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Luhmann, Niklas: Der Begriff der Gesellschaft

Nikas Luhmann (1927-1998) - einer der herforragenden Soziologe des 20. Jahrhunderts, wurde 1927 in der kleinen Stadt Lüneburg in der Familie eines Bierbrauereibesitzers geboren. In den Jahren 1946-49 studierte er Jura in Freiburg, danach arbeitete er in der Landesverwaltung. Hier lernte er die Praxis der öffentliche Dienste kennen. 1960-61 nahm er Urlaub und studierte in Harvard beim Stammvater des Strukturfunktionalismus,
[ ] Zur Inhalt Das Studium der theoretischen Soziologie


l.

    Betrachtet man Wissenschaften wie Biologie, Psychologie oder Soziologie aus der Distanz eines unbeteiligten Beobachters, so könnte man auf die Idee kommen, die Biologie habe es mit dem Leben zu tun, die Psychologie mit der Seele oder dem Bewußtsein und die Soziologie mit der Gesellschaft. Bei näherem Zusehen merkt man dann aber, daß diese Disziplinen mit Begriffen, die die Einheit ihres Gegenstandes bezeichnen sollen, charakteristische Swierigkeiten haben. Der Begriff der Autopoiesis zielt auf genau dieses Problem. Er ist von Humberto Maturana zunächst für den Fall des Lebens eingeführt worden1, ist aber möglicherWeise auch auf Bewußtsein und auf Gesellschaft anwendbar. Aber es handelt sich um einen Begriff, der im faktiscnen Betrieb dieser Disziplinen kaum eine Rolle spielt, so daß uns die Frage zurückbleibt, weshalb es eigentlich dieses Problem gibt, die Einheit des Gegenstandes dieser Diszipllien mit einnem wissenschaflichen Begriff zu bezeichnen.
Es muß also nicht prinzipiell verwundern, wenn auch die Soziologie Schwierigkeiten hat, die Einheit ihres Gegenstandes zu bezeichnen. Sollte man "sozial" sagen? Aber der Begriff ist zu lieb, zu freundlich, zu warmherzig. Wo bliebe dann das Unsoziale, das Verbrechen, Durkheim's Anomie? Man kannte auf den Begriff der Gesellschaft ausweichen, und tatsächlich findet man in anderen Fächern oder im öffentlichen Diskurs die Gewohnheit, die Soziologie zu den Gesellschaftswissenschaften zu zahlen. Sucht man aber nach einem Begriff dei Gesellschaft, gerät man erst recht in Schwierigkeiten. Das Wort kommt vor, aber nach einem Begriff, der mit einem für theoretische Zwecke ausreichenden Genauigkeit den gemrinten Gegenstand bezeichnete, sucht man vergebens.
Für diesen Verzicht mag es zunächst historische Gründe gegeben haben. Als die Soziologie sich am Ende des vorigen Jahrhunderts als akademische Disziplin einzurichten begann, war der Begriff der Gesellschaft bereits vorhanden, war aber durch seine eigene Geschichte geprägt und für die Zuecke der neuen Disziplin problematisch, manche meinten: unbrauchbar geworden. Teils fungierte der Begriff als Komponente einer Unterscheidung, die das, was man zu bezeichnen hatte, in der Differenz — oder soll ich sagen: in der Falte? — verschwinden ließ: Staat und Gesellschaft oder Gesellschaft und Gemeinschaft. Teils war er ideenpolitisch mißbraucht worden und folglich ideologisch umstritten. Wenn man nicht mit der "formalen Soziologie" ganz auf ihn verzichten wollte, mußte man ihn gegen seine eigene Geschichte präzisieren. Das ist jedoch nie wirklich gelungen.
Nun, das waren die Probleme unserer verehrten Klassiker. Es sind nicht die unseren. Wenn die Soziologie auch heute noch vor dieser Hürde scheut, müssen andere Gründe eine Rolle spielen. Ich meine, daß man von "obstacles epistémologiques" sprechen kann in genau dem Sinne, den Gaston Bachelard mit diesem Begriff verbunden hat.2  Es gibt gewisse Vorteile traditioneller Erwartungen an den Begriff, die nicht (oder nur schwer, nur im Kontext eines ganz neuen Paradigmas) abgelöst und ersetzt werden können.
Ich möchte drei solcher obstacles anführen, die ich für die wichtigsten halte:
