Evolution in der Kapital - Gesellschaft

Inhalt

1. Einleitung

1.1. Die Analyse vorstehend zusammengestellter Thesen zeigt, daß die einer Evolution unterliegenden Systeme sich in zweifacher Art weiterentwickeln können. Entweder hat das System in sich evolutionäre Potentiale, die zu einer Weiterentwicklung der Untersysteme und zu einer Weiterentwicklung der Systemstruktur führen, oder es entstehen durch Mutation konkurrierende Systeme, die mit höheren Selektionswerten ausgestattet und damit in der Lage sind, das ursprünglich vorhandene System auf dem Wege der Selektion zu eliminieren. Die marxistische Theorie hat die 2.Art favorisiert und die 1.Art vernachlässigt. Ob das berechtigt war und ist, kann nur auf der Grundlage empirischer Analysen entschieden werden.

1.2. Im ersten Versuch wurde nicht das alte kapitalistische System, sondern das neue sozialistische System eliminiert. Nunmehr muß das innere Evolutionspotential der kapitalistischen Gesellschaft analysiert werden, um zu neuen Einsichten über mögliche Wege der weiteren Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zu kommen. Einen Schritt zu dieser Analyse kann das 1993 im Bundverlag erschienene Buch von Michael Vester u. a. "Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel" darstellen. Die folgenden Thesen fassen die Erkenntnisse aus diesem Buch zusammen, wobei zu beachten ist, daß in dem Buch nichtmarxistische Betrachtungsweisen zugrundeliegen und die Grenzen des kapitalistischen Systems nicht reflektiert werden.

1.3. Die auf der Grundlage der im 19. Jahrhundert durchgeführten Analysen von Marx prognostizierte extreme Polarisierung der Gesellschaft in die Klasse der Kapitalisten/Monopolisten und in die Klasse der zunehmend verelendenden Arbeiter ist nicht eingetreten. Ökonomischer Kapitalbesitz ist nicht das einzige Kriterium, welches das gleichartige Verhalten größerer Menschengruppen (Klassen) in der Gesellschaft bestimmt. Genauso wesentlich ist die Tradition, in welcher der betreffende Mensch aufgewachsen ist, die durch seine Herkunft bestimmt ist und die seinen kulturellen Besitzstand beeinflußt. Dieser Gesichtspunkt entspricht der Fähigkeit zur Selbstreproduktion, die als wesentliche Eigenschaft eines evolutionsfähigen Systems gelten muß.

1.4.Das Traditionsbewußtsein der Individuen ist unterschiedlich stark ausgeprägt und mitbestimmend für die Charakterisierung und Abgrenzung sozialer Makromilieus, in welche die nach ökonomisch - sozialen Kriterien gebildeten Klassen sich weiter differenzieren. Materielle Grundlage dieser Differenzierung und der zeitlichen Verschiebung der Schwerpunkte und Gewichte dieser Milieus bildet der Strukturwandel der modernen Industriegesellschaft. Das Heidelberger Sinusinstitut unterscheidet 9 verschiedene Sozialmilieus, deren Charakteristik und prozentuale Entwicklung (in den Klammern) von 1982 bis 1992 im folgenden Abschnitt dargestellt sind. Eine andere Einteilung macht Schulze)

 

2. Sozialmilieus der pluralistischen Klassengesellschaft

2.1. Zum konservativen Oberklassen - Milieu (KON 9% --> 8%) gehören meist Akademiker, die als leitende Beamte und Angestellte, Selbständige und Freiberufler hohe und höchste Einkommen erzielen. Charakteristisch ist die Bewahrung gewachsener Strukturen und humanistischer Traditionen, ausgeprägtes Elitebewußtsein und hohe Qualitätsansprüche in allen Lebensbereichen.

