Peter Brödner

Die Versöhnung von Feuer und Wasser

Wie die MMK mit dem Geflecht von Organisation und Informationstechnik umgegangen ist

1 Einführung: Die Einheit des Widerspruchs

Landläufigen Vorstellungen zufolge gelten Organisation und Informationstechnik schon immer als feindliche Brüder. Beide leben in ihrer eigenen Welt, haben ihre jeweils eigene Perspektive und Profession und beide erfreuen sich einer organisierten Sympathisantenszene. Häufig treffen sie unversöhnlich aufeinander, und eine Verständigung scheitert meist schon daran, daß man aneinander vorbeiredet. Den einen ist, unter der Rubrik Organisations und Personalentwicklung, die zum Geschäftsfeld passende Bestimmung oder Veränderung von Arbeitsaufgaben und -abläufen, die Rekrutierung geeigneten Personals und die Entwicklung von Qualifikationen wichtig, die anderen denken in informatischen Methoden wie Requirements Engineering, Fachentwurf oder Systemimplementation und -test. Wie soll man sich da verständigen können? Und doch: die Praxis verlangt nach Versöhnung der feindlichen Brüder, nach Zusammenführung und Verflechtung beider Perspektiven. Wenn kollektives Handeln in Organisationen die vom Wettbewerb geforderte Leistung erbringen soll, dann muß nach Wegen gesucht werden, wie Arbeitsaufgaben und -abläufe einer Organisation durch Informationstechnik wirkungsvoll unterstützt, d.h. im Klartext: schneller, besser, kostengünstiger gemacht werden können.

Einsichtigere Zeitgenossen haben denn auch die Informationstechnik (oder Datenverarbeitung, wie sie früher hieß) als „Organisationstechnik“ interpretiert, und der inhärent mediale Charakter vernetzter Computersysteme stützt diese Sicht der Dinge nachdrücklich. Wie Lianen im Urwald durchziehen die Datenflüsse von IT-Systemen die Organisation, nähren sich an den unterschiedlichsten Arbeitsstellen als ihren „Wirtsbäumen“ und verändern deren Wachstum. Etwa im Falle von PPS-Systemen (oder ERP-Systemen, wie sie neuerdings heißen) wird dieses wuchernde Geflecht von Computernetzen und Organisationsstrukturen und -abläufen offensichtlich; unentwirrbar sind beide miteinander verflochten, und einzelne „Workflows“ der IT-Systeme wachsen bereits über Organisationsgrenzen hinweg (so z.B. beim „Supply Chain Management“).

Die Metapher des wuchernden Urwalds legt es schon nahe: den Organisationen ist die Kontrolle der Entwicklung längst entglitten. Empirische Untersuchungen bestätigen immer wieder, wie hilflos und bar jeder rationalen Gestaltung sie dem Einsatz informationstechnischer Systeme ausgeliefert sind. Beispielsweise geben mittelständische Unternehmen „mal eben“ 10 MDM für ein neues ERP-System aus, ohne sich auch nur im geringsten um Leistungsverbesserungen (etwa kürzere Durchlaufzeiten, geringere Bestände und höhere Termintreue) zu kümmern, die dann auch regelmäßig ausbleiben. Demgegenüber zeigen aber Leistungsvergleiche unmißverständlich (wie etwa folgende Abbildung ausweist), daß ökonomisch erfolgreiche Unternehmen weit besser mit IT-Systemen umzugehen verstehen als weniger erfolgreiche. Der Leistungsunterschied liegt immerhin in der Größenordnung der jährlichen Umsatzrendite, d.h., die Art des Umgangs mit IT-Systemen kann über Wohl und Wehe entscheiden – gewiß keine Nebensache. Auch wenn die „Aufgeklärten“ nur eine winzige Minderheit sind, sie beweisen immerhin, daß eine weitaus produktivere Nutzung von IT-Systemen möglich ist.

