Zur Bedeutung von Sprachkommunikation für blinde Menschen

Wolfgang Wünschmann

Technische Universität Dresden, Institut für Angewandte Informatik

wuenschmann@inf.tu-dresden.de

Abstract: Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen, insbesondere blinde Menschen müssen für den Zugang zu Informationen in der Regel einen beträchtlich höheren Zeitaufwand

betreiben als sehende Menschen. In diesem Zusammenhang kommt dem interaktiven Gebrauch natürlicher Sprache besondere Bedeutung zu. Für eine effiziente Gestaltung der dabei auftretenden Interaktionsformen kommt der Strukturierung sprachlich vermittelter Inhalte besondere Bedeutung zu. Die in Entwicklung befindliche Technologie digitaler Hörbücher weist den Weg, auf dem künftig traditionelle Kommunikationsformen blinder Menschen eine höhere Flexibilität erhalten könnten.

1. Einleitung

Der nachfolgende Beitrag ist absichtlich unter Verzicht auf jedwede Art bildhafter Darstellu-ngen verfasst worden. Dies soll verstanden werden als Referenz an blinde Menschen und als Denkanstoss für sehende Menschen.

Die Besonderheiten der natürlichen Sprache des Menschen innerhalb seiner kommunkativen Möglichkeiten sind allgemein bekannt und werden dem jeweiligen kulturellen Niveau einer Gesellschaft entsprechend eingesetzt. Weniger bewusst ist den meisten Menschen der beson-dere Stellenwert sprachlicher Kommunikation für blinde Menschen. Er darf nicht leichtfertig mit "Ersatz" für visuelle Kommunikation verstanden werden. In Abwandlung einer weit ver-breiteten Redewendung zum Vergleich der Situation blinder und gehörloser Menschen sollte gelten: Wenn Blindheit schon eine deutliche Trennung von den Dingen bewirkt, so sollte die natürliche Sprache um so qualifizierter für eine intensive Bindung zu den Meschen genutzt werden. Qualifiziert soll hier heissen, Sprache hinsichtlich von Inhalt, Struktur und Form an ihren Zweck im Gebrauch mit blinden Menschen anpassen, soll heissen zu versuchen, die Erwartungshaltung eines blinden Menschen in den Gebrauch (oder Nichtgebrauch) von Spra-che einzubeziehen. Es liegt nahe, bei einer solchen Betrachtungsweise auch die Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes elektronischer Hilfen mit einzubeziehen. Dies soll im nachfolgenden Beitrag jedoch weniger im technischen Detail als vielmehr hinsichtlich ihrer Wirksamkeit mit Bezug zur Lebenssituation, zu kommunikativen Besonderheiten blinder Menschen erfolgen.

Die Erfahrungsquellen des Autors zum gewählten Thema liegen hauptsächlich in zehnjähriger Tätigkeit zur Gewährleistung von Nachteilsausgleich für blinde und sehbehinderte Studierende an der Technischen Universität Dresden.

2. Ein wenig Sprachphilisophie

Wie bei allen Medienströmen so auch bei natürlicher Sprache ist der Mensch bestrebt, diesen interaktiv zu nutzen. Interaktive Nutzung soll hier heissen: Beginnen, beenden, beschleunigen, bremsen, wiederholen, speichern, transformieren, korrigieren, ergänzen.....Es ist eine Frage der Kultur (Kultur als System von beeinflussbaren Erwartungshaltungen der Individuen einer Gesellschaft), welche Reichhaltigkeit an Interaktionsmethoden existiert und praktiziert wird.

Der Gebrauch von natürlicher Sprache betrifft das Hören, das Sehen, die Motorik (Sprech-vorgang, Mimik, Gestik) eigentlich als einen ganzheitlichen Vorgang.

