Gruppenprozesse reflektieren

(Eine Sicht auf das Seminarthema von Rolf Todesco)

Ich treffe mich mit Ihnen in diesem Seminar, weil ich meine Tätigkeit als Ausbildner reflektieren will. Ich hoffe, Sie sind mit einem dazu passenden Anliegen hier. Als Ausbildner arbeite ich mit Menschen, die sich ausbilden. In meinem Verständnis kann ich Menschen so wenig ausbilden, wie ich sie herstellen kann. Ich sehe Menschen als autopoietische Systeme, die sich selbsterzeugen und enwickeln. Zum Lernen brauche ich ein bestimmtes Milieu, es muss nicht unbedingt ein Seminarhotel sein, aber ich muss unter vielem anderen halbwegs satt und ausgeruht sein. Dieses Milieu kann ich sowenig herstellen wie Menschen. Ich kann aber in Analogie zu vergangenen Erfahrungen einige Dinge tun, um für mich günstige Lernbedingungen zu schaffen. Ich kann mich beispielsweise mit Menschen zusammentun, die vergleichbare Ziele verfolgen oder noch besser, mit Menschen, die etwas können, was ich auch gerne könnte - ich kann mich einer Lerngruppe anschliessen. Als Ausbildner biete ich eine themenspezifische Zusammenarbeit an, in einem Gebiet, in welchem ich bereits einige Kompetenzen erworben habe.

Wenn andere Menschen mein Angebot annehmen, beginnt ein vielschichtiger Kommunikationsprozess, den ich in bestimmten Fällen, etwa wenn sich die Ausbildung im Rahmen von Vorträgen und Diskussionen bewegt, als Seminar bezeichne - Skifahren habe ich natürlich nicht im Seminar gelernt. In diesem Prozess geht es anfänglich darum, das gemeinsame Thema, die zu lernende Sache - die Brecht "die dritte Sache" genannt hat - zu konsolidieren. Wir kommunizieren bis das Thema so formuliert ist, dass alle Beteiligten ihre Interessen hinreichend wiedererkennen können. Meiner Erfahrung nach kann dieser Teil des Lernprozesses enorm beschleunigt werden, wenn der Ausbildner Zertifizierungsbedingungen oder benotete Prüfungen ins Spiel bringt, die von den andern Teilnehmer - aus welchen Gründen auch immer - akzeptiert werden (müssen). In meiner Lernbiographie war letzteres so häufig der Fall, dass ich den Teil des Lernprozesses, in welchem der Gegenstand ausgehandelt wird, immer noch sehr schlecht beherrsche.

In diesem Seminar sind die Verhältnisse in meiner Sicht insofern etwas untypisch, als das Thema vorderhand mit Reflexion der eigenen Ausbildungstätigkeit umschrieben ist. Es geht hier also nicht primär darum, Methoden oder Tricks zu lernen, wie man andern etwas beibringt, sondern darum, dass sich jede(r) von uns bewusster wird, was wir in unseren Ausbildungen immer schon tun - vor allem, wenn wir Methoden und Tricks anwenden. Das zugrunde liegende Postulat lautet, dass man etwas besser tut, wenn man es bewusst tut - oder genauer, wenn man es im Training bewusst getan hat.

Selbstbezüglichkeit

Wir beschäftigen uns mit Lerngrupenprozessen. Wenn wir wollen, sind wir auch eine Lerngruppe, dann beschäftigen wir uns auch mit unserem Prozess. Dabei begeben wir uns in eine endlose Rekursion, wie sie Mani Matter auf dem Coiffeurstuhl erlebt hat, weil wir uns mit unserem Prozess befassen, in welchen wir uns mit unserem Prozess befassen, usw.

Lernen ist immer selbstbezüglich, denn beim Lernen verändere ich ja nicht den Gegenstand, den ich kennenlerne, sondern mich selbst. Ich gewinne neue Sichtweisen oder Standpunkte. Als Kopernikus lernte, dass nicht die Erde, sondern die Sonne im Zentrum steht, hat er nicht das Planetensystem verändert, sondern sich. Wenn ich eine neue Auffassung über den Gruppenprozess gewinne, verändere ich nicht die Gruppe, sondern mich. Falls ich zur Gruppe gehöre, verändert sich aber dabei natürlich auch die Gruppe, weil sich in mir ein Teil vom ihr verändert hat.

Und wer bestimmt, ob ich zur Gruppe gehöre?