  1. 1. Der erste begrifft die Annahme, daß die Gesellschaft aus Menschen bestehe oder aus Beziehungen zwischen Menschen. Ich nenne ihn das humanistische Vorurteil. Aber wie soll man das verstehen? Besteht sie Armen un Beinen, Gedanken und Enzymen? Schneidet der Friseur der Gesellschaft die Haare? Muß ihr geiegentlich etwas Insulin zugeführt werden? Welche Art von Operation charakterisiert die Gesellschaft. Wenn die Zellchemie ebenso dazugehört wie die Alchemie der unbewußten Verdrängung? Offensichtlich hält das humanistische Vorurteil absichtlich an behgrifflicher Unschärfe fest, und dann muß man fragen: weshalb? Der Theoretiker wird selbst zum Patienten.
  2. Das zweite Vorurteil, daß die Begriffsentwicklung blockiert, besteht in der Voraussetzung einer territorialen Vielheit von Gesellschaften. China ist eine, Brasilien eine andere, Paraguay eine, dann also auch Uruguay. Alle Bemühungen um Abgrenzungschärfen sind mißlungen, ob sie nun auf staatliche Organisation oder auf Sprache, Kultur, Tradition abstellen. Zwar gibt es unübersehbare Unterschiede zwischen den Lebensbedingungen in diesen Territorien, aber solche Differenzen müssen als Differenzen in der Gesellschaft erklärt, nicht als Differenzen zwischen Gesellschaften vorausgesetzt werden. Oder will die Soziologie ihr Zentralproblem durch die Geographie lösen lassen?
  3. Das dritte Vorurteil ist erkenntnistheoretischer Art. Es folgt aus der Unterscheidung von Subjekt und Objekt. Der bis in dieses Jahrhundert hinein herrschenden Erkenntnistheorie entspricht es, Subjekt und Objekt (wie Denken und Sein, Erkenntnis und Gegenstand) als getrennt zu denken und eine Beobachtung und Beschreibung der Welt ab extra für möglich zu halten; ja Erkenntnis nur dann als solche anzuerkennen, wenn jede zirkuläre Vernetzung mit ihrem Gegenstand vermieden ist. Nur Subjekte haben das Privileg der Selbstreferenz, Objekte sind, wie sie sind.
Aber die Gesellschaft ist ganz offensichtlich ein sich selbst beschreibendes Objekt. Gesellschaftstheorien sind Theorien in der Gesellschaft über die Gesellschaft. Denn das erkenntnistheoretisch verboten wird, kann es keinen sachangemessenen Begriff der Gesellschaft geben. Anders gesagt: der Begriff der Gesellschaft müßte autologisch gebildet werden. Er müßte sich selbst mitenthalten. Außerhalb der Soziologie sind solche Sachverhalte ganz geläufig. Der Begriff der Autologie — selbst im übrigen ein autlogischer Begriff — stammt aus der Linguistik. Namen wie Wittgenstein oder Heinz von Foerster, George Spencer Brown oder Gotthard Günther stehen für die Geläufigkeit dieser Einsicht. Die linguistische Wende der Philosophie macht sie unausweichlich. Ebenso Quines Forderung einer naturalisierter Epistemologie. Warun also sollte die Soziologie sich sperren, wo doch gerade ihr Gegenstand sie lhr besonders nahelegt. Vielleicht eben deshalb! Vielleicht kennt sie die Gesellschaft zu gut — oder auch zu kritisch, — um sich in ihr wohl zu fühlen. Aber dann sollte man ihr Mut zusprechen. Es braucht ja gar nicht auf Affirmation, auf Konsens, auf Konformismus hinauszulaufen. Ganz im Gegenteil: der theologische Prototyp des Beobachters des Systems im System ist der Teufel! Oder auch Perseus, der die Medusa köpfte mit jener Leichtigkeit und Indirektheit, die Italo Calvino in seinen Lezioni Americane so schön dargestellt hat.3
Jedenfalls ist es nicht damit getan, wenn man sich mit Kleinstempirie über Wasser hält oder, wie in Frankfurt, Berührungsängste pflegt, in resoluter Resignation verharrt oder jeden anfeindet, der den Glauben an die Utopie einer normativ einzufordernden Rationalität nicht teilt. Das Problem ist eher ein Problem der Schuierigkeit des Theoriedesigns. Aber die Entwicklungen in den interdisziplinären oder transdisziplinären Fächern wie cognitive sciences oder Kybernetik, Systemtheorie, Evolutionstheorie, Informationstheorie geben Anregungen genug, daß man es versuchen konnte.