Damit steht die Versöhnung der feindlichen Brüder auf der Tagesordnung. Es geht um die schwierige, aber offensichtlich doch lösbare Frage, wie eine integrierte Sicht auf Organisationsentwicklung und nützlichen Einsatz von IT-Systemen entwickelt werden kann, wie sich organisatorische Strukturen und Abläufe zusammen mit informationstechnischen Systemfunktionen gestalten und einführen lassen.

Diesen Fragen einer organisatorischen Einbettung von IT-Systemen hat sich die MMK immer wieder unter unterschiedlichen Blickwinkeln zugewendet. Im folgenden werden diese Befassungen mit dem Thema etwas genauer beleuchtet und in den Kontext internationaler wissenschaftlicher Arbeit gestellt.

2 MMK-Blickwinkel auf das Thema

Es begann schon früh – auf der dritten Arbeitstagung im Jahre 1983 1 – mit einer Arbeitsgruppe zum Thema „Prototypenentwicklung und Benutzerbeteiligung“. auch wenn hier der Blick noch nicht auf den Organisationszusammenhang insgesamt gerichtet war, so wurde doch – wohl geboren aus der praktischen Not der Systementwicklung – ein Kernproblem der Gestaltung gebrauchstüchtiger, d.h. sowohl nützlicher als auch nutzbarer, IT-Systeme betrachtet. Im Mittelpunkt stand der Arbeitsprozeß und dessen Veränderungen durch Einsatz von Computersystemen. Zwar lassen sich aus einer Analyse der Arbeitsaufgaben und -abläufe durchaus Anforderungen an eine aufgabenangemessene und benutzergerechte Systemgestaltung gewinnen, wie sich deren Implementation auf die tatsächliche Benutzung auswirken, bleibt dabei aber im vornherein noch weitgehend offen. Immer wieder erweisen sich ermittelte Anforderungen als unzureichend, während sich eine wirkliche Beurteilung der Gebrauchstauglichkeit erst nach Entwicklung und Implementation im realen Arbeitseinsatz als möglich zeigte. Daher lag der Gedanke nahe, damals übliche Vorgehensweisen linearsequentieller Systementwicklung nach dem „Wasserfall“- Modell um zwei Erweiterungen zu modifizieren: um die Beteiligung von Benutzern im gesamten Prozeß der Systementwicklung, um deren praktisches Knowhow von der Anforderungsermittlung bis zur System-Evaluation zu nutzen, und um die vorläufige Entwicklung von Prototypen, um frühzeitig auf Schwachstellen der Gebrauchstauglichkeit aufmerksam zu werden.

Offensichtlich war es ein ergiebiges Thema, das schon auf der nächsten Arbeitstagung seine Fortsetzung fand, nun aber fokussiert auf methodische und instrumentelle Aspekte: „Methoden und Werkzeuge der Anforderungsermittlung und Betroffenenbeteiligung bei der Systementwicklung“. Die Tragfähigkeit von „Prototyping“ und Benutzerinnenbeteiligung zur Schaffung gebrauchstüchtigerer Systeme zeigte sich in jenen Jahren auch außerhalb der MMK, zumindest in Skandinavien und Deutschland. So darf es auch nicht wunder nehmen, daß man sich nun auf praktisch-methodische Aspekte dieser Ansätze, vor allem der Beteiligung, konzentrierte.

Diese Kernfragen einer nutzungsorientierten Systemgestaltung und -einführung bleiben auch fürderhin im Visier der MMK. Nach fünf Jahren (1989) bildeten sie mit zwei Arbeitsgruppen – davon eine zum Thema „Partizipation - Modelle und Maßnahmen“ und die andere zum Thema „Softwareentwicklung und Arbeitsanalyse“ – sogar einen Schwerpunkt des Treffens. Darüber hinaus wendete man sich in einer dritten Arbeitsgruppe zum Thema „Computerunterstützte kooperative Arbeit“ nun auch explizit Kooperationszusammenhängen in der Arbeit zu. Standen zuvor eher einzelne Arbeitsplätze und individuelle Systemnutzung im Vordergrund der Betrachtung, so rückten nun zusätzlich auch die Kooperation in verteilten Arbeitsprozessen und deren soziale Aspekte im Kontext der Organisation in den Blick.