Die Gruppe als Konstruktion

Es gibt keine Gruppen - ausser ich "konstruiere" sie.

Mollière (oder eine seiner Figuren) ist einmal aus dem Schlaf aufgewacht und hat gesagt: "Unsere Kirchturmuhr muss verrückt sein, jetzt hat sie vier Mal nacheinander 1-Uhr geschlagen."

Gruppen sind Mengen von Einzelteilen. Die Kirchturmuhr schlägt um 4 Uhr 4 Mal einen einzelnen Schlag - auch wenn man nicht verückt ist. Auf dem Zifferblatt schiebt sie den Zeiger auf eine Position, an welcher " IIII " oder "4" steht. Wenn dort vier Striche stehen, sind es einzelne Striche, wenn dort eine 4 steht, ist es eine einzelne Zahl. Damit ich eine Gruppe sehen kann, muss ich immer etwa "hinzusehen", das Einzelteile isoliert und verbindet. Wenn ich einen Wald als Baumgruppe sehe, muss ich zuerst vor lauter einzelnen Bäumen den Wald mit den Gesträuchern und Tieren nicht mehr sehen und dann muss ich etwas sehen, was diese Bäume zu einer Gruppe macht. Gruppen sind immer eine Konstruktion von dem, der die Gruppe sieht - und zwar unabhängig davon, ob er selbst zur Gruppe gehört oder nicht.

Reflektierend kann ich mich also fragen, wann und wozu und nach welchen Kriterien ich Gruppen konstruiere. Reflektieren bedeutet für mich, dass ich mir auch bewusst mache, wann überhaupt ich von einer Gruppen spreche. In unserer vorausgesetzten Pflichtlektüre (S. 5) steht, dass Robinson und Freitag noch keine Gruppe seien, weil sie nur zu zweit sind. In meiner Auffassung sind die beiden sehr wohl eine Gruppe. Das sagt aber wenig darüber aus, was eine Gruppe ist, sondern weist mich vor allem darauf hin, dass es offenbar sehr verschiedene Vorstellungen dazu gibt. Es scheint mir mit der Gruppe wie mit der Zeit zu sein, "man" weiss ganz genau, was Zeit ist, solange man es nicht sagen muss.

Im meinem CD-Lexikon steht nicht, was eine Gruppe ist. In der Mathematik ist eine Gruppe eine algebraische Struktur, die etliche einschränkende Bedingungen erfüllen muss. In der Mathematik kann man sagen, eine Gruppe ist eine Menge von Einheiten, für die bestimmte Bedingungen wie Assoziativität gelten. Von einer Gruppe muss man sagen können, welche Einheiten dazu gehören und was diese Einheiten verbindet. Im Alltag spreche ich auch von Gruppen, wenn ich die Klassen irgendeiner Klassifikation meine, oder wenn die Einheiten, die ich gerade meine, etwas nahe beisammenstehen. So kann ich etwa beim Skifahren auf eine Gruppe am gegenüberliegenden Hang zeigen und sagen, ich meine die Gruppe dort, in welcher alle rote Mützen tragen.

Hier - im Kontext von Lern- und Arbeitsgruppen - spreche ich von einer Gruppe, wenn ich Lebewesen in einer kooperativen Beziehung sehe. Die Tiere einer Herde oder die Menschen einer Zuschauermenge bilden in diesem Sinne für mich keine Gruppen, obwohl sie durch ihren gemeinsamen Ort von andern Einheiten abgerenzt sind und sich relativ gleich verhalten, weil ich unter ihnen keine beabsichtigete Kooperation sehen kann. Ein Fussballfan, der mit andern Fans zusammen seine Mannschaft durch Zujubeln unterstützt, mag das ganz anders sehen. Robinson und Freitag dagegen sehe ich als Gruppe, weil sie in meinen Augen kooperieren und jederzeit bereit wären, weitere passende Mitglieder in die Gruppe aufzunehmen. Zwei Standardtänzer sind ein Paar, keine Gruppe, weil niemand dazustossen kann. Zwei Balletttänzer sind ein Gruppe, wenn sie nicht gerade ein pas de deux tanzen. Im Modell der TZI kann ich sagen, dass eine Gruppe an einem gemeinsamen Thema "arbeiten" muss, um eine Gruppe zu sein. Ich verlange zusätzlich, dass die Gruppe sich in ihrer Zusammensetzung willkürlich verändern kann. In der Formulierungen in unserer Lektüre auf S. 138 wird sogar verlangt, dass die Mitglieder einer Gruppe einsehen, dass sie zusammen weiterkommen. Damit wären aber normale Schulklassen keine Gruppen, weil diese nicht auf Einsicht beruhen.

