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Roth, Gerhard: Erkenntnis und Realität: Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit, in: Schmidt 1987


Textstellen

"Die Sinnesorgane übersetzen die ungeheure Vielfalt der Welt in die ›Einheitssprache‹ der bioelektrischen Signale (Nervenpotentiale), denn nur diese Sprache kann das Gehirn verstehen [...]. Man kann leicht einsehen, daß diese Übersetzung in die neuronale ›Einheitssprache‹ etwas für die Funktion von Nervensystemen Unabdingbares ist, denn wie könnten sonst im Dienst der motorischen Verhaltenssteuerung Auge und Muskeln, aber auch Auge und Ohr, Gedächtnis und Geruch miteinander kommunizieren, d.h. Instanzen, die äußerst unterschiedlich gebaut sind und ebenso unterschiedlich funktionieren" (232 f.).

"All dies führt zu der merkwürdigen Feststellung, daß das Gehirn, anstatt weltoffen zu sein, ein kognitiv in sich abgeschlossenes System ist, das nach eigenentwickelten Kriterien neuronale Signale deutet und bewertet, von deren wahrer Herkunft und Bedeutung es nichts absolut Verläßliches weiß"(235).

"Die Gesamtheit unserer kognitiven Welt läßt sich in drei große Bereiche teilen: einen ersten Bereich, dem alle Dinge und Prozesse der sogenannten Umwelt angehören, die wir also als ›Dingwelt‹ erfahren; einen zweiten Bereich, zu dem unser Körper und alle mit ihm verbundenen Erfahrungen gehören, die wir also ›Körperwelt‹ nennen können; und einen dritten Bereich, in dem alle unsere unkörperlichen Zustände und Erlebnisse existieren, also Gefühle, Vorstellungen, Gedanken" (236).

"Diese Grenze zwischen kognitivem Körper und kognitiver Umwelt innerhalb der kognitiven Gesamtwelt ist eine unmittelbare, denn die Vermittlung zwischen Welt und Gehirn durch die Sinnesorgane, die in der materiellen, ›realen‹ Welt des Organismus existiert, existiert natürlich innerhalb der kognitiven Welt, der ›Wirklichkeit‹ unseres Gehirns, nicht" (238).

"Das Gehirn ist als neuraler Apparat ein solches selbstreferentielles System. Seine neuralen Zustände sind zirkulär angeordnet [...]. Es kann über die Sinnesorgane von Ereignissen der Umwelt beeinflußt werden, aber die Art und Weise dieser Beeinflussung wird von ihm selbst (durch seine funktionale Organisation) festgelegt." [Bis an diese Stelle vollzieht Roth die Beschreibung der Geschlossenheit des Nervensystems durch Maturana nach: Nervenaktivität veranlaßt weitere Nervenaktivität. Roth unterscheidet aber zusätzlich zwischen der so beschriebenen funktionalen Selbstreferenz überhaupt und der spezifischen Form semantischer Selbstreferentialität, die diese im Fall des Gehirns annimmt.] "Zugleich ist das Gehirn ein semantisch selbstreferentielles oder selbstexplikatives System: es weist seinen eigenen Zuständen Bedeutungen zu, die nur aus ihm selbst genommen sind. [...] Man muß aus Gründen der Begriffslogik funktionale von semantischer Selbstreferentialität unterscheiden, denn nicht alle funktional selbstreferentiellen Systeme entwickeln eine semantische Selbstreferentialität; dies ist an besondere selbstreferentielle Organisationsprinzipien des Gehirns gebunden" (241).

"Dabei handelt es sich keineswegs um eine Re-Konstruktion, wie einige Erkenntnistheoretiker behaupten, denn dazu müßte das Gehirn ja das Original kennen (es sei denn, man versteht den Ausdruck ›Rekonstruktion‹ in dem Sinne, daß man Teile ohne Kenntnis des Originals zusammensetzt und dann sagt: so könnte es gewesen sein, es paßt zumindest so zusammen)" (243).

"Ich sehe diesen Standpunkt des kritischen Realismus [...] als ›sinnesphysiologische Perspektive‹ an. [...] Eine ganz andere Perspektive als die soeben aufgezeigte tut sich auf, wenn man das Wahrnehmungsproblem nicht vom Standpunkt der Sinnesorgane, sondern vom Standpunkt des Gehirns sieht. Die Sinnesorgane und ihre Komponenten werden zwar z.T. sehr spezifisch von Umweltreizen aktiviert [...]. Die neuronale Erregung jedoch, die aufgrund der sensorischen Reizung in den Sinnesorganen entsteht und zum Gehirn weitergeleitet wird, ist als solche unspezifisch" (231 f.).

"Das Gehirn hebt die prinzipielle Isolation aller neuronaler Systeme von der Welt dadurch auf, daß es die Welt als interne Umwelt konstituiert und mit dieser umgeht. Das gilt insbesondere für die soziale Umwelt. Und so ist es kein Widerspruch, daß unsere individuelle, in sich abgeschlossene Wirklichkeit eine soziale Wirklichkeit ist. Denn das reale Gehirn, das diese individuelle Wirklichkeit erzeugt, kann [...] seine Funktionen nur unter spezifischen sozialen Bedingungen entwickeln" (253 f.).