Thesen zur AG 4 der MMK 2002

von

Frank Thissen

  1. Menschliche Wahrnehmung zeichnet sich dadurch aus, dass wir Wirklichkeit nicht analysieren, sondern stets konstruieren. Auf der Basis von Sinneseindrücken erschafft sich unser Gehirn eine »Landkarte« (cognitive map) der Welt, d.h. ein Bild davon, wie die Dinge in der Welt sind. (Maturana, Varela, von Foerster, Roth, von Glasersfeld)
  2. In der Kommunikation mit anderen Lebewesen gleichen wir unsere Konstrukte ab. Im Handeln erkennen wir und dieses Handeln ist primär auf die Kommunikation (im weitesten Sinne der Bedeutung) und das Interagieren mit Partnern ausgerichtet. (Maturana)
  3. Die Basis der menschlichen Kommunikation ist nicht die Sachebene (Ratio, Fakten, Linearität), sondern die Beziehungsebene (soziale Handlungsebene, Netzwerke). Wir setzen uns permanent in Beziehungen zueinander und definieren unseren Stellenwert innerhalb unserer sozialen Umwelt. (Watzlawick)
  4. Offensichtlich müssen wir uns sozial und kommunizierend verhalten. Deshalb tendieren wir dazu, Beziehungen (im weitesten Sinne) auch zu Tieren, Pflanzen und unbelebten Dingen aufzubauen. Wir neigen dazu, diese Dinge – wenn sie uns bedeutsam sind – wie menschliche soziale Interaktionspartner zu behandeln und erwarten von ihnen das, was wir von Menschen in sozialen Situationen auch erwarten (z.B. Zuverlässigkeit, Berechenbarkeit, Ehrlichkeit, Authentizität, Kommunikationsbereitschaft etc.) (Reeves/Nass, Weizenbaum).
  5. Das Ziel des Lebens ist primär die Selbsterhaltung (Maturana, Freud, Simon). Was diesem Ziel dient, wird als gut eingeschätzt, was es behindert ist schlecht. Dieses Ziel prägt unsere sozialen und kommunikativen Beziehungen. Sicherheit kommt vor Unsicherheit, Struktur vor Chaos, Ordnung vor Nicht-Ordnung.
  6. Emotionen spielen zum Schutz des Individuums eine wesentliche Rolle. Sie ermöglichen das extrem rasche Handeln in Notsituationen. »Lange« bevor wir uns kognitiv etwas deutlich machen können (Neokortex), hat unser Emotionssystem (limbisches System) jede Situation bewertet und ein Handeln ausgelöst oder mindestens präferiert.
  7. Die Trennung von Kognition und Emotion ist auf der Basis neuerer Forschungen in der Hirnforschung falsch (Damasio, Ledoux, Calvin). Vielmehr hängen die Bereiche des menschlichen Gehirns, die primär für kognitive Prozesse zuständig sind sehr eng mit den Bereichen zusammen, die für emotionale Bewertungen zuständig sind. Diese Bereiche »arbeiten« auf das engste zusammen (Damasio), wobei das emotionale System dominiert.
  8. Alles, was wir tun, denken und empfinden, ist mit einer emotionalen »Duftnote« versehen. Wir können gar nicht anders, als emotional sein – auch wenn wir »nüchtern« analysieren, »scharf« schlussfolgern oder »eiskalt« kalkulieren. (Dies hat nichts mit überschwänglichen Gefühlen zu tun. Auch wenn wir meinen, nichts mehr zu empfinden, bewertet uns Emotionssystem. Oder frei nach Watzlawick: »Ich kann nicht nicht emotional sein.«)
  9. Computer haben für uns zunehmend eine Bedeutung gewonnen. Sie sind inzwischen Teil unserer Kultur, unserer Arbeitswelt und unseres Alltags. Wir sind von ihnen abhängig (vom Computer in der Intensivstation eines Krankenhauses bis zur Störung des Mail-Servers und dem Ausfall des ABS im Auto). Diese Abhängigkeit hat dazu geführt, dass unser soziales und emotionales Verhalten dem Computer gegenüber auch an Bedeutung gewonnen hat (Reeves/Nass, Oberquelle, Maaß, Siefkes). Computer werden häufig nicht mehr als Werkzeuge wahrgenommen, sondern als Medien (Laurel).
  10. Auch in der Mensch-Computer-Interaktion gilt deshalb der Vorrang der Beziehungsebene vor der Sachebene (Watzlawick, Schulz von Thun, Bateson). Da aber Computer nicht intentional kommunizieren, wir aber Intentionen und Beziehungsbotschaften in die Maschine hineininterpretieren (»Nicht der Sprecher, sondern der Hörer bestimmt, was gesagt wurde.« Simon), reagieren wir auf kleinste Signale und Zeichen der Maschine und deuten sie in Hinblick auf den Beziehungsaspekt. Deshalb spielt sowohl die Präsenz des Computers, die sich in seinem Aussehen, vor allem aber im Interface ausdrückt eine Rolle, als auch sein Interaktionsverhalten (z.B. Abstürze, lange Wartezeiten), das dazu führt, dass sich die emotionale Bewertung der Maschine verändert.
  11. Bei der Nutzung von Computern wird das affective computing zukünftig eine wesentliche Rolle spielen.
  12. Bisher gibt es keine umfassenden Konzepte, wie die Schnittstellen und Darstellungsweisen eines Computers angemessen zu gestalten sind. Die Ergonomie (und Informatik) hat sich bisher um die Sachebene gekümmert und die Beziehungsebene vernachlässig. Die Pädagogik beginnt langsam, den Computer als Medium kennenzulernen. Die Psychologie hängt noch an den Themen Kognition, Wahrnehmung und Motivation.
  13. Wir brauchen ein interdisziplinäres Konzept, das Kommunikationsforschung, Hirnforschung, Informatik, Pädagogik, Psychologie, Ergonomie/Arbeitswissenschaft zusammenbringt. Wir müssen lernen von Bereichen wie der »systemischen Psychiatrie« und Verhaltensforschung, dem Dialog, dem Kommunikationsdesign, der Chaosforschung und
  14. Die nahe Zukunft wird sehr spannend.

Karlsruhe, 13.11.2002