1. Ich stütze mich hier und bei der weiteren Darstellung des historischen Abrisses auf die jeweilige Dokumentation der jährlichen MMK-Arbeitstagungen.

Beide Problemfelder einer verflochtenen Entwicklung von Organisationen und IT-Systemen, die „Berücksichtigung des impliziten Erfahrungswissens des Benutzers bei der Entwicklung von Software und Hardware“ und die „Rolle der Organisationsschnittstelle für die MMK“ wurden bereits zwei Jahre später (1991) wieder aufgegriffen und in je einer Arbeitsgruppe weiter bearbeitet. Im Jahre 1992 wurden dann die beiden Perspektiven der ergonomischen – und das hieß im Sprachgebrauch der MMK vor allem aufgabenangemessenen, benutzungsgerechten und lernförderlichen Systemgestaltung und der Organisationsentwicklung ganz bewußt zusammengeführt und in einer Arbeitsgruppe zum Thema „Organisationsentwicklung und Software-Ergonomie – Gestaltungsfelder der rechnerunterstützten Gruppenarbeit“ aufeinander bezogen.

Zwischenzeitlich war der Problemdruck in der Praxis gewaltig gewachsen. Viele Organisationen drohten in den engen Korsetts ihrer DV-Systeme zu erstarren, sannen daher auf Ablösung oder auch sachgerechtere Integration. Das Beratungsgeschäft zu diesen Problemen blühte regelrecht auf („Wir retten PPS-geschädigte Unternehmen“ – so etwa ein Akquisitionsslogan). Diese Entwicklung spiegelte sich auch in den beiden Arbeitsgruppen- Themen des Jahres 1993 „Software-Entsorgung“ und „Praxis integrierter Systementwicklung und -gestaltung“ wider. Damit geriet nun berechtigterweise die Gesamtproblematik von Organisationsentwicklung und darin eingebetteter Gestaltung und Implementation von IT-Systemen in den Blick. Sie verlangte nach angemessenen Vorgehensweisen bei integrierten Prozessen organisatorischtechnischen Wandels.

In der Arbeit an dieser Problematik organisationalen Wandels wurden schnell auch das Beharrungsvermögen und die Widerständigkeit von Organisationen gegen Veränderungen deutlich, die sich nicht einfach durch „vernünftige“ methodengestützte Gestaltung überwinden lassen. Damit rückte die Frage danach ins Blickfeld, wie Organisationen überhaupt zu gewollten Veränderungen veranlaßt werden können (daß sie sich verändern, steht ja außer Frage). Ihr wurde 1995 in einer Arbeitsgruppe zum Thema „Irritation als Methode“ im einzelnen nachgegangen. Zugleich wurde aber auch in einer zweiten Arbeitsgruppe darüber nachgedacht, wie die „Flexibilität von Workflowmanagementsystemen“ erhöht werden kann, um organisatorisch verteilte Arbeit wirkungsvoller als bislang unterstützen zu können. Zuletzt wurde 1999 in der Arbeitsgruppe „Intranet-Einführung“ am Beispiel der Realisierung von Intranets in Organisationen ganz praktisch erprobt, wie beteiligungsorientierte Organisationsentwicklung bewerkstelligt werden kann. Dieser kurze Abriß der Befassung mit Kernproblemen der Verflechtung von Organisationsentwicklung und Gestaltung von IT-Systemen in der nun 20jährigen Geschichte der MMK macht vor allem dreierlei deutlich:

Erstens, man hat sich schon frühzeitig mit einem sehr wichtigen und praktisch immer drängender werdenden (und letztlich bis heute ungelösten) Problemfeld der Nutzung von IT-Systemen in realen Arbeitsprozessen auseinandergesetzt. Diese intensive, immer wieder aufgegriffene und fortgeführte Beschäftigung weist (trotz aller Blickwechsel und Wendungen im Detail) hohe Stabilität und Kontinuität – man könnte auch sagen: folgerichtige Hartnäckigkeit – auf.

