber dass ich das nicht sehen kann, spielt keine Rolle. Ich kann dafür sehen, dass man das Kapital auch anders lesen kann, nämlich ökonomisch statt politisch. Es kann hier nicht darum gehen, wie man das Kapital lesen muss, sondern nur darum, wie man es auch lesen kann. Man kann wohl nicht erst heute mit guten Gründen bezweifeln, dass ökonomische Probleme politisch gelöst werden können. Aber das entscheidet die Frage, wie man das Kapital lesen sollte, natürlich nicht. Man kann es genuin politisch sehen, der Untertitel bleibt verfänglich.

Immerhin kann man sich auch ökonomische Gedanken zur einer künftigen Gesellschaft ohne Lohnarbeit machen. Und dabei kann man auch ganz minimalistisch denken, indem man K. Marx auf das Maximum reduziert: Wir lassen alles wie es ist - ausser dass wir uns bewusst machen, was Lohnarbeit ist, und dass wir Lohnarbeit, obwohl sie etwas völlig anderes ist als Sklavenarbeit, genau so wie Sklavenarbeit "bewerten". Es brauchte ganz wenig und die Welt stünde Kopf - falls dieses Bewusstmachen denn wenig wäre. Vorderhand scheint es vielen unvorstellbar, keine Lohnarbeit zu haben. Und wenn ich vom Bewerten der Lohnarbeit spreche, meine ich weder Moral noch Ethik, ich meine nur, dass man sehen könnte, dass Lohnarbeit der Sklavenarbeit in einem Punkt vergleichbar wäre: beide verhindern, dass Waren nach Aufwand ihrer Hersteller getauscht werden. Es ist ja kaum ein Zufall, dass Kapitalisten von Arbeitgeber und nicht von Lohngebern sprechen. Die Arbeit würde jeder gerne dem andern geben, selbst wenn er dafür etwas bezahlen und nicht auch noch zusätzlich Lohn geben müsste.

Es gibt zur Zeit in mehreren Ländern eine "tolle" Initiative für ein Grundeinkommen, in welcher sich auch viele Linke treffen und in welcher auch sehr oft Wert und Mehrwerttheorien zitiert werden. Einkommen ist ein sehr schönes Wort, aber die Initiative verfolgt einen ganz anderen Ansatz als die Abschaffung der Lohnarbeit. Sie verfolgt mehr im Gegenteil die Erhaltung der Lohnarbeit, indem sie daraus entstehenden Probleme mit Einkommen entschärfen will. Ich glaube, man kann daran sehen, dass es viele Menschen gibt, die eine andere Gesellschaft konstruieren wollen, aber nicht alle stützen sich dabei auf die Analyse von K. Marx. Und das könnte ja damit zusammenhängen, dass viele Marxisten sich immer noch auf der falschen Seite der Werttheorie aufhalten, oder?