Diese Redeweisen über die Gruppe haben zwei Unschärfen: Einmal ist nicht klar, wann von einem gemeinsamen Thema gesprochen werden kann. In diesem Sinne ist natürlich auch für uns noch nicht definitiv geklärt, ob wir eine Gruppe sind. Wir sind eine hypotetische Gruppe bis sich ein gemeinsames Thema eingestellt hat. Und zweitens ist unklar, wie weit "arbeiten" gefasst sein soll. Ich könnte auch sagen "tätig sein". Wenn eine Reisegruppe im Car zum sightseeing fährt, dann bezeichnen sie sich als Gruppe. Ueberhaupt neige ich dazu, Carbenutzer als Gruppen zu sehen, während ich Postautobenutzer selten als Gruppe aufasse. Ich will hier die feinen Unterschiede nicht weiter verfolgen.

Ich unterscheide Gruppen anhand ihres strukturelles Niveaus. Dieses ist anbhängig von der Grösse (Anzahl Elemente), der Differenziertheit (Anzahl Rollen) und der Ordnung der Gruppe. Eine Zweierseilschaft, in welcher abwechslungsweise geführt wird, steht auf der einen Seite der Skala, eine Armee auf der andern Seite, weil die Armee viele Mitglieder in stark differenzierten Rollen in einer streng hierarchischen Ordnung hat.

Ich klassifiziere und nehme Gruppen wahr, um Komplexität zu reduzieren. Gruppen bilden eine höhere Ordnung als Einzelteile. Wenn ich eine Gruppe bilden kann, dann kann ich ein relatives Gesamtverhalten beobachten, statt viele Einzelverhalten. Es ist also effizient, Gruppen zu sehen. Galilei sagte (dem Sinne nach), man solle überall Gruppen sehen, und wo dies durch die Natur der Sache nicht begünstigt werde, solle man Gruppen machen. Während ich als Schullehrer meine Klassen begründet als Gruppen sehe, sehe ich als einzelner Schüler die Schulklasse keineswegs als Gruppe, weil ich nicht das gemeinsame Ziel, sondern die Konkurenz erlebe. Ich kann dann - um Galilei zu folgen - innerhalb der Klasse eine Fraktionen bilden und so die selbstgemachte Gruppe sehen.

Die praktische Haltung, die ich beim Bilden von Gruppen einnehme, kann auf verschiedenen Ebenen problematisch sein. Ich kann in Interessenkonflikte geraten, wenn ich mehrfach gruppiert bin. Ich kann auf Grund von Klassifikationen Generalisierungen und Diskriminierungen machen, die für mich oder andere schlechte Folgen haben. Während es hergestelten Gegenständen sicher und Pflanzen vermutlich gleichgültig ist, wie ich sie klassifiziere, überstimme ich mit meinen Klassifikationen Mitglieder von Gruppen, die ihrerseits Gruppen wahrnehmen können. Lebewesen in Abhängigkeitsverhältnissen können durch meine Diskriminierungen in Not geraten. Ich selbst kann darunter leiden, dass ich Gruppeneigenschaften auf vermeintliche Gruppenmitglieder projiziere, wenn ich etwa die Falken unter den Tauben nicht wahrnehme.

Wenn ich von einer Gruppe von Menschen spreche, dann können diese Menschen die Gruppe auch sehen oder eben gerade nicht. Sie können sich gegenseitig ein- und ausschliessen - und zwar jederzeit. Zu einer bestimmten Zeit - etwa gerade jetzt - können einige Menschen unter uns eine konspirative Gruppe bilden, von der Aussenstehende nichts ahnen dürfen. Und einige von uns können sich etwa mit einem bestimmten Fussballerleibchen als Fangruppe der entsprechenden Mannschaft outen, dass jeder Aussen- und Innenstehende sehen sollte, dass sie eine Gruppe sind. Weder die Innen- noch die Aussenstehenden wissen zu einer späteren Zeit - etwa gerade jetzt - ob noch alle, die vorher zur Gruppe gehörten, immer noch mitmachen (dürfen). Gruppen sind Systeme im Fliessgleichgewicht.

Nochmals: Da jede Gruppe Resultat einer Konstruktion ist, sage ich mehr über mich oder über mein Für-wahr-nehmen aus, als über die Gruppe, wenn ich von einer Gruppe spreche.