Werden Teile davon ausgeblendet, besteht für alle Beteiligten an solcherart modifizierten Kommunikationsbedingungen die Herausforderung, die verbleibenden Möglichkeiten bewusster zu nutzen. Das muss nicht zwangsweise zu Kommunikationsbeziehungen mit eingeschränkter Erlebnistiefe führen. Das Gegenteil ist möglich: Im Theater wird der Zuschauerraum abgedunkelt, in der Antike haben Philosophen die visuellen Eindrücke der Welt absichtlich ausgeschaltet, "um klarer denken zu können". Oft sieht man sowohl Kinder als auch Erwachsene beim Kopfrechnen die Augen schliessen. Kulturhistoriker behaupten, Homer sei blind gewesen. Es scheint zulässig zu sein, dem Werkzeug "natürliche Sprache" eine Gebrauchstauglichkeit zuzuordnen (Effektivität, Effizienz, Zufriedenheit, Kontextbezug).

Für Werkzeuge gibt es in der Regel verantwortliche Eigentümer, verantwortlich vor sich selbst und vor der Gemeinschaft. Die bewusste Suche nach den Interaktionsmechanismen beim Einsatz natürlicher Sprache kann ein ausgesprochenes Vergnügen bereiten insbesondere, wenn technische Systeme konzipiert werden, die an natürlichsprachliche Kommunikation optimal angepasst sein sollen. Man könnte als Hilfe dafür danach fragen, wie natürliche Sprache ihre Interaktionsmöglichkeiten selbst beschreibt. Systemeingaben z.B. zur Ausführung der Funktion "Halt" können visuellen und (oder) akustischen Charakter besitzen. Dafür gibt es Konventionen, Beispiel: "über den Mund gelegter Zeigefinger" und gelegentlich zusätzlich zur Sicherheitserhöhung oder bei fraglichen visuellen Kommunikationsbedingungen Verwendung der Lautkombination "pssst".

Richtig "hinhören" bedeutet "Untertöne", d.h. überlagerte, ggf. modifizierende Bedeutung erkennen. Richtig "zuhören" bezieht sich meist auf das Ausmass an Aufmerksamkeit.

"Mal ‘reinhören" soll abschätzende, beispielhafte Eindrücke vermitteln.

Es gibt Ausdrucksformen für sprachliche Interaktivitäten mit Doppelbedeutungen, einerseits "auf die Wahrnehmung bezogen" und andererseits "auf das Erfassen von Semantik bezogen", die für allen Arten menschlicher Wahrnehmung existieren - vgl. "begreifen", "verstehen", "durchschauen", "erriechen", "geschmacklos sein".

Die vorstehenden Gedanken sollten vorbereitend wirken, vorbereitend auf eine besondere Sicht auf den Stand und die Perspektiven der Nachbildung natürlichsprachlicher Interaktionsformen des Menschen in technischen Systemen. Darin liegt besondere Bedeutung für blinde Menschen oder, wie zunehmend analog diskutiert wird, für Menschen in besonderen, meist als gefährlich bezeichneten Situationen. Eine solche Sicht ist jedoch nicht neu: Die Geschichte der Erfindung einer tastbaren Schrift besitzt mehrere enge Beziehungen zur Entwicklung einer "in Dunkelheit (militärisch) nutzbaren Schrift".

 

3. Zur Bedeutung strukturierten Denkens und Handelns

3.1 Strukturierte Hörbücher

Die anspruchsvollste technische Entwicklung zur interaktiven Nutzung natürlicher Sprache

- speziell für Menschen, die gedruckte Informationen nicht lesen können (das sind nicht nur blinde Menschen) - vollzieht sich im Bereich der Technologien für Generierung, Verarbeitung

und Präsentation strukturierter elektronischer Dokumente. Basis ist die Digitaltechnik.

Für die Bedürfnisse vieler blinder Menschen, die (meist aus Altersgründen) keine Punktschrift mehr erlernen können, wurden und werden seit Jahrzehnten "Hörbücher" produziert und vorzugsweise über spezialisierte Bibliotheken (Hörbüchereien) vertrieben. Gedruckte Textvorlagen werden meist durch Schauspieler in Studios nach den Prinzipien klassischer Analogtechnik auf Magnetbänder aufgesprochen. Vereinbart über spezielle Richtlinien werden zusätzlich zum Sprachsignal Steuersignale aufgezeichnet, die zur Unterstützung der Navigation beim Abhören, Kopieren, selektiven Löschen und anderen Aktionen bezüglich der gesprochenen Texte dienen. Stark eingeschränkte Vielfalt unterscheidbarer Suchmarken / Lesezeichen, praktisch fehlende Kommentarmöglichkeiten und vor allem hoher Zeitbedarf beim Suchen in umfangreichen Texten führten zu unterschiedlichen Versuchen, das Analogprinzip mit seiner auf anderem Weg (vorerst?) unerreichbaren Ausdrucksstärke mit Digitaltechnik zum Zweck einer zusätzlichen Strukturierung zu kombinieren.

"Digitaltechnik" bezieht sich sowohl auf digital abgespeichertes Sprachsignal als auch auf digital abgespeicherte Strukturmerkmale, um Suchfunktionen und nichtlineares Lesen (Hypertexte) zu ermöglichen.

Es sei hier betont, dass für blinde Menschen die Interaktion mit Texten, die in natürlicher Sprache (analog oder digitalisiert) gespeichert vorliegen, besondere Bedeutung besitzt.

Während für sehende Menschen die jeweiligen Texte in gedruckter Form beim suchenden und überfliegenden Lesen durch Layout-Konventionen viele Orientierungsmöglichkeiten und damit hohe Effizienz in der Benutzung bieten, besitzt für blinde Menschen, die Punktschrift nicht oder nur langsam lesen können, die Unterstützung von suchendem und überfliegendem Hören eine extrem hohe Bedeutung. Das Hauptkriterium dafür ist möglicher Zeitgewinn.

Zu diesem Ploblem setzte 1988 mit dem Projekt DAISY (Digital Audio-based Information System) [1] die Erarbeitung eines internationalen Standards ein, der bisher noch nicht abgeschlossen und mit der parallelen Entwicklung von Editier- und Lesesystemen verbunden ist. Die in dem Projekt zu lösenden Kernprobleme liegen in den Fragestellungen

- wie kann man fliessende Sprache von mehr als 20 Stunden Dauer auf einer einzelnen

CD-ROM speichern und

- wie kann man in dieser Datenmenge auf der Grundlage eines zweckmässig ausgelegten

Inhaltsverzeichnisses effizient navigieren.

Der bis heute verfolgte Lösungsansatz beruht auf einer satzweisen Untergliederung des gesam-ten Fliesstextes kombiniert mit zusätzlichen Strukturauszeichnungen (Markup) nach den Prin-zipien von SGML / XML / HTML [2].

Das Einfügen von Strukturinformation (Markup-Zeichenfolgen) innerhalb fliessend gesprochenen Textes bringt es mit sich, dass hoher Entwicklungsaufwand für spezielle Dokumenteditoren und spezielle Lesesysteme erforderlich ist. Dieser Aufwand zwingt zugleich zu weltweiter Kooperation hinsichtlich Übereinkünften zu für blinde Menschen bedeutsamen Strukturmerkmalen und somit zu Strukturauszeichnungen in digitalisierten Hörbüchern.

Eines der für zukünftige Arbeiten auf diesem Gebiet bedeutsamsten Probleme liegt in der Anpassung der Strukturauszeichnungen an den Verwendungszweck (an die Aufgabenbezogen-heit) des Umganges mit den in natürlicher Sprache vorliegenden Informationen. Dahinter verbirgt sich auch die Herusforderung, die im Layout für gedruckte Versionen gesprochener Sprache nach gewissen Konventionen erfolgende Vermittlung von Strukturmerkmalen (z.B. "Dokumenttitel") in Konventionen für akustische Wiedergabe strukturierter Texte zu überführen.

Zu diesem Problemkreis zählt auch die interessante Fragestellung nach dem "Wie" bei der An-wendbarkeit des Prinzips der Information Mapping ® - Methode [3], [4].