II.


 


Ich schlage vor, bei einem solchen Versuch vom Systembegriff auszugehen. Das besagt allerdings noch nicht viei, denn dieser Begriff wird in sehr verschiedenem Sinne gebraucht. Eine erste Präzisierung, die sofort auf ungewohntes Gelände führt, liegt darin, unter System nicht eine bestimmte Sorte von Objekten verstehen, sondern eine bestimmte Unterscheidung — nämlich die von System und Umwelt. Das muß genau gefaßt werden. ich übernehme dafür die Begrifflichkeit, mit der George Spencer Brown seine "Laus of Form" einleitet.4 Ein System ist die Form einer Unterscheidung, hat also zwei Seiten: das System (als die Innenseite der Form) und die Umwelt (als die Außenseite der Form). Erst beide Seiten machen die Unterscheidung, machen die Form, machen den Begriff aus. Die Umwelt ist für diese Form also ebenso wichtig, ebenso unentbehrlich wie das System selbst. Als Unterscheidung ist die Form geschlossen. "Distinction is perfect continence", heißt es bei Spenser Brown.5 Das heißt: alles, was man mit dieser Unterscheidung beobachten und beschreiben kann, gehort entweder zum System oder zur Umwelt. Und schon fallen uns Merkwürdigkeiten auf. Gehört die Einheit des Systems zum System oder zur Umwelt. Und wo findet man die Grenze der Form? Das, was die beiden Seiten der Form trennt, die Grenze zwischen System und Umwelt, markiert die Einheit der Form und ist eben deshalb weder auf der einen noch auf der anderen Seite zu fassen. Wie Grenze existiert nur als Anweisung, sie zu überqueren — sei es von innen nach außen oder von außen nach innen.
Lassen wir derart schwierige Fragen zunächst beiseite. Sie lassen sich auf einem Entwicklungsstand der Theorie mit so geringer Komplexität nicht behandeln.
Statt dessen müssen wir der Frage nachgehen, wie die Form, wie die Differenz von System und Umwelt produziert wird. Denn die Begrifflichkeit des Formenkalküls von Spencer Broun setzt Zeit voraus, arbeitet mit Zeit, expliziert sich mit Zeit ähnlich wie die Logik Hegels.
Dabei ist der Begriff der Produktion (oder der poiesis im Unterschied zu praxis) bewußt gewählt. Denn er setzt Unterscheidung als Form voraus und behauptet, daß ein Werk hergestellt werden kann, auch wenn der Hersteller nicht alle dazu nötigen Ursachen selbst herstellen kann. Das paßt, wie leicht zu sehen, zur Unterscheidung von System und Umwelt. Das System disponiert über interne und externe Ursachen für die Produktion seines Produktes, und es kann die internen Ursachen so einsetzen, daß sich ausreichende Möglichkeiten der Kombination von externen und internen Ursachen ergeben.
Das Werk aber, das produziert wird, ist das System selbst .sder genauer: die Form des Systems, die Differenz von System und Umwelt. Genau das will der Begriff der Autopoiesis bezeichnen. Er ist explizit gegen einen möglichen Begriff von Autopraxis gesetzt. Es geht nicht um selbstbefrieuigende Aktivitäten wie: Rauchen, Schwimmen, Schwatzen, raisonner (Man kann es nicht auf Deutsch sagen). Der Begriff der Autopoiesis führt dann zwangsläufig zu dem schwierigen, oft mißverstandenen Begriff der operativen Geschlossenheit des Systems. Bezogen auf Produktion besagt er natürlich nicht; kausale Isolierung, Autarkie, kognitiver Solipsismus, wie Gegner oft  vermutet haben. Er ist vielmehr eine zuingende Konsequenz der trivialen (begrifflich tautologischen) Tatsache, daß kein System auferhalb seiner Grenzen operieren kann. Dies führt uns zu dem Schluß, und er bildet die erste Etappe einer Klärung des Gesellschaftsbegriffs, daß es sich (wenn man überhaupt den Formbegriff System anwenden will), um ein operativ geschlossenes autopoietisches System handeln muß.
In dieser Abstraktionslage merkt man nicht so schnell, was sas bedeutet. Dir finden uns bereits jenseits jener obstacles epistémologiques, die uns so fragwürdig erschienen waren. Denn operative Geschlossenheit schließt Menschen ebenso wie Länder aus dem Gesellschaftssystem aus. Und sie schließt statt dessen Operationen der Selbstbeobachtung und der Selbstbeschreibung ein. Die Humanisten und Geographen können aber rasch getröstet werden, denn die Umwelt ist ja unentbehrliche Komponente der Unterscheidung, sie gehört zur Form des Systems. Wenn wir Menschen als lebende und bewußte Systeme und wenn wir Länder mit ihren geographischen und demographischen Besonderheiten aus der Gesellschaft ausschließen, gehen sie der Theorie nicht verloren. Sie finden sich nur nicht dort, wo man sie bisher mit fatalen Konsequenzen für die Theorieentwicklung vermutet hatte. Sie finden sich nicht in der Gesellschaft, sondern in ihrer Umwelt.