2.2. Zum technokratisch - liberalen Oberklassen - Milieu (TEC 9%-->9%)

gehören qualifizierte und leitende Angestellte und Beamte, mittlere und größere Selbständige und Freiberufler mit hoher Bildung und mit hohen und höchsten Einkommen sowie deren Nachwuchs (Schüler und Studenten). Streben nach neuen Erfahrungen, Wachstum und Entwicklung der Persönlichkeit, hohem Lebensstandard , berufliche Selbstverwirklichung und starkes Bedürfnis nach individueller Selbstdarstellung.

2.3. Zum alternativen Oberklassen - Milieu (ALT4%-->2%) gehören vorwiegend Menschen der höchsten Bildungsstufen, qualifizierte Angestellte und Beamte, Freiberufler und deren Nachwuchs mit unterschiedlichen Einkommen. Ihre Lebensziele sind Selbstverwirklichung, Entfaltung der Persönlichkeit, Individualität und Teilnahme am kulturellen und politischen Leben und Engagement für den Aufbau einer menschengerechten Welt.

2.4. Zum kleinbürgerlichen Milieu (28%-->22%) gehören kleine und mittlere Angestellte und Beamte, kleine Selbständige und Landwirte mit geringem bis mittleren Einkommen. Festhalten an traditionellen Werten wie Disziplin und Ordnung, Pflichterfüllung und Verläßlichkeit, geordnete Verhältnisse und bescheidener Wohlstand, Streben nach Mehrung des Besitzes und Erhöhung des Lebensstandards ohne Risiko sind charakteristisch.

2.5. Zum aufstiegsorientierten Mittelklassenmilieu (AUF 20% -->24%) gehören Facharbeiter und qualifizierte Angestellte, kleinere selbständige und Freiberufler mit mittleren und hohen Einkommen. Beruflicher und sozialer Aufstieg, vorzeigbare Erfolge und Prestigekonsum bilden den zentralen Lebensinhalt.

2.6. Zum hedonistischen Mittelklassenmilieu (HED 10% --> 13%) gehören vorwiegend Menschen zwischen 20 und 30 Jahren mit geringer, meist abgebrochener Ausbildung, un- und angelernte Arbeiter, Arbeitslose und ausführende Angestellte mit kleinem bis mittlerem Einkommen. Radikaler Individualismus, der Werte wie Freiheit, Ungebundenheit und Spontanität favorisiert und das Leben genießen will, sowie Vernachlässigung der Lebensplanung sind charakteristisch.

2.7. Zum traditionellen Arbeitermilieu (TRA 9%-->5%) gehören Facharbeiter, an- und ungelernte Arbeiter mit kleinen bis mittleren Einkommen. Befriedigender Lebensstandard, dauerhafter und sicherer Arbeitsplatz und Blick auf die materielle Absicherung im Alter, Bescheidenheit, einfache Lebensweise und Integration in eine überschaubare Gemeinschaft sind charakteristisch.

2.8. Zum Traditionslosen Arbeitermilieu (TLO 9%--> 12%) gehören un- und angelernte Arbeiter mit geringer Formalbildung, unteren Einkommen und hoher Arbeitslosigkeit. Streben nach Anschluß an die breite Mittelschicht und deren Konsumstandards sind charakteristisch. Aufgrund der begrenzten finanziellen Möglichkeiten ist der Konsumstil spontan und oft überzogen.

2.9. Zum Neuen Arbeitnehmermilieu (NEA 0%--> 5%) gehören überwiegend junge Schüler, Studenten, Facharbeiter und qualifizierte Angestellte in Schrittmacherindustrien und im öffentlichen Dienst. Realistisch und hedonistisch zugleich, flexibel in den Ansprüchen und Streben nach geistiger und fachlicher Weiterentwicklung in kreativen und verantwortungsvollen Berufen, in denen man eigenständig handeln kann, sowie konventioneller Modernismus und Hightech im Konsumstil sind die Charakteristika dieser Gruppe.

2.10. In der zeitlichen Entwicklung der Milieus hat sich die vertikale Schichtung kaum verändert (Oberklassenhabitus 22%-->19%, Mittelklassenhabitus 58%-->59%, Arbeiterklassenhabitus 18%-->22%). Deutlich erkennbar ist jedoch eine Verschiebung innerhalb der vertikalen Schichtung von den traditionellen zu den neuen, modernisierten und alternativen Milieus (traditionelle 46%-->35%), teilmodernisierte 38%-->45%, modernisierte 14%-->20%).

