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Rolf Todesco

Achilles und die Schildkröte

Konstruktive Lösung von Zenons Paradoxie

Vortrag im Seminar Radikaler Konstruktivismus mit Heinz von Foerster, 4. - 6. Februar 1994, in Einsiedeln


 

Prolog

Kann Achilles die Schildkröte überholen?

Achilles ist der schnellste Läufer in ganz Griechenland. Zenon legt ihm folgendes dar:

"Hör mal, ich habs mir genau überlegt. Es ist egal, wie schnell Du laufen kannst, Du kannst kein Rennen gegen meine Schildkröte gewinnen, wenn Du ihr nur einige Meter Vorsprung gewährst."

"Mach Dich nicht lächerlich ..."

"Ich wills Dir erklären. Bis Du dort bist, wo sie startet, ist sie bereits etwas weiter, weil sie ja auch nicht still steht in der Zeit, die Du brauchst um dorthin zu kommen. Bis Du wiederum dort bist, wo sie zuvor war, ist sie wieder etwas weiter ... Merkst Du, dass Du sie gar nie einholen kannst?"

Achilles, der Schnellste, der noch nie ein Rennen verloren hatte, liess sich nur leicht verunsichern. Weil aber Zenon immerhin auch in seinen Augen eine geistige Autorität war, machte er von Zeit zu Zeit ein kleines Rennen gegen seine eigene Schildkröte - nur um sicher zu sein. Sicher sein ist eben das A und das O auf unserer Welt.

Problem

Zenon dagegen, der genau wusste, wie die Rennen von Achilles gegen seine Schildkröte ausgingen, hintersinnte sich über seiner Aufgabe fast - wie übrigens nach ihm viele weitere Philosophen. Er hat sich ein Problem gegeben, das er und viele seiner ihm folgenden Philosophiekollegen nicht lösen konnten - während alle praktischen Menschen wie Achilles, das Problem gar nicht sehen konnten. Einige der Philosophen - nicht die geringsten - legten recht schlaue Vorschläge vor:

Zuerst Aristoteles, dem wir die Ueberlieferung von Zenons Texten überhaupt verdanken. Aristoteles argumentierte, man könne eine Strecke nur potentiell beliebig häufig teilen, in Wirklichkeit dagegen sei dies nicht möglich, weshalb Achilles über kurz oder lang aufschliessen müsse. Achilles hörte wohl, was Aristoteles erzählte, er liess sich aber von seinen kleinen Rennen nicht abhalten, weil er als normaler Mensch mit Aristoteles Potentialität nicht viel anfangen konnte, obwohl sie seine Erfahrungen bestätigt hätten.

Etwas später als Aristoteles behauptete G. Leibniz (für Mathematiker offenbar glaubhaft), die Summe der Folge 1 / 2n von 1 bis unendlich, also 1/2 + 1/4 + 1/8 + .. sei gleich 1. Jeder der nachrechnet, statt sich auf waghalsige mathematische Theorien zu verlassen, wird finden, dass das so nicht stimmt (Unendlichkeit und Limes hin oder her) und ohnehin nur das Aufholen, nicht aber das Ueberholen der Schildkröte durch Achilles erklären würde.

Deshalb haben noch später unter vielen andern auch Kant, Bergson und Feyerabend magische Vorschläge zur Lösung des Paradoxons gemacht. Der eigentlich unsterbliche Achilles hatte inzwischen schon längstens tödliche Gewissheit, so dass er seine Rennen nicht mehr austragen musste. Würde er aber noch leben, hätte er sich weder von Kant noch von Bergson oder irgendeinem andern Philosophen von seinen heimlichen Rennen gegen seine Schidkröte abhalten lassen.

Konstruktive Lösung: Systemische Rekonstruktion des Problems

Wir betrachten die Geschichte konstruktiv, das heisst, wir charakterisieren das durch die Geschichte implizierte System. Zenon gehört dann natürlich mit zur Geschichte, er ist der Beobachter, ohne den es die Geschichte gar nicht geben würde: sie ist ja seine Konstruktion. Also ist unsere Geschichte eine Geschichte, in welcher wir Zenon und das Rennen zwischen Achilles und der Schildkröte beobachten. Wir nehmen rationellerweise an, dass ein Läufer mit einer gegeben Geschwindigkeit für ein kürzere Strecke immer weniger lange benötigt als für eine längere, für die halbe Strecke beispielsweise die halbe Zeit. Natürlich teilen wir mit Zenon auch, dass sich die Schildkröte immer einen bestimmten Vorsprung verschafft, bis Achilles dort ist, wo sie war.

