Peter Sloterdijk: Der ästhetische Imperativ, Schriften zur Kunst, hg. und mit einem Nachwort versehen von Peter Weibel, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg, 2007, ISBN 978-3-86572-629-2
"(...)es gibt eine Fülle von Versuchen, das Wesen der Musik zu definieren,
sei es, dass man sie als gestaltete Zeit bestimmte oder als Synthese aus
berechneter Ordnung und abgründiger Willkür, sei es, dass man in ihren
höheren Ausprägungen die Begegnung der rigorosen Form mit den Gebärden der
freien Selbstaussprache erkennen wollte oder geradewegs die Kollision von
Zahlenwelt und Leidenschaft. Keine dieser Aussagen kommt dem bekannten
Diktum Thomas Manns gleich, der in seinem unumgänglichen Roman / Doktor
Faustus/ die von Kierkegaard inspirierte Feststellung traf: 'Die Musik ist
ein dämonisches Gebiet ...'
Dieser Satz, zu einem Mantra der Musikologen avanciert, ist in mehrfacher
Hinsicht bemerkenswert; zudem verlangt er in steigendem Maß nach Kommentar.
Als er im Jahr 1947 zur Publikation gebracht wurde, wollte er nicht nur die
düsteren Geheimnisse der deutschen Kultur beleuchten, wo sich, wie es hieß,
Musikalität und Bestialität auf verwirrende Weise ineinander verschlungen
hatten. Er sollte zugleich darauf aufmerksam machen, wie sich auf dem Boden
der Moderne das Künstschöne (sic! O.M.) in das Kunstböse wandeln konnte und
wie sich die besten Kräfte einer hohen Zivilisation gleichsam durch
Teufelslist in ihr Gegenteil zu verkehren vermochten. Was der Aussage von
Thomas Mann aus heutiger Sicht besonderes Gewicht verleiht, ist der Umstand,
dass hier eine Definition durch eine Warnung ersetzt wurde - als ob sich der
Autor zu der Ansicht habe bekennen wollen, es könne von gewissen
Gegenständen keine objektive Theorie geben, und zwar deswegen, weil diese
Gegenstände während ihrer Theoretisierung nicht ruhig halten, sondern wie im
Halbschlaf lauernde Ungeheuer den Kopf heben, sobald von ihnen die Rede ist.
Dem Verfasser des / Doktor Faustus/ zufolge schienen die Musikologen gut
beraten zu sein, wenn sie die Einsicht der christlichen Dämonologen
beherzigten, nach welcher der Dämon keine Neutralität gestattet. Er ist kein
Modellobjekt, das sich in sicherer Entfernung erörtern ließe, sondern eine
Macht, die auf Anrufung reagiert. Wer den dunklen Geist beim Namen nennt,
hat ihn auch schon herbeigerufen, und wer ihn gerufen hat, soll wissen, dass
er einer Instanz begegnen kann, die stärker sein wird als er selbst. Darum
sagt das Volksbuch vom Doktor Faust: / Weißt du was, so schweig./"