Es gibt Erkenntnisse, wie durch die Kombination der Strukturierung von Dokumenten mit zweckmässigem Layout beträchtliche Vorteile in deren Gebrauchstauglichkeit erzielt werden können [5]. Dabei kommt beispielsweise tabellarischen Darstellungen eine (für sehende Benutzer ) bedeutsame, effizientes Lesen unterstützende Rolle zu. Für blinde Menschen ergeben sich jedoch aus tabellarischen Präsentationsformen in der Regel beträchtliche Nachteile. Es stellt sich hier die interessante, bisher nicht zufriedenstellend gelöste Frage, welche akustischen Präsentationsformen für in natürlicher Sprache strukturiert gespeicherter Dokumente auf äquivalente Art effizientes Hören unterstützen können.

Da es in vielen Fällen nützlich ist, gesprochenen Text zusätzlich in buchstäblicher (ASCII) - Codierung nutzen zu können (für zeichengenaues Lesen und für allgemeine Textverarbeitung) existiert als Ergänzung zum digitalisierten Hörbuch nach dem DAISY-Konzept der Versuch, geschriebene (buchstabierbare) und gesprochene Versionen natürlichsprachlicher Texte mit-einander zu kombinieren. Dieser Versuch hat zur Technologie der "Hybridbücher" geführt

[6], die für die Zukunft wachsende Chancen einer praktischen Verbreitung erhalten wird.

Wie jedoch die Methoden der OCR (Optical Character Recognition) bei flüchtig, instationär geschriebener Sprache noch viele offenen Fragen enthalten, so wird es auch noch lange Zeit offene Fragen der flüchtig gesprochenen Sprache geben. Das automatisierte Erkennen von Strukturmerkmalen besitzt in diesem Zusammenhang einen noch höheren Schwierigkeitsgrad. Die im natürlichen Dialog vorkommende Frage "Wie meinst Du das?" signalisiert, dass Sprachverarbeitungsautomaten unüberwindbare Grenzen besitzen werden, Grenzen, die in irgendeiner Form mit den Grenzen menschlicher Intelligenz gekoppelt sein werden. Dennoch, aktuelle und erst recht kommende Sprachverarbeitungstechnologien werden für blinde Menschen Zugangsmöglichkeiten zu in natürlicher Sprache formulierten Botschaften

anderer Menschen finden, die derzeit noch als utopisch gelten. Es wird darauf ankommen, Eindeutigkeit dort zu vermitteln, wo sie erforderlich ist und Unschärfe bzw. Interpretations-spielraum dort, wo es der Natur des menschlichen Individuums entspricht.

Zurück zum "Hybridbook", dessen Technologie besitzt nach Ansicht des Autors hohe Attraktivität im Zusammenhang mit modernen Ansätzen zu kontextbezogenem, variablem Einsatz elektronischer Dokumente bei computergestütztem Lehren und Lernen, vgl. auch [7].

Das Projekt CHAMELEON [8] benutzt einen Ansatz zur Gestaltung von Dokumenten-generatoren für Lehr- und Lernzwecke, bei dem die inhaltliche Struktur multimedialer Dokumente mit einer didaktischen Struktur (mit Hilfe einer entsprechenden Beschreibungs-sprache - TeachML - ) verbunden wird. Für blinde Menschen würden schwerwiegende Barrieren bei der Benutzung solcher Systeme existieren, wenn es nicht gelingen würde, durch vielseitige Verwirklichung des Prinzips der "multimodalen Benutzung multimedialer Dokumen-te" bisher existierende Transformationsregeln zur Überführung grafisch bzw. bildhaft vorlie-gender Informationen in natürlichsprachliche Präsentationen zu erweitern. Das Grundprinzip des Projektes CHAMELEON kann als hoffnungsvolle Basis gelten, Studien- und (oder) In-struktionsmaterial nach der Art des "Hybridbook" adaptierbar an besondere Bedürfnisse der Benutzer einzusetzen.

3.2 Strukturen von Grafik und Sprache

Als für blinde Menschen schwierig zu handhabende Gedankenkonstrukte sind jene anzusehen, bei denen sehende Menschen anstelle fliessender natürlicher Sprache zweidimensionale visuelle Präsentationen zu Hilfe nehmen. Dazu zählen mathematische Ausdrücke, Grafen, Diagramme, Tabellen und ähnliche, meist zweidimensionale Gebilde.