Die Gruppe als System

Wenn ich Gruppenprozesse betrachte, ist die Funktion, die die Gruppe nach aussen hin erfüllt, unwesentlich. Es geht mir dann um die inneren Funktionsweise, die in ganz verschiedenen Gruppen nach ähnlichen Mustern ablaufen kann - was natürlich vor allem damit zusammenhängt, dass ich Aehnlichkeiten konstruiere. Die entwickeltste Konstruktion, die ich kenne und auf Grupen anwenden kann, ist das System. Das Wissen über Systeme nenne ich Systemtheorie.

Ich unterscheide zwei Sichten auf Systeme, eine objektive oder technologische Sicht und eine subjektive oder autopoietische Sicht. In der objektiven Sicht sehe ich Systeme als Mechanismen - auch wenn ich Lebewesen oder Sozietäten betrachte. In der subjektiven Sicht sehe ich mich als Teil des Systems. Die erste Sicht heisst auch systematische Sicht, die zweite Sicht heisst auch systemische Sicht. Objektive Systeme werden organisiert, autopoietische Systeme organisieren sich selbst. Objektive Systeme erfüllen eine Funktion in einem übergeordneten System - dazu werden sie hergestellt -, autopoietische System erzeugen einen Handlungszusammenhang, in welchem sie ihr Verhalten orientieren. Objektive Systeme sind operationell offen, man kann sie mit Information oder Mitteilungen manipulieren, subjektive Systeme sind operationell geschlossen, sie reagieren auf sich selbst.

Systeme sind abstrakte Entitäten, die ein Beobachter auf Gegenstände mit Regelungsprozessen projiziert. Systeme sind nicht offen oder geschlossen, der Beobachter entscheidet, ob er das System offen oder geschlossen sieht.

Das technologische System

Eine einfache Konstruktion, die ich unter den Gesichtspunkten eines Systems betrachte, ist beispielsweise eine thermostatengeregelte Heizung, bei welcher Abweichungen von der eingestellten Sollwert-Temperatur durch konstruktiv festgelegte Massnahmen kompensiert werden. So wird die Heizung beispielsweise eingeschaltet, wenn die Temparatur im geheizten Raum unter den eingestellten Wert fällt, und wieder ausgeschaltet, wenn die Temperatur den Wert übersteigt. Eine Heizung betrachte ich unter technologischen Gesichtspunkten, weil sie ein Artefakt ist. Bei Artefakten kenne ich im Prinzip die Funktion und die Funktionsweise, weil ich nachvollziehen kann, wozu das Artefakt hergestellt wurde und wie es konstruiert ist. Technologische Systeme sind - im Prinzip - einfache Systeme, sie lassen sich auch einfach manipulieren, weil sie dazu gemacht wurden.

Wenn ich von mir beispielsweise sage, dass ich ein Herz habe, das als Blutpumpe funktioniert, dann sehe ich ein mechanisches System, in welchem die Pumpe wie eine thermostatengeregelte Heizung je nach Sensorwerten mehr oder weniger Blut fördert. In dieser Sicht trenne ich mich von meinem Körper und behandle ihn als Objekt. Ich kann dann das Herz auch durch eine wirklich mechanische Pumpe ersetzen. Diese Sicht ist in meinen Augen nicht richtig oder falsch, sondern einfach eine Perspektive, die bestimmte Handlungsräume, wie etwa die Chirugie, öffnet. Solange ich meine Herz unabdingbar als Teil von mir sehe, kann ich es nicht gegen ein Plastikherz austauschen lassen.

Wie meinen Körper kann ich auch eine Gruppe technologisch auffassen. Sie besteht dann aus Einheiten, die technologische Rollen besetzen, die in einer thermostatengeregelten Heizung auch vorkommen. Eine Schiffsmannschaft etwa hat einen Kapitän, der den Kurs (quasi die Solltemperatur) bestimmt. Er sagt dem Lotsen, wohin die Reise geht. Der Lotse schaut, wo das Schiff gerade ist (quasi die Ist-Temperatur), und stellt die Differenz zum Ziel fest. Er teilt dem Steuermann mit, in welche Richtung er das Ruder drehen muss und dem Ruderer teilt er mit, wie stark er rudern muss (quasi Heizung hochdrehen). Wenn sich das Schiff etwas weiter bewegt hat, sieht der Kapitän vielleicht ein neues Ziel. Bei gleichem Ziel sieht der Lotse, wieviel das Schiff dem Ziel schon näher gekommen ist, und gibt neue Anweisungen. Der Lotse regelt den Prozess, indem er schaut, was passiert ist und dann Korrekturen vornimmt. Der Steuermann steuert den Prozess, indem er Kurs auf das Ziel nimmt. Vielleicht ist der Kapitän auch nur ein Angestellter, der seine Ziele vom Verwaltungsrat der Schiffsgesellschaft mitgeteilt bekommt. Ich werde das Beispiel später unter dem Gesichtspunkt der Selbstorganisation noch einmal aufgreifen. Hier will ich nun einige Prozesse der technologischen oder der technologisch gesehenen Gruppe benennen.

