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Shannon, Claude: Der vierdimensionale Dreh, oder: Ein bescheidener Versuch, um amerikanischen Autofahrern in England zu helfen (1993). Mit handgezeichneten Abbildungen des Autors (aus dem Amerikanischen von Stefan Heidenreich). In: ders., Ein/Aus: Ausgewählte Schriften zur Kommunikations- und Nachrichtentheorie, hrsg. von Friedrich Kittler, Peter Berz, David Hauptmann und Axel Roch. Berlin: Brinkmann + Bose 2000, S. 311-320.

Hinweis:

"Ich habe dazu gearbeitet in dem Vortrag": Lehmann, Maren (2005): Rats in Mazes / Ratten im Labyrinth oder: Lernen mit Theseus, in: The Design Journal vol. 8/2 (Special Issue: EAD Conference, Bremen 2005). Ashgate Publishing, Burlington/UK, S. 13-24.


Zusammenfassug von R. Maresch (Kommunikation ohne Menschen  )

Vielleicht ist es am besten, wenn man das Buch entgegen aller Gewohnheit von hinten nach vorne zu lesen beginnt. Der Zugang wird dadurch leichter. Und zwar nicht nur, weil dort die kürzeren Arbeiten versammelt sind, Texte und Entwürfe, die eher experimentellen Charakter tragen. Sondern auch, weil der Leser da rasch mit Shannons mitunter sonderbarer und skurriler Gedankenwelt bekannt gemacht und konfrontiert wird. Beispielsweise mit jenem herrlich "bescheidenen Vorschlag", den Shannon Amerikanern macht, die mit dem Auto auf Englands engen und mit Steinmauern umsäumten Straßen unterwegs sind und dort der "wilden und gefährlichen Welt" des Linksverkehrs ausgesetzt sind. Ebenso Schmunzeln wie großes Vergnügen bereitet es zu hören, wie der in physikalischen Fragen beschlagene Ingenieur dieses Alltags- oder Kulturproblem technisch zu meistern beabsichtigt.

Als ob er gerade eine VR in 3D entwerfen würde, empfiehlt Shannon, das Gesichtsfeld des Fahrers mit einem Spiegelsystem so zu umgeben, damit dieser die Welt "da draußen" seitenverkehrt erlebt; zudem regt er den Einbau eines Differentialgetriebes im Lenkrad an, womit er jenes Fehlverhalten eliminieren möchte, das der "motorische Output" des Fahrers auf den "sensorischen Input" der Spiegelungen ausübt. Statt nach rechts steuert der Wagen beim Drehen des Rades selbstständig nach links und vice versa. Der Linksverkehr fließt zwar wie gehabt, der "vierdimensionale Dreh", durch den die Sensomotorik manipuliert wird, simuliert dem Fahrer aber den gewohnten Rechtsverkehr seiner Heimat. Alles wäre wieder, so Shannon, wie "es sich gehört". Das Fahren, Lenken und Steuern in fremdem Terrain würde zu einem kulturell vertrauten Akt.

Vor dem Heimischwerden hat die Physik jedoch die Bewältigung zweier weiterer Probleme gestellt, die wiederum durch die Umkehrung von Wahrnehmung und Bewegung entstehen. Aufgrund der Dreifachspiegelung können Verkehrszeichen, Wegweiser und Entfernungsangaben nämlich nur anders herum gelesen werden. Weswegen der Fahrer, will er sie entziffern, am Straßenrand anhalten, den Rückwärtsgang einlegen und dicht an das Straßenschild heranfahren muss, um die Information durch den Rückspiegel zu erfahren.

Eine fast unlösbare Aufgabe bereitet hingegen der Körper des Fahrers. Da Zentrifugalkräfte bekanntlich der Schwerkraft und nicht der virtuellen Welt der Screens und Spiegel folgen, drücken sie den Fahrer in einer scharfen oder lang gezogenen Kurve immer in die entgegengesetzte Richtung, auf die Dauer ein stressiger oder wie Shannon süffisant anmerkt, "höchst unangenehmer und verwirrender Eindruck" für ihn.


Ein erster Cyberwarrior?

Darum schlägt er vor, den Fahrer in eine Flüssigkeit zu tauchen. Sie soll die Masse seines Gewichts neutralisieren und ihn in Balance halten. Damit der Körper aber nicht nach oben steigt, der Fahrer atmen kann und seine Haut Schaden nehmen könnte, steckt Shannon ihn kurzerhand in einen Taucheranzug, rüstet ihn mit Schnorchel aus und zurrt ihn mit einem Gurt am Sitz fest. Mag der Körper durch Apparate, Vorrichtungen und Gerätschaften zwar entfremdet sein, sensomotorisch ist er aber in ein vertrautes Umfeld platziert, sodass das Linksfahren durch Shannons fantastischer Konstruktion scheinbar endgültig zum Kinderspiel geworden ist. Unbekannt ist, ob das schon jemand erprobt hat. Genialität und Wahn: das ist der eine Teil von Shannons Welt.

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