III.

   Das wichtigste Stück Arbeit am Begriff der Geseilschaft steht uns noch bevor. Es wird aufgerufen mit der Frage, welche Operation denn das Gesellschaftssystem produziert und, wie wir hinzufügen müssen, aus ihren Produkten produziert, das heißt reproduziert.
Es muß sich um eine präzise angebbare Operationsweise handeln. Nennt man, wie häufig, um sicher zu gehen, viele Operationen — etwa Denken und Handeln, Strukturbildung und Prozeßablauf — verschwindet die gesuchte Einheit in der Blässe und Fadheit des "und". (Man sollte "unds" in theoriebautechnischen Angelegenheiten verbieten). Wir müssen mit der Bestimmung der Operationsweise, mit der Gesellschaft sich rpoduziert und reproduziert, etwas riskieren. Sonst verliert der Begriff alle Kontur.
Mein Vorschlag ist: den Begriff der Kommunikation zugrundeyulegen und damit die soziologische Theorie vom Handlungsbegriff auf den Systembegriff umzustellen. Das ermöglicht es, das soziale System als ein operativ geschlossenes, nur aus eigenen Operationen bestehendes, Kommunikationen aus Kommunikationen reproduzierendes System darzustellen. Beim Begriff der Handlung sind externe Referenzen kaum zu vermeiden. Eine Handlung erfordert, weil sie zugerechnet werden muß, die Bezugnahme auf nicht sozial konstituierte Sachverhalte: auf ein Subjekt, ein Individuum, für alle praktischen Zwecke sogar auf einen lebenden Leib, also auf eine Stelle im Raum. Nur mit Hilfe des Begriffs der Kammunikation kann man ein soziales System als ein autopoietisches System denken, das nur aus Elementen. nämlich Kommunikationen besteht, die es selbst durch das Netwuerk eben dieser Elemente, durch Kommunikationen produziert und reproduziert.
Die Theorieentscheidungen für die Auffassung der Gesellschaft als autopoietisches System und für die Charakterisierung der das System reproduzierenden Operation als Kommunikation müssen also in einem Zuge getroffen werden. Sie bedingen sich wechselseitig. Das heißt auch, daß der Begriff der Kommunikation zu einem ausschlaggebenden Faktor der Bestimmung des Gesellschaftsbegriffs wird. Je nach dem, wie man Kommunikation definiert, definiert man Gesellschaft — und Definition hier verstanden im genauen Sinne als Bestimmung von Grenzen. Mit anderen Worten: die Theoriekonstruktion muß mit zwei Augen durcgeführt werden, das eine auf den Systembegriff, das andere durchgeführt werden, das eine auf den Systembegriff gerichtet. Nur dadurch gewinnt sie die erforderliche Tiefenschärfe.
Schon der Begriff der Kommunikation selbst verändert sich in dieser Konstellation. (Jeder kann man ihn auf kommunikatives Handeln reduzieren und die Beteiligung anderer, sei es als bloßen Effekt dieses Handelns, sei es im Sinne von Hahermas als normatives Implikat registrieren. Noch kann man Kommunikation als Übertragung von Information von einer Stelle auf eine begreifen. Bei solchen Auffassungen würden in der einen oder anderen Weise Träger des Geschehens vorausgesetzt, die nicht selber durch die Kommunikation konstituiert sind. Die Kombination Systemtheorie/Kommunikationstheorie erfordert dagegen einