Hartmut Sörgel

 

Zuerst neun Thesen und danach was anderes

 

Thesen

1

Menschen bewegen sich aufrecht schreitend, tanzend, träumend oder an eine Rüstung aus Blech gefesselt auf der Erdoberfläche (Deixis, «Origo« nach Bühler).

Sie leben in sozial, kulturell und politisch gegliederten Räumen und Zeiten, die sie zu Netzen verweben.

2

Sprache ist für das Herstellen der Netze das wichtigste Instrument als auch ein Spiegel ihrer Beziehungen.

Aus und von uns sprechend veröffentlicht sie uns raffiniert interpretierend.

Sie wirbt, greift an, verhüllt, erklärt, erzählt, spricht Recht und Unrecht, überzeugt und lügt und noch viel mehr.

3

Von Anfang an benutzen Menschen Hilfsmittel, körpereigene (Bewegungen, Gestik und Mimik, Prosodie) und technische Hilfsmittel.

Das sind Geräte, die Sprache aufschreiben, speichern, bearbeiten und übertragen, Bücher und Bibliotheken, CD«s, Telefone usw. Sogar ein Auto wäre im weitesten Sinn ein derartiges Gerät, denn es (über-) trägt Sprecher und Hörer, an andere Orte, um dort zu sprechen und zu hören.

In Zukunft kommen dazu die sprachgesteuerten Werkzeuge. Auch Autos vielleicht, die auf Zuruf dahin fahren, wo wir wollen.

4

Die Umwelt wird immer mehr zur Sprache. Z.B. wird die Fahrt durch eine Stadt zu Literatur, wenn sich verschiedene Texte und Werbesprüche für das Auge zu neuen Texten zusammenschieben.

5

Die Welt erklären Menschen sich sprachlich. Anatomen zum Beispiel «beschreiben« den menschlichen Körper, Astronomen den Himmel, Geographen die Erde.

Auf diese Weise entstehen wiederholbare Algorithmen, denn ein Anatomieatlas, ein Himmelsglobus oder eine Landkarte sind Algorithmen für den täglichen Gebrauch, die

bald auch die sprachgesteuerten Navigationssysteme benutzen werden.

6

Das interne Gedächtnis ist der Raum virtuellen Geschehens. Es verbindet über Zeiten und Räume alles Denkbare miteinander und spricht es aus, damit andere davon erfahren. Das externe Gedächtnis macht es nach. Es wächst jeden Tag und enthält und unterrichtet uns.

Das demonstriert das Internet in nie gekanntem Ausmaß.

Sein hauptsächliches Instrument ist ebenfalls die Sprache.

Sie nimmt dort neue Formen an, Hypertext, Hausblätter (Homepages), Chats, neue literarische Foren (z.B. der «Tagebau« des literarischen Salons im Internet «Berliner Zimmer«) usw.

7

Die Hilfsmittel verändern das sprachliche Verhalten.

Sind Angestellte über Handys überall erreichbar, verändert das Arbeitsweisen und die soziale Struktur von Betrieben.

Wissenschaftliches Arbeiten ist fast undenkbar geworden ohne das Netz.

Jede und Jeder kann Avatare an seiner Stelle agieren lassen und jeweils andere soziale Beziehungen pflegen und verschiedenes tun: Geniale Landstreicher,obdachlose Wissenschaftler, Dichter von einem anderen Stern, Mann oder Frau, vielleicht im oder hinterm Mond...

8

Der Sprachraum ist unendlich in Zeit und Raum, denn überall und immer spricht irgendwas oder irgendwer.

9

Es wird nie eine Maschine sprechen wie ein Mensch, aber wie ein Beamter oder ein Jurist oder ein Kellner usw.

Es sei denn die Maschine ist ein Mensch.

Mein Sprachraum

Mein Sprachraum ist ein Baum. Die Blätter reden oder schweigen, flüstern oder singen,

je nach Wind und überhaupt.

Ich bin ein Baum. Ein Lufthauch bewegt die Blätter oder wirft sie ab. Ich bücke mich nie

danach. Hat wer schon einen Baum gesehen, der sich bückt? Vielleicht windgeknickt.

über mir und unter den Füßen schweigt der Sprachraum, warum redest du nicht, Mutter

Erde?

Warum fallen keine Signale Außerirdischer aus dem Himmel in die Antennen?