Zweitens, in den einzelnen Variationen des Themas im Verlaufe der Zeit spiegelt sich einerseits recht gut der Verlauf des wissenschaftlichen Diskurses zum Thema wider (der allerdings stets neben dem Mainstream verlief). Andererseits ist dem Verlauf auch deutlich anzumerken, wie die einzelnen Themen und Perspektiven in den Kontext jeweils konkreter Projektarbeit in Forschung und Beratung außerhalb der MMK eingebunden sind (beispielsweise Prototyping und Partizipation zu Beginn, später die Berücksichtigung von Erfahrungswissen oder die Probleme organisationalen Wandels). Das zeigt: es war keine Arbeit im Elfenbeinturm.

Drittens, gerade an diesem Themenfeld hat die MMK ihre besondere Qualität als Forum wirksamer Verständigung über vielerlei Grenzen hinweg unter Beweis gestellt – über disziplinäre Grenzen zwischen Organisationssoziologen, Arbeitswissenschaftlern und Informatikern, aber auch über Grenzen zwischen Forschern und Beratern hinweg. Zugespitzt gesagt: Die MMK hat mit diesem Thema schon früh das „richtige“ (weil höchst relevante) Problem aufgegriffen und auch „richtig“ (weil interdisziplinär und multiperspektivisch) angepackt – und ist dennoch „vorbei gesprungen“. Noch immer liegt sie mit ihren Problemverständnissen und Erkenntnisse nicht (mehr) ganz, aber doch eher außerhalb des Mainstreams, noch immer werden in Forschung und Lehre die Gestaltung und Implementation von IT-Systemen unabhängig von der Organisationsentwicklung, getrennt von unterschiedlichen Disziplinen behandelt (notdürftig vermittelt durch das „Requirements Engineering“), noch immer meinen Organisationen, in der Praxis beides getrennt voneinander vorantreiben zu können. Allenfalls in wenigen aufgeklärten Unternehmen und in avancierteren FuE-Projekten wird das Problem der Verflechtung von IT-Systemgestaltung und Organisationsentwicklung in integrierter Perspektive angegangen (so etwa jüngst im ORGTECH-Projekt (2000) oder im TEAMS-Projekt (Beyer/Paul 2000)). Das wirft natürlich ernste Fragen nach der Wirksamkeit der Arbeit der MMK auf. Ihnen wird nun nachzugehen sein.

3 Wie steht es auf internationaler Bühne um das Thema?

Auch wenn die unmittelbaren Wirkungen im Hinblick auf eine Reorientierung des wissenschaftlichen und praktischen Umgangs mit der Verflechtung von Organisationsentwicklung und IT-Systemgestaltung sehr gering sind, hat die MMK bei diesem Thema bemerkenswert Positives bewirkt. Ohnehin hieße es die Möglichkeiten einer kleinen Gruppe von interdisziplinären Forschern und Beratern gewaltig zu überschätzen, wenn von ihr nennenswerte Wirkungen der Reorientierung erwartet würden. Dazu ist die einschlägige „Scientific Community“ viel zu groß, komplex und beharrend, als daß ihre eigene Dynamik durch wenige Personen erkennbar beeinflußt werden könnte.