 

3. Soziale Milieus u. gesellschaftspolitische Grundhaltungen

3.1. Die Zugehörigkeit zu den sozialen Milieus ist durch das Alltagsverhalten der Menschen gegeben, das durch ihr ökonomisches und kulturelles Kapital bestimmt wird. Die gegenseitigen Beziehungen der unterschiedlichen Milieus sind am übersichtlichsten in Bourdieus Raum der sozialen Positionen darstellbar. In diesem Raum gibt es ein Unten und Oben, das durch das Gesamtvolumen des ökonomischen und kulturellen Kapitals gegeben ist, und in dem das mehr kulturelle Kapital links und das mehr ökonomische Kapital rechts angeordnet wird.

3.2. Die Aufgabe der (sozialdemokratischen) Politik ist es, das Gesamtsystem zu integrieren und im gesamten Sozialraum eine überzeugende Verteilungsgerechtigkeit herzustellen, die zur Erhaltung des sozialen Friedens und zur Gewährleistung der Entwicklungsfähigkeit des Systems notwendig ist. Die gesellschaftspolitische Grundeinstellung zu dieser Problematik ist naturgemäß in den verschiedenen Milieus unterschiedlich, wird aber nicht ausschließlich oder automatisch durch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu bestimmt. Dies liegt daran, daß die Menschen in unterschiedlicher Weise die erstrebenswerten Güter des Lebens nicht nur im oberen privilegierten , sondern auch im linken, modernisierten Teil des sozialen Raumes suchen. Außerdem werden die politischen Grundeinstellungen davon beeinflußt, wie die politische Weltlage die Systemintegration beeinflußt und wie es die politischen Eliten verstehen, eine annehmbare Verteilungsgerechtigkeit herzustellen.

3.3. Die gesellschaftspolitischen Grundeinstellungen werden durch die Konfliktlinien der gegenwärtigen Sozialstruktur bestimmt, welche die Herstellung der Verteilungsgerechtigkeit in Frage stellen.

3.4. Die postmoderne Entwicklung der Industriegesellschaft mit ihren Anforderungen führt zu einer Individualisierung der Lebensstile mit einer Erhöhung des kulturellen und ökonomischen Reichtums, zur Pluralisierung und Auflösung der historischen, von Klassen- und Konfessionszwängen geprägten sozialmoralischen Milieus und zur Entkopplung der alltäglichen Lebensführung und Lebenshaltung von typischen Schemata früherer Klassenmentalitäten. Die Klassenmentalitäten sind in ihren Grundmustern zwar nicht verschwunden, sie zielen aber von sich aus nicht auf eine fundamentale Gesellschaftsveränderung, sondern auf die Koexistenz verschiedener Lebensweisen. Es gibt aber eine mehrheitliche Reformströmung für mehr soziale Gerechtigkeit, Integration und Partizipation. Die derzeitige Dominanz der Mittellagen verweist aber darauf, daß diese Änderungen weniger durch einen Bruch als durch partielle Reformen gewünscht werden. Wenn diese jedoch ausbleiben, kann es aber auch zu anderen Konstellationen kommen.

3.5. Die Öffnung des sozialen Raumes durch Entstehung neuer Berufsgruppen mit höherem Bedarf an kulturellem Kapital führte zur Öffnung des Bildungssystems und zur horizontalen Mobilität aus körperlichen Abeiter- und Bauernberufen in Angestellten- und sog. neue Berufe. Damit entstanden aber auch neue soziale Ungleichheiten, die durch politisch - ökonomische Schließungen für die Angehörigen bestimmter Gruppen noch verstärkt wurden. Vertikale Klassenbarrieren und relative Rangabstände sozialer Lagen blieben jedoch trotz absolut wachsender Einkommen und Qualifikationen annähernd gleich.