Die sprechende Maschine, lacht mich aus, du dummer Mensch, du sprichst nur eine Sprache und auch die kaum, aber ich, but I, pero yo... usw. ein Sprachspaziergang,

mais oui, durch die Schweiz, durch die Welt und wohin noch?

Ja, wenn wir erst das All besiedelt haben, dann flattern lichtjahrweit Inseln von den

Zungen, Inselsprachen, unerhörte ungehörte fremde Laute, Worte, Texte, entstehen Millionen neue Sprachen.

Wenn ich dann meinem Sprachraum einen Witz erzähle, lacht vielleicht in tausend

Jahren wer irgendwo da über mir, trinkt einen Tee und wird  ein  Sprachtraum.

Auf dem Rücken der sprechenden Maschinen, dem Handwerkszeug der Gedanken,

fliegen  und überall spricht wer. Wer?

Meine Schuhe und meine Mütze und mein Hemd.

Sie wollen anders als ich, meine Schuhe gehen plötzlich ihren eigenen Weg.

und der Computer und die Wohnung. Miteinander? Nein, alle nur mit mir, ihrem Zentrum.

Ich als Zweijähriger, krabbelnd hinter der sprechenden Katze her, so ein komisches

Ding. Ich kann sie lenken, wohin ich will. Aber sie dreht sich plötzlich zu mir: «Miau!

Guck da, ein Vogel, ein Rotkehlchen.« «Ei, Lolchen!« Wiederhole ich in meiner Kindersprache. Die Katze meine Lehrerin, spart mir Schule, Eltern und Spielgefährten, Schade, Aber zur Schule wollte ich sowieso nie. Denn ich sprach schon immer lieber allein mit den Dingen als unter dem Diktat der Lehrer.

Sprachspiel von Anfang an. Alles durchzuprobieren. Aber die Lehrer! Sie verstanden

wenig. Unsummen von Missverständnissen sowohl wegen verschiedener Gebiete als

auch wegen falscher Grammatik oder Worttrennung usw.

Alles spricht

Sprachgesteuerte Maschinen Autos, Kaffeekocher, Türen, Fenster, hilfreiche kleine

Roboter im Haushalt oder sonstwo rennen fliegen putzen kochen kaufen ein pflücken

Sträuße, weben was ich gerade brauche oder wünsche übersetzen mir in oder aus

irgendeiner Sprache sammeln Pilze sagen mir was mich interessiert gezogen aus dem

Internet  worin inzwischen alles die ganze Kultur also alle Überlieferung und was

gegenwärtig geschieht. Ich unterhalte mich mit Omar Chayyam darüber,

obwohl er vor tausend Jahren gelebt hat.

Ich frage ihn: «Wohin führen uns sprechende Computer?«

Er antwortet;

«Ich schreibe über Raum und Sprache ein Gedicht

Die Schreibgeräte spucken mir die Reime ins Gesicht

Danach erkennt mich selbst mein kluger Spiegel nicht

Er sieht mich als vernetzte Wörter dicht an dicht

und ist selbst nur noch auf schönen Reim erpicht«

«Und außerdem«, fährt er fort,

«bringen die sprechenden Geräte manchmal Wörter durcheinander. Sie missverstehen

und setzen neu zusammen, wie es ihnen plausibel scheint.

Sie erfanden letztens den bis dahin unbekannten Gnufrosch, indem sie das Wort «

«Forschung«ein bisschen verdrehten. Oder sie behandeln Wörter gentechnisch und präsentieren einen Gnufrosch?

Denn «Gnufrosch« ist «Forschung«. Er springt aus schlau gemixtem Buchstabenschaum.

Quakend hüpft der Gnufrosch durch vernetzten Raum

Er springt aus einem sprechend  schönen Traum

und reicht dir freundlich frech den Becher edlen Weins

von irgendeinem unbekannten  Wörterbaum«

Unterhaltungen gehen über alle Zeiten und Orte und verbinden, woran das Gedächtnis

sich gerade erinnert. Hier ist längst die Lichtgeschwindigkeit überholt, ja, Zeit und Raum

scheinen nicht zu existieren.

Das Gedächtnis war schon immer vertraut damit, ohne Zeit und Raum zu arbeiten.

Es springt, wohin es ihm einfällt, oder mir, denn ich bin ja sein Meister, oder nicht?

Die Maschinen lernen nach und nach, ebenso zu handeln.

Wissen sie vielleicht eines Tages, heute, was ich morgen will?

Heute kann  ich schon die Zeitung von Morgen lesen, wenn ich

nach Australien linke.

Und wenn noch weiter weg?