Die Benutzung von natürlicher Sprache zur Erleichterung des Zuganges zu solchen Beschrei-bungen komplexer Inhalte mit meist streng geordneten Wechselbeziehungen ist nur ein mög-licher Weg. Es gibt hochinteressante Konzepte, die ergänzend zur menschlichen Sprache zu-sätzliche Signalformen aus der Welt akustischer Erscheinungen nutzen, teilweise synchron oder asynchron kombiniert mit Informationen, die über den taktilen Kommunikationskanal des

Menschen übermittelt werden.

Allein schon die Präsentation mathematischer Ausdrücke (für lesende Benutzung) stellt ein anspruchsvolles Problemfeld dar, um ein Vielfaches schwieriger ist die Technologie für inter-aktive Benutzung mathematischer Ausdrücke (umformen, vergleichen, korrigieren, ....). Es ist sofort erkennbar, dass die Verwendung spezieller Zeichen zur strukturierten Abkürzung von in fliessender Sprache beschriebenen mathematischen Relationen für sehende Menschen eine wichtige Rationalisierungshilfe darstellt. Beispiel: Verbale Beschreibung:

fünfzehn minus neun ist gleich eintausendfünfundzwanzig minus eintausendneunzehn

Beschreibung mit grafischen Sonderzeichen: 15 - 9 = 1025 - 1019.

Für komplexere Ausdrücke wächst der Vorteil grafischer Darstellungen der mathematischen Struktur. Es besteht für blinde Menschen, selbst für jene, die trainiert sind, mathematische Notationen im Quellcode elektronischer Satzsysteme (z.B. als LaTEX-Code) zu nutzen der Wunsch, "einen schnellen Überblick", "eine grobe Vorstellung", "einen Gesamteindruck" von

der Struktur eines mathematischen Ausdrucks zu erhalten.

Es ist nicht abwegig, einen solchen Eindruck über das Hören zu vermitteln und zwar in gegen-über natürlicher Sprache abkürzenden Form: Durch Einsatz musikalischer Elemente.

Zu einem diesbezüglichen Vorschlag [9] existiert ein relativ fundiertes theoretisches Konzept, dessen Weiterentwicklung und ausführlichere praktische Erprobung eine interessante interdisziplinäre Herausforderung darstellt.

Die Benutzung von Analogien zwischen der Bezeichnungsweise für akustisch und mechanisch (haptisch) wahrnehmbare Ereignisse hat in Verbindung mit Prinzipien der elektronischen Datenverarbeitung zu weiteren, neuartigen Versuchen geführt, für sehende Menschen auf grafischem Wege eingeführte "Denkhilfen" für blinde Menschen auf akustischem Weg zu bewirken. So wurde ein System entwickelt [10], bei dem der geometrische Verlauf zweidimensionaler mathematischer Funktionen (hohe und niedrige Werte auf der Ordinate eines kartesischen Diagramms) durch Ausgabe hoher und tiefer Töne in Abhängigkeit von meist automatisch, zeitlinear variierten Abszissenwerten erfolgte.

Komplexere akustische Muster sind eingesetzt worden, um bei den sogenannten "Grafischen Benutzungsoberflächen" sprachliche Begriffe für Icons (z.B. das Öffnen eines Fensters) verkürzend durch quietschende Geräusche einer Tür zu ersetzen.

Solche Verfahren befinden sich in experimentierenden Stadien, es ist derzeit nicht mit Sicherheit zu erkennen, inwiefern die Entwicklung von Piktogrammen für sehende Menschen zu sinnvoll begründeten Entwicklungen ähnlich wirkender akustisch präsentierter Klangmuster

führen wird. Der Autor vermutet, dass es eher zu persönlichen digitalen Assistenten kommen wird, bei denen blinde Menschen, angepasst an die jeweiligen Bedarfssituationen Informationen in mehr oder weniger ausführlicher natürlichsprachlicher Form, in Punktschrift-Präsentation oder in verkürzend symbolischer (auch akustischer) Form abfragen können.