Nun beobachten wir unser System. Der Einfachheit halber nehmen wir an, die Schildkröte sei halb so schnell wie Achilles und habe einen Vorsprung von 100 Metern bekommen. Das Rennen wird gestartet. Nach 10 Sekunden ist Achilles dort, wo die Schildkröte gestartet ist, die Schildkröte ist 50 Meter weiter. Zenon registriert die Tatsache und nickt zufrieden. Nach weiteren 5 Sekunden ist der unermüdliche Achilles dort, wo die Schildkröte nach 10 Sekunden war, also nochmals 50 Meter weiter. Die Schildkröte, auch nicht müde, hat 25 Meter Vorsprung erkämpft. Zenon registriert die Tatsache und nickt zufrieden, das Spiel läuft.

Wenn wir den Beobachter Zenon beobachten, registrieren wir, dass er seine erste Messung nach 10 Sekunden vornimmt, seine zweite Messung nach 15 Sekunden, usw., dass er also sein Messintervall laufend halbiert. Es ist leicht zu sehen, was passiert, wenn Zenon seine Strategie beibehält. Nach einigen Messetappen dauert sein Messintervall noch einige Zehntelsekunden, später noch einige Tausendstelsekunden usw. bis die Sache langweilig wird. Die Strecken von Achilles und der Schildkröte werden gemäss unseren sicher vernünftigen Annahmen im gleichen Ausmass wie Zenons Zeitintervalle kürzer, am Prinzip des Rennens ändert sich nichts: Achilles hat keine Chance.

Der von uns beobachtete Prozess läuft nicht in einer irgendwie relativistisch unverständlichen Zeit, sondern in unserer ganz normalen, alltäglichen Zeit, die wir gedanklich ebenso beliebig teilen können wie jede Strecke. Zenon, der Beobachter des Rennens, hat beschlossen, die einzelnen Beobachtungsintervalle immer kürzer werden zu lassen - was wir ihm weder verwehren wollen noch können.

Er protokolliert genau, was er dabei sieht, nämlich dass Achilles die Schildkröte auch nach unendlich vielen Beobachtungen nicht einholen wird. Die Situation ist rational vorhersagbar, ohne irgendwelche Paradoxie.

Selbstverständlich brauchen wir Zenon nicht, wir können auch das Rennen selbst beobachten (konstruieren). Dabei können wir uns selbst so verhalten wie Zenon oder - und das ist unsere konstruktive Entscheidung - ein anderes Beobachtungsverhalten wählen, in welchem wir die Beobachtungszeitintervalle konstant halten, was Zenon uns auch nicht verwehren kann. Logischerweise ist das, was wir in den beiden Fällen sehen, verschieden: wir sehen entweder, was Zenon sieht, oder wir sehen, wie Achilles seine Schildkröte nach kurzer Zeit überholt. Paradoxes jedenfalls sehen wir nicht, wenn wir uns unserer Konstruktion bewusst sind.

Zenon und die Philosophen mögen nun studieren, welche Beobachtungsweise die richtige, die einzig wahre ist; wir lassen dem Beobachter die Wahl.

Epilog: Wohin schauten die para(doxi)lysierten Philosophen?

Philosophen, die Paradoxien wahrnehmen, beschäftigen sich mit der Wirklichkeit. Sie versuchen beispielsweise zu entdecken, ob eine wirkliche (!), physikalische Strecke unendlich teilbar ist oder nicht. Zenon bezeichnete das Problem durch seine Unterscheidung "Kontinuum". Sie setzen sich dazu an dieselbe Stelle wie Meister Zenon, nämlich an die einzige Stelle, wo man Paradoxien sehen kann, weil man von dort den Beobachter nicht sieht. Einigen wurde dieser Sperrsitz sehr zum Verhängnis. B. Russell schrieb: "Ich habe mich wegen der Kreterparadoxie mehrere Jahre mit etwas völlig unwichtigem beschäftigt". Ich glaube, er irrte sich auch darin.

Das Wunderbare am Radikalen Konstruktivismus sehr ich darin, dass er uns als autonome Beobachter oder eben als Konstruktivisten sieht. Wir sehen, was wir sehen, aber nicht ob Achilles die Schildkröte WIRKLICH und WAHRHAFTIG überholt.