Die Gruppe hat ein Ziel. Die Gruppe vergleicht das Ziel mit dem aktuellen Zustand und beschliesst und verfolgt Massnahmen. Jede Massnahme kann eine Störung beinhalten. Vielleicht schläft der Lotse, vielleicht sind seine Instrumente defekt, vielleicht wird er vom Ruderer nicht verstanden, vielleicht streikt der Ruderer, usw. Die systematische Betrachtung focusiert Steuerungs- und Regelungsprozesse, respektive ob diese im richtigen Ausmass wirken. Wenn der Ruderer nicht Rudert, ist entweder die Kommunikation oder der Ruderer gestört. Die Gruppe hat ein Problem - wenn der Ruderer oder die Leitung zu ihm gestört ist -, oder einen Konflikt - wenn der Ruderer nicht verstehen will.

Auf der übergeordneten Ebene wird das offene System selbst in einen Prozess gestellt. Eine Schiffsmannschaft muss einmal angeheuert werden, und eine Schiffsreise muss geplant und durchgeführt werden. Technologische Systeme haben ein geordnete Geschichte mit Phasen, die regelhaft verlaufen, weil sie geplant sind und gesteuert werden. Die Schiffsmannschaft durchläuft verschiedene Phasen, bis sie eine Mannschaft ist, und dann durchläuft sie pro Reise wieder verschiedene Phasen. Das Beladen des Schiffes und die Ausfahrt aus dem Hafen verlangen andere Tätigkeiten als die Fahrt auf hoher See. Wenn ein Sturm tobt herrschen andere Bedingungen als bei Sonnenschein. Man kann zu jeder Phase und zu jedem Fall das Verhalten festlegen - wenn sich das System trivial verhält.

Technologische Systeme sind "triviale Maschinen", das heisst, sie reagieren auf bestimmte Manipulationen immer gleich. Wenn ich beim Auto den Zündschlüssel drehe, startet der Motor - immer, oder das Auto ist kaputt. Natürlich darf ich das bei bereits laufendem Motor nicht tun, ich muss den Systemzustand berücksichtigen. Aber bei trivialen Maschinen ist klar, welchen Zustand ich berücksichtigen muss. Menschen können sich auch trivial verhalten. Wenn ich jemanden frage, was ist 2 + 2 ? wird er 4 antworten, nicht grün (von Foerster). Das ist vorhersehbar immer gleich. Immer ?

Komplexe Systeme

Unter den technologischen Systemen gibt es sogenannt komplizierte und komplexe Systeme. Das sind ganz logisch gebaute Maschinen, aber sie verhalten sich so, dass man ihnen nicht auf die Schliche kommen kann, wenn man ihre Konstruktion nicht kennt. Komplizierte System funktionieren einfach, aber sie sind so gross oder haben so viele Verknüpfungen, dass man sie nicht überschauen kann. Komplexe Systeme sind solche, die ihren Zustand ändern, während sie operieren. Schon sehr kleine komplexe Systeme stellen unüberwindbare Probleme, wenn man sie nur aufgrund ihres Verhaltens analysieren will.

Bei diesen Systemen kann ich nicht entscheiden, ob sie technologisch komplex sind, oder ob sie mit Technologie gar nicht beschreibbar, also nicht rekonstruierbar oder herstellbar sind. Menschen sind zweifelslos komplexe Systeme - und wenn sie Gruppen bilden, wird die Sache noch komplexer - obwohl ich (wie oben gesagt) eigentlich Gruppen konstruiere, um die Komplexität zu reduzieren. Ich erkaufe jede Reduktion von Komplexität mit einer Zunahme von Komplexität.