Ähnliche Variabilität wird für die Informationseingabe bei Kommunikationsendgeräten blinder Menschen angeboten werden. Wie sooft bei der Entwicklung technischer Gräte wird man dann zwischen Greäteklassen unterscheiden müssen, die zwischen Einzweckgeräten und Univer-salgeräten hinsichtlich Preis, Robustheit, Bedienbarkeit und anderen Qualitäts-parametern eine optimierte Entscheidung der Bedarfsträger und der mit diesen kommuni-zierenden Gesellschaft ermöglichen.

3.3 Audio-taktile Kommunikation

Eine besondere Gruppe technischer Hilfmittel für blinde Menschen stellen jene dar, bei denen natürlichsprachliche Kommunikation mit haptisch wahrnehmbaren Effekten kombiniert wird. Die Leistungsfähigkeit solcher Systeme ist in ständiger Weiterentwicklung begriffen. Sie be-sitzen meist eine getrennte Entwicklung ihrer haptischen und ihrer sprachlich-akustischen Komponente.

Beispiel 1: Der Langstock als Hilfsmittel blinder Menschen, die geografische Orientierung im unmittelbaren räumlichen Umfeld zu unterstützen. Beim praktischen Einsatz des Langstocks wird vom Benutzer nicht etwa nur ein unmittelbar berührtes mechanisches Objekt hinsichtlich seiner Existenz und Lage mit einer Ja-Nein-Entscheidung bewertet, sondern es erfolgt oft gleichzeitig eine hochkomplexe Mustererkennung hinsichtlich seiner mechanischen Impedanz

(einschliesslich verschiedener Parameter seiner Oberflächenbeschaffenheit). Darüber hinaus erfolgt nach dem Echoprinzip eine Erkundung des dem Langstock nicht unmittelbar zugäng-lichen Nahfeldes. Die bei der Handhabung des Langstockes erfolgenden Tastvorgänge können gleichzeitig als Sendevorgänge akustischer Testsignale benutzt werden. Neuerdings werden Langstöcke erprobt, die mit entsprechenden Sensoren und Aktoren ausgestattet eine Orien--tierung entlang unterirdisch verlegter elektrischer Signalleitungen ermöglichen. Diese Leitun-gen werden mit Informationssystemen und individuell anpassbaren, tragbaren Kommuni-kationsendgeräten kombiniert werden, über die in Dialogform situationsbezogene natürlich-sprachliche Informationen ausgegeben werden können. Die Weiterentwicklung dieser Systeme nach dem Prinzip von Wechselsprechanlagen wird sich mehr als eine ökonomische, weniger als eine technische Problemstellung erweisen.

Beispiel 2: Ein weiteres ausbaufähiges audio-taktiles System stellt die Benutzung tastbarer Grafiken in Verbindung mit Sprachausgabesystemen dar. Die marktwirksame Entwicklung solcher Systeme setzte um 1985 ein und wurde im deutschsprachigen Raum etwa 1994

ergänzt [11]. Bei diesen Systemen besitzen blinde Benutzer die Möglichkleit, auf individuelle Anforderung hin eine Erläuterung in natürlicher Sprache zu einem haptisch wahrnehmbaren Detail der tastbaren grafischen Abbildung zu erhalten. Die Anforderung erfolgt gegenwärtig noch über ein vom Benutzer manuell zu positionierendes, stiftförmiges Eingabegerät.

Es ist zu erwarten, dass in naher Zukunft diese Art der Abfrage durch ein beobachtendes Videosystem in Verbindung mit Markierungen an den taktil lesenden Händen der blinden Benutzer ersetzt wird. Dies wäre ein bedeutsamer Vorteil für eine kontinuierliche (beidhändige) taktile Erkundung der betreffenden grafischen Darstellung. Der Übergang von einer realen, statischen, tastbaren, zweidimensionalen Abbildung und zu einer virtuellen, mittels Gestenerkennung und Kraftrückkopplung erlebbaren dynamischen, dreidimensionalen Abbildung wird noch viele Jahre benötigen. Die natürlichsprachlichen Erläuterungen zu den von Benutzern ausgewählten Details, die Untersuchung des Zusammenhanges zwischen grafischer und natürlichsprachlicher Strukturierung der jeweiligen Inhalte, stellen jedoch eine Herausforderung dar, zu deren praktischen Umsetzung bereits in naher Zukunft wirksame Beiträge zu erwarten sein dürften.