3.6. Die Öffnung der Bildungssysteme führte zur Verschärfung der Konkurrenz zwischen den Aufstiegswilligen, die zunehmend nicht nach Leistungsunterschieden, sondern nach der Zugehörigkeit zu den klassischen unterprivilegierten Gruppen (Frauen, Alte, Ausländer, Sozialmilieus mit wenig kulturellem Kapital und Bewohner strukturschwacher Regionen) entschieden wurde. Zugleich weitet sich die Privilegienschere nach oben, wo einzelne Gruppen ohne erkennbare Höherqualifikation hochprivilegiert sind oder scheinen.

3.7. Durch den Abbau sozialer Sicherheiten und sektorale Strukturkrisen in Folge neuer Weltmarkttendenzen und der deutschen Vereinigung wurden die klassischen industriegesellschaftlichen Konfliktlinien zwischen Kapital und Arbeit reaktiviert. Dies führt zur quantitativ erheblichen Erosion und derzeit politisch nicht kalkulierbaren Verunsicherung des arbeitsgesellschaftlichen Kerns der Gesellschaft, der lange als durch Sozialstaatlichkeit, Sozialpartnerschaft und Konsumteilhabe integriert galt.

3.8. Die aus den o.a. angeführten Konfliktlinien resultierenden gesellschaftspolitischen Grundeinstellungen können in 7 Typen eingeteilt werden, die zu 4 Hauptlagern von je etwa 25% der Bevölkerung zusammenzufassen sind. Repräsentative Umfragen zeigen, daß diese 7 Politiktypen zwar mit den 9 Sozialmilieus korreliert sind, aber keineswegs mit ihnen übereinstimmen. Je nach ihren biographischen Konflikt- und Vergemeinschaftungserfahrungen können die Angehörigen eines bestimmten Sozialmilieus zu verschiedenen Lernprozessen gelangen, durch die sie sich unterschiedlichen Politiktypen zuordnen. Die im folgenden vorgestellte Verteilung der politischen Grundeinstellungen ist deshalb sicher als eine Momentaufnahme zu betrachten, die sich relativ kurzfristig wesentlich verändern kann.

 

4. Gesellschaftspolitische Grundtypen in Westdeutschland

4.1. Zum Lager der Kritisch - Engagierten gehören die Politiktypen der Sozial - Integrativen (12,8%) und der Radikaldemokraten (10,8%). Obwohl die Kritisch - Engagierten mit ihrem eher sicheren sozialen Status vor allem in den neuen Berufen zu den Gewinnern der Leistungsgesellschaft gehören, sind sie aufgrund ihrer kritischen Ansprüche unzufrieden. Zu ihnen gehört auch der politisch aktive Teil des Neuen Arbeitermilieus. Er findet sich in beiden Teilgruppen der Kritisch - Engagierten, die sich, bei gleichem Modernisierungsgrad, durch etwas verschiedene Akzente ihrer Herkunft unterscheiden.

Die Teilgruppe der Sozial - Integrativen, aus traditionellen Arbeitermilieus in moderne mittlere Berufslagen aufgestiegen, hat sich Momente des egalitär - bescheidenen Herkunftshabitus bewahrt. Ausgeprägte soziale Gerechtigkeitsvorstellungen, die alle sozialen Gruppen einbeziehen, motivieren eine hohe Parteienverdrossenheit und zugleich eine hohe politische Basisaktivität.

Die Radikaldemokraten sind weniger universalistisch, d. h. eher für menschen- und bürgerrechtliche als für soziale Ungleichheiten sensibel. Während ihnen sehr am Abbau der neuen sozialen Ungleichheiten und der Gleichstellung von Frauen, Ausländern und Minderheiten liegt, nehmen sie die alten ökonomischen Rangunterschiede weniger als Problem war. Dies entspricht ihrer sozialen Herkunft: Sie sind überwiegend keine Aufsteiger, sondern haben, wie schon ihre Eltern, eher gehobene, freilich modernere soziale Positionen und eine Hochkulturmentalität. Mit ihrem bildungshumanistisch motivierten demokratischen Radikalismus und ihrem stärkeren Engagement auch in der Parteipolitik bieten sie sich als alternative Elite an.