Das autopoietische System

Autopoiese - der Ausdruck stammt vom Biologen Maturana - heisst eine spezielle Systemtheorie, die Systeme beschreibt, die sich selbst organisieren, also nicht - wie Artefakte - hergestellt werden. Unter den Gesichtspunkten eines autopoietischen Systems betrachte ich beispielsweise Lebewesen, wenn ich nicht gerade chirurgische Interessen verfolge, weil ich Lebewesen - im Unterschied zu dem berühmten Schweizer Frankenstein - nicht herstellen kann. Lebenwesen machen sich selbst. Natürlich brauchen Lebewesen ein Milieu, in welchem sie sich erzeugen können, Miller nannte das Milieu der ersten Lebewesen Ursuppe. Wenn Menschen "Kinder machen", erzeugen sie ein Milieu, in welchem sich Kinder selbst erzeugen. Im Milieu ist die Substanz und die Energie vorhanden, mittels welcher sich das autopoietische System organisiert. Das System hat keinen Anfang, denn es muss sich organisieren, bevor es existiert; es ist das Huhn-Ei-Problem.

Ein einfaches autopoietisches System "ist" ein Einzeller. Das Verhalten von Einzellern scheint - von aussen gesehen - sehr primitiv, sie bewegen sich nach Nährstoff- oder nach Lichtkonzentrationen in ihrer Umwelt. Ich kann einen Einzeller in seiner Suppe wie ein Schiff auf dem Meer betrachten. Beide schwimmen irgendwo hin. Beim Schiff sehe ich, dass es eine übergeordnete Funktion erfüllt - es bringt beispielsweise Touristen nach Amerika oder Bananen nach Europa -, beim Einzeller sehe ich keine Funktion. Oder wissen Sie, wozu es Einzeller gibt?

Autopoietische Systeme haben keine Funktion. Sie haben Sinn. Ein autopoietisches System verhält sich so, dass das Resultat des Verhalten für das System sinnvoll ist, während sich technologische Systeme so verhalten, dass das Resultat für die Umwelt des Systems funktional ist. Meine Heizung hat nichts davon, dass es in meinem Wohnzimmer immer zwanzig Grad warm ist. Der Einzeller hat etwas davon, wenn er in licht- oder nahrungsreichere Umgebung schwimmt. Wenn ich das Schiff technologisch betrachte, hat die Mannschaft nichts davon, dass die Touristen in Amerika und die Bananen in Europa sind. Die Touristen und die Bananen wollen auf den je andern Kontinent, nicht das Schiff oder dessen Mannschaft.

Die Gruppe als autopoietisches System 2. Ordnung

Unter den Gesichtspunkten der Autopoiese ist eine Gruppe ein Metazeller von autopoietischen Systemen. Metazeller - auch ein Ausdruck von Maturana - sind strukturell gekoppelte autopoietische Systeme, die sich sich in gewissen Hinsichten wie autopoietische Systeme verhalten. Wenn ich das Schiff unter autopoietischen Gesichtspunkten betrachte, dann macht die Besatzung etwas, was sie selbst sinnvoll findet. Die Schiffsbesatzung produziert mit dem, was sie tut, beispielsweise ihre Ernährung. Die Touristen und die Bananenregierungen sind für die Schiffsbesatzung einfach ein Milieu, in welchem genau die Tätigkeiten, die sie ausführen, zu Lebensmitteln führen. Die Tätigkeiten eines Bauern führen auch nur im Milieu eines Ackers zu Kartoffeln. Und sowenig wie der Bauer für den Acker arbeitet, sowenig arbeitet die Schiffsmannschaft für die Touristen. Sie arbeiten für sich - wenn sie nicht für einen Arbeitsgeber arbeiten.

Wenn ich eine bestimmte Arbeit alleine nicht oder nicht gut machen kann, suche ich andere Menschen für eine Gemeinschaft, eine Verein oder eine Organisation.

Diese Organisation besteht dann aus den Teilnehmern, die sich selbst eine Konstitution geben. Später bleibt die Organisation erhalten, weil neue Mitglieder die alten ersetzen. Dabei werden auch neue Regeln eingeführt.

Menschen können sprechen, Gruppen und Zellen nicht Das kann die Besatzung aber nicht sagen, weil nur Menschen sprechen können, aber keine Gruppen Wenn ein einzelner Mensch das Verhalten der Gruppe sinnvoll findet, stellt er es in den Kontext eines gemeinsamen Ziels Ein anderes Kriterium ist eine Kollaboration, in welcher sich der einzelne nicht darum kümmert, was für die Gruppe gut ist. Co-Evolution. Kommunikation./ Dialog

3.10.2000

Fortsetzung folgt