Gleichwohl brauchen die Ergebnisse der vielfältigen Arbeitsgruppen der MMK den Vergleich mit dem Fortgang der Erkenntnisse auf der internationalen Bühne des wissenschaftlichen Diskurses nicht zu scheuen. Der Wandel und die wechselseitige Einflußnahme vollziehen sich eher unter der Hand und im Verborgenen. Die Arbeitsgruppen der MMK standen jedenfalls des öfteren bei unterschiedlichen Aspekten des Themas in der vordersten Linie des Erkenntnisfortschritts. Man darf sie also auf diesem Feld getrost zu den Pionieren rechnen. Das soll im folgenden an einigen Punkten beispielhaft belegt werden. So hat sich etwa die MMK schon sehr früh und mehrfach, ab dem Jahre 1983, mit den Möglichkeiten, Methoden und Vorgehensweisen der direkten Beteiligung von Benutzerinnen an der Systementwicklung und -einführung beschäftigt. Besonderes Augenmerk lag dabei auf der Berücksichtigung des Erfahrungswissens derjenigen, die mittels der vorgesehenen Computersysteme ihre Arbeitsaufgaben zu bewältigen haben. Diese Perspektive beruhte wesentlich auf der Einsicht, daß sich Arbeitsprozesse nur begrenzt analysieren und Computersysteme apriori nur unvollständig spezifizieren lassen. Damals gab es in Deutschland und in Skandinavien die ersten Forschungsgruppen, die an diesen Fragen arbeiteten, während ihnen in den USA und anderswo keine Aufmerksamkeit zuteil wurde (sie wurden dort erst ein gutes Jahrzehnt später zum Thema, vgl. etwa Schuler & Namioka 1993).

Waren diese Bemühungen um aufgabenangemessene und benutzungsgerechte Systemgestaltung in den achtziger Jahren noch ganz überwiegend auf die Nutzung von Computersystemen an einzelnen Arbeitsplätzen ausgerichtet, so rückten zu Beginn der neunziger Jahre auch verteilte Arbeitsprozesse, vor allem kooperative Arbeit in Gruppen, in den Blickpunkt. Dies geschah in etwa parallel zum Vordringen vernetzter Computersysteme und zu dem allgemein stark wachsenden Interesse an „Computer Supported Cooperative Work“, das sich als neues Fachgebiet der Informatik etablierte. Während hier freilich überwiegend Fragen nach der technischen Funktionalität und der methodischen Gestaltung der Entwicklungs- und Implementationsprozesse im Vordergrund standen, wandte sich die MMK schon bald einigen Kernfragen der organisatorischen Einbettung vernetzter Computersysteme und deren kollektiver Nutzung als Medium zu.

Im Mittelpunkt stand dabei die Erkenntnis, daß mit der stärker medialen Nutzung der Computersysteme tief in organisatorische Strukturen und Abläufe eingegriffen wird. Derart vernetzte und kollektiv genutzte Computersysteme stellen einerseits neue Handlungsanforderungen an das kollektive Handeln der Mitglieder einer Organisation, andererseits eröffnen sie auch ganz neue Handlungsmöglichkeiten, die etwa von E-Mail über Application Sharing bis zu Vorgangssteuerungssystemen reichen (und auch über Organisationsgrenzen hinweg genutzt werden können). Indem sie nun nicht mehr nur als individuelles Arbeitsmittel, sondern auch als Medium der Kooperation und als externalisiertes Gedächtnis der Organisation genutzt werden, verändern sie sowohl die expliziten Strukturen und Abläufe der gemeinsamen Arbeit als auch das gewachsene System der sozialen Beziehungen der Organisation, also etwa die ungeschriebenen Regeln der Sinngebung, das Machtgefüge oder auch die Legitimation von Handlungsweisen.

Zu informationstechnisch induzierten Neuerungen hinzu kamen gerade in den achtziger und neunziger Jahren tiefgreifende organisatorische Veränderungen, die nach Prinzipien objektorientierter (statt wie bisher funktionaler) Organisation darauf abzielten, weit mehr Handlungsspielraum zu gewähren und Handlungskompetenz zu entfalten, um so die Unsicherheiten turbulenter Umfelder besser bewältigen zu können. Beispiele für diese neuen, auf selbstorganisierter Kooperation aufbauender Organisationsformen sind etwa Produktsegmente, teilautonome Arbeitsgruppen oder Concurrent Engineering Teams. Sie stellen ihrerseits neue Anforderungen an Gestaltung und Nutzung vernetzter Computersysteme, die immer mehr zum integralen Teil der Organisation werden.

So ist es nicht verwunderlich, daß man bei Versuchen, die Möglichkeiten neuer Organisationsformen und vernetzter Computersysteme insgesamt effektiv zu nutzen, schnell auf die schwierigen Fragen nach der Veränderbarkeit von Organisationen stößt. Organisationaler Wandel bedeutet vor allem, sich auf Prozesse gemeinsamen Lernens einzulassen, in denen nicht nur neue Arbeitsformen und -abläufe zu gestalten und anzueignen sind, sondern zugleich auch gewohnte, kollektiv verankerte und geteilte Denkweisen, Handlungsmuster und Einstellungen passend mitverändert werden müssen. Mit den Themen der „Softwareentsorgung“ (einschließlich der Aufgabe überholter Denkweisen über Computersysteme), der „Praxis integrierter Systementwicklung und -gestaltung“ oder „Irritation als Methode“ in den Jahren 1993 und 1995 hat sich die MMK vergleichsweise schon früh wichtigen Aspekten organisationalen Wandels gestellt.

Auf internationaler Bühne des wissenschaftlichen Diskurses ist diesen Fragen einer in organisationalen Wandel eingebetteten und eingeflochtenen informationstechnischen Entwicklung vorerst nur vereinzelt, aber wohl doch mit deutlich zunehmender Tendenz Aufmerksamkeit geschenkt worden. Dabei muß freilich offen bleiben, ob nicht unternehmerische Praxis stellenweise deutlich weiter gediehen ist, als es der wissenschaftliche Diskurs vermuten läßt (wofür zumindest einige einschlägige vergleichende Fallstudien sprechen, vgl. etwa Davenport 1998, Maucher 1998 über den Einsatz von PPS- bzw. ERP-Systemen). Hier wird noch einmal deutlich, daß mit angemessenen Vorgehensweisen einer integrierten Entwicklung von Organisation und IT-Systemnutzung schneller bessere Ergebnisse erzielt werden können.

Zunehmend erscheinen auch auf einschlägigen internationalen Tagungen und in Zeitschriften Beiträge, die sich unter theoretischer oder methodischer Perspektive mit der Verflechtung von informationstechnischer Systemgestaltung und -einführung und zugehöriger Organisationsentwicklung befassen oder als Fallstudien über Erfahrungen aus der Praxis berichten (vgl. beispielsweise Badham & Ehn 2000 oder Orlikowski & Hofman 1997). So geben etwa auch die internationalen Konferenzen HCI, HAAMAHA oder CSCW diesen Fragen in den letzten Jahren gewissen Raum.

Am weitesten gehend ist diesen Fragen integrierter Organisationsentwicklung und Systemgestaltung wohl auf theoretischer Ebene Aufmerksamkeit zuteil geworden. Hier sind mittlerweile verschiedene, aber doch nahe beieinander liegende Ansätze zu verzeichnen, ein einheitliches Verständnis technischer, sprachlicher und organisatorischer Artefakte und der Bedingungen und Möglichkeiten ihrer Veränderung zu entwickeln. Sie können als Orientierung und Leitfaden praktischer Veränderung dienen und liefern den Hintergrund für angemessene Vorgehensweisen und Methoden. Wichtige Meilensteine auf diesem Wege einer grundsätzlichen Reorientierung wurden etwa von Winograd und Flores (1986) und von Ehn (1988) gesetzt (im weiteren Verlauf vgl. auch Winograd 1996, Grudin 1994 sowie zu methodischen Aspekten die Schwerpunkthefte CACM 36 (1993) No. 4 und CACM 38 (1995) No. 9). Am vielversprechendsten und am weitesten gediehen erscheinen derzeit handlungsorientierte Theorien der Entwicklung und Nutzung technischer Artefakte, mit denen ein paßgenauer Anschluß an moderne sozialwissenschaftliche Theorien kollektiven Handelns gelingt (vgl. Brödner 1997, Nardi 1996, Orlikowski 1993).

4 Schlußbemerkungen

Mit Blick auf Gestaltung und Gebrauch komplexer Softwaresysteme im Kontext von Organisationen ist – neben dem Fortbestehen herkömmlicher, eher technikzentrierter Sichtweisen – auch eine grundsätzliche und weitreichende Reorientierung zu verzeichnen: von der informationstechnischen Perspektive sequentieller Systementwicklung und -einführung zur Perspektive der Gestaltung von „Interaktionsräumen“ und „organisationalem Lernen“. Diese widersprüchliche Entwicklung spiegelt sich etwa auch in dem Buch „Beyond Calculation. The Next Fifty Years of Computing“ (Denning & Metcalfe 1997) deutlich wider, wo die neue Sicht der Dinge im Beitrag von Terry Winograd folgendermaßen gekennzeichnet wird: „Computer systems and software are becoming media for the creation of virtualities: the worlds in which users of the software perceive, act, and respond to experiences. … Succesful interaction design requires a shift from seeing the machinery to seeing the lives of the people using it. … Innovations deal with the larger context in which information technology is deployed“ (153, 160). Nimmt man dieses Buch als Meßlatte, dann darf sich die MMK rühmen, sich schon früh und ausgiebig den Herausforderungen integrierter Organisationsentwicklung und Systemgestaltung gestellt und so dazu beigetragen zu haben, der neuen Perspektive einen Weg zu bereiten. Damit kann sie künftigen Aktivitäten in dieser Richtung gut gerüstet entgegensehen.

Literatur

Badham, R.; Ehn, P., 2000: Tinkering with Technology: Human Factors, Work Redesign, and Professionals in Workplace Innovation, Human Factors and Ergonomics in Manufacturing, Vol. 10 (1), 61-82
- Beyer, L.; Paul, H., 2000: Projekt TEAMS. Telekooperation unter Einsatz von Application Sharing und Multimedialen Systemen in der Verwaltung, Abschlußbericht, Gelsenkirchen: IAT
- Brödner, P., 1997: Der überlistete Odysseus. Über das zerrüttete Verhältnis von Menschen und Maschinen, Berlin: edition sigma
- Davenport, T. H., 1998: Putting the Enterprise into the Enterprise System, Harvard Business Review July-August, 121 - 131
- Denning, P. J.; Metcalfe, R. M. (Eds.), 1997: Beyond Calculation. The Next Fifty Years of Computing, Berlin Heidelberg New York: Springer
- Dokumentation der jährlichen MMK-Arbeitstagungen
- Ehn, P., 1988: Work-Oriented Design of Computer Artifacts, Stockholm: Arbetslivscentrum
- Grudin, J., 1994: Groupware and Social Dynamics: Eight Challenges for Developers, CACM 37, No.1, 92-105
- Maucher, I. (Hg.), 1998: Wandel der Leitbilder zur Entwicklung und Nutzung von PPS-Systemen, München: Hampp
- McKinsey 1993: Einfach überlegen. Das Unternehmenskonzept, das die Schlanken schlank und die Schnellen schnell macht, Stuttgart: Schäffer-Poeschel
- Nardi, B. A. (Ed.), 1996: Context and Consciousness: Activity Theory and Human-Computer Interaction, Cambridge (MA): MIT Press
- ORGTECH-Projekt 2000: Telekooperation für kleine und mittlere Unternehmen, http://orgtech.cs.uni-bonn. de/index.htm
- Orlikowski, W.J., 1992: The Duality of Technology: Rethinking the Concept of Technology in Organizations,
- Organization Science 3 (3), 398 - 427
- Orlikowski, W. J.; Hofman, J.D., 1997: An Improvisational Model for Change Management: The Case of Groupware Technologies, Sloan Management Review Winter 1997, 11-21
- Schuler, D.; Namioka, A. (Eds.), 1993: Participatory Design. Principles and Practices, Hillsdale (NJ): Erlbaum
- Wegner, P., 1997: Why Interaction Is More Powerful than Algorithms, CACM 40 No.5, 81-91
- Winograd, T. (Ed.), 1996: Bringing Design to Software, Reading (MA): Addison-Wesley
- Winograd, T.; Flores, F., 1986: Understanding Computers and Cognition. A New Foundation for Design, Norwood: Ablex Publ.