4.2. Die Skeptisch - Distanzierten (17,7%) hängen keinem geschlossenen Gesellschaftsbild an. Von gängigen gesellschaftlichen Erklärungsmustern sind sie desillusioniert und befürchten, ihren heutigen Lebensstandard in den nächsten Jahren nicht aufrechterhalten zu können. Aus der von begrenztem Aufstieg charakterisierten Mittellage zwischen Tradition und Modernisierung heraus erstreckt sich ihre Einstellung zur Politik von zynischer Distanz bis zu besonders starkem Engagement, insbes. bei Gewerkschaften, Grünen und Rechten. Sie repräsentieren einen Großteil der modernen Arbeitnehmermilieus mit mittlerem Bildungsniveau und mittleren Einkommen, aber 25% gehören zu den mittleren und unteren traditionellen Milieus. Für die Zusammenfassung dieser Gruppe mit einem Teil der Gemäßigt - Konservativen zu einem Lager der Desillusionierten von 25% kann ich keine nachvollziehbaren Begründungen finden.

4.3. Die Gemäßigt - Konservativen (17,6%) identifizieren sich grundsätzlich mit der bestehenden Leistungsgesellschaft und deren sozialen Ungleichheiten. Allerdings müssen Stabilität, Sicherheit und Harmonie gewährleistet werden. Hier sehen sie das Aufgabenfeld der Politik, zu der sie ansonsten persönlich Distanz halten. Gemäßigt konservative finden sich vor allem in den unteren und mittleren Lagen des sozialen Raumes. 33,2% sind dem aufstiegsorienten Milieu, 24,2% dem kleinbürgerlichen Milieu und 11,2% dem traditionslosen Arbeitnehmermilieu zuzuordnen. Die Einkommen sind durchschnittlich, das Bildungsniveau leicht unter dem Durchschnitt. Wohlstandschauvinistische Haltungen sind weit verbreitet, aber noch nicht mit Ausländerhaß verbunden.

Im Unterschied zu den Einteilungen im zugrundeliegenden Buch würde ich diese Gruppe als Ganzes zusammen mit den Traditionell - Konservativen dem Lager der Zufriedenen zuordnen, das hierdurch von 24 auf 31% anwächst.

4.4. Die Traditionell - Konservativen (13,8%) haben grundsätzliches Vertrauen in das bestehende politische System. Ihre sozialdarwinistischen Vorstellungen einer gerechten sozialen Ordnung begründen sie mit einem leistungsbedingten "Oben" und "Unten". Diese Ordnung der sozialen und politischen Hierarchie soll konsequent gegen Bedrohungen von innen und außen verteidigt werden. Traditionell - Konservative finden sich in den oberen und mittleren Bereichen der traditionellen Sozialmilieus. (Konservatives Oberklassenmilieu, Kleinbürgerliches Milieu und Aufstiegsorientiertes Milieu). Die Einkommen sind überdurchschnittlich auch in mittleren und unteren Positionen. Man glaubt, daß wirtschaftliche und soziale Probleme, wie z.B. Arbeitslosigkeit, nur mit, aber nicht gegen das "Profitdenken der Unternehmer" gelöst werden können. Als ein für den eigenen Status bedrohlicher Verteilungskonflikt wird die Auseinandersetzung zwischen In- und Ausländern wahrgenommen und damit die Ausgrenzung ausländischer Bevölkerungsteile von den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Standards der Bundesrepublik begründet. Politisches Interesse wird bekundet, politische Beteiligung ist aber nur gering und wird von den Profis erwartet, es gibt aber überdurchschnittlich viele Kirchgänger beider Konfessionen.

4.5. Im Lager der Deklassierten (27%), konzentrieren sich die Zweifel an der Verteilungsgerechtigkeit und kumulieren die Merkmale der Benachteiligung. Es sind Menschen mit geringen Bildungs- und Einkommensstandards und teilweise auch reduzierten sozialen Netzen. Die Teilgruppe der Enttäuscht - Apathischen (13,4%) erlebt die Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft als schicksalhaft unabänderlich. Politik ist in der von ihnen wahrgenommenen gesellschaftlichen Differenzierung "Oben" angesiedelt und damit außerhalb des eigenen Horizonts. Mit ihren traditionellen Arbeitnehmerorientierungen verbinden sie keinerlei Engagement. Bei anwachsenden sozialen Disparitäten münden eigene Abstiegs- und Zukunftsängste in wohlstandschauvinistische Einstellungen. 31,2% der Enttäuscht - Apathischen gehören dem Kleinbürgerlichen Milieu, 19,4% dem Aufstiegsorientierten Milieu, 16,5% dem Traditionslosen und 14% dem Traditionellen Arbeitermilieu an.

Die zweite Teilgruppe der Deklassierten sind die Enttäuscht - Aggressiven.(13,8%). Ihr Gesellschaftsbild ist durch die von Ihnen empfundene Lage "kleiner Leute" und von starken Verunsicherungen durch die Modernisierung der Gesellschaft geprägt. Gleichwohl befürworten sie eine sozialdarwinistisch interpretierte Leistungsgesellschaft, in der das gesellschaftliche Oben und Unten nur durch einen individuellen Aufstieg überwindbar ist. Persönliche Enttäuschungen und soziale Befürchtungen münden in ausgeprägte Ressentiments und in extreme wohlstandschauvinistische Einstellungen. 25,8% der Enttäuscht - Aggressiven gehören zu den Arbeitermilieus, 30% zum Kleinbürgerlichen Milieu und 29,5% zum Aufstiegsorientierten Milieu. Die breite Streuung der Einkommen liegt im Durchschnitt über der der Enttäuscht - Apathischen. Rebellion am Stammtisch und Politikverdrossenheit sind typisch.

 

Einschätzung des Evolutionspotentials in der alten BRD

Unterstellt man eine wissenschaftlich objektive Umfrage und eine ebensolche Darstellung der in Abschnitt 4 beschriebenen politischen Gruppierungen, so ist daraus der derzeit erreichte Entwicklungsstand des gesellschaftlichen Bewußtseins ersichtlich. Hieraus ist zu entnehmen, daß 42% der Bevölkerung (Radikal - Demokraten, Gemäßigte und Traditionelle Konservative) die ökologische Krise und ihre ökonomischen Wurzeln bisher nicht erkannt haben und nicht an einer radikalen Reform der kapitalistischen Gesellschaft interessiert sind (Wähler der CDU, der FDP und des rechten Flügels der SPD). Maximal 30% der Bevölkerung (Sozial - Integrative und Skeptisch - Distanzierte) sind an einer grundsätzlichen Veränderung der Gesellschaft interessiert und bereit, dafür auch etwas zu tun (Wähler des linken Flügels der SPD, der Grünen und der PDS), während 27% (enttäuscht apathische und enttäuscht - aggressive) derzeit zwar ein Potential für Veränderungen darstellen, aber unentschieden sind und nicht gewillt, sich für Veränderungen zu engagieren (Nichtwähler). Es zeigt sich, daß ein Evolutionspotential zwar vorhanden, aber derzeit noch entschieden zu gering ist, um gesellschaftliche Veränderungen bewirken zu können. Ferner zeigt sich, daß es nicht in erster Linie und vor allem nicht nur die einkommensschwachen Milieus sind, die sich für Veränderungen engagieren. Leider gibt es keine eindeutigen Angaben zur Lage der Politiktypen im Bourdieus'schen sozialen Raum, aber es hat den Anschein als wären die Milieus mit dem höheren kulturellen Kapital stärker in der Gruppe der Veränderungswilligen vertreten.

Ähnliche Untersuchungen machte Engler für die DDR.