Befördert wird das Bemühen um zweckorientierte Verbalisierung von bildhaften Informationen nicht zuletzt durch neuere Richtlinien zur Gestaltung von elektronischen Dokumenten nach dem Prinzip einer "Benutzbarkeit für Alle".

 

4. Schlussbemerkung

Die optimistischen Einschätzungen zur weiteren Entwicklung des Leistungsvermögens techni-scher Hilfen für die Unterstützung der Kommunikationsmöglichkeiten blinder Menschen dürfen einen bedeutsamen Grundsatz nicht verdrängen: Die unmittelbaren, persönlichen Kommuni-kationsformen des Menschen innerhalb seines gesellschaftlichen Umfeldes sollten gegenüber anderen Formen den höchsten Stellenwert besitzen.

Der zusätzliche Einsatz technischer Hilfen bewirkt vielfältige Vorteile, diese sollten genutzt werden, um mehr Zeit für direkte Kommunikation zu gewinnen.

Der Nutzeffekt natürlicher Sprache in Verbindung mit technischen Hilfen für blinde Menschen

wird um so höher, je intensiver die Strukturen der zu vermittelnden Inhalte berücksichtigt werden. Emotionale und ästhetische Aspekte konnten in dem vorliegenden Beitrag nur ansatz-weise erwähnt werden, für einen allgemeineren Blick auf das behandelte Thema erscheint deren Einbeziehung unverzichtbar.

 

Literatur

[1] DAISY- Project. URL - http:// www.daisy.org

[2] Goldfarb, C.F.: Future Directions in SGML/XML. In: Möhr, W., Schmidt, I. (Hrsg.),

SGML und XML. Anwemdungen und Perspektiven. Springer Verl. Bln, Heidelbg., 1999

[3] Böhler, K.: Information Mapping ® - die Methode zur Erstellung strukturierter

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http://www.carstens-techdok.de

[4] Schoop, E.; Anders, A.: Information Mapping ® und deren Potentiale für Sehbehinderte.

Tagungsmaterial KONUS-Workshop, Okt. 1999, Dresden, Techn. Univ., Inst. f.

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[5] Horn, R. E.: Mapping Hypertext. The Analysis, Organization, and Display of Knowledge

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[6] Arato, A.; Barkaszi, M.; Buday, L.; Vaspori, T.: Hybrid Books for the Blind - A New

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[7] Kahlisch, Th.: Software-ergonomische Aspekte der Studierumgebung blinder Menschen.

Dresden, Techn. Univ. Dresden, Fak. Informatik, Diss., 1997

[8] Meißner, K.; Wehner, F.: Ein Dokumentmodell für Kursdokumente in webbasierten

virtuellen Lernumgebungen. In: Engelien, M.; Homann, J. (Hrsg.): Proc. Workshop

GeNeMe99, Gemeinschaften in Neuen Medien, Okt. 1999, J. Eul Verl., Köln, 1999, S. 291

[9] Stevens, R.D.; Wright, P.C., Edwards, S.A.,Brewster, S.A.: An Audio Glance at Syntactic

Structure based on Spoken Form. . Proc. of 5th Int. Conf., ICCHP ‘96, Linz, Austria, July

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[10] Gardner, J.; Bulatov, V.: Non-Visual Access to Non-Textual Information through

DotsPlus and Accessible VRML. In: Edwards, A.D.N.; Arato, A.; Zagler, W.L. (eds.)

Proc. of the XV. IFIP World Comp. Congress, Aug.-Sept. 1998, pp. 136 - 141

[11] Lötzsch, J.: Interaktiver Zugriff auf audio-taktile Dokumente. In: Beiträge zum 3.

Dresdner Kolloquium Hochschulstudium für Sehgeschädigte. Dresden, Techn. Univ.

Dresden, Fak. Informatik, Febr., 1994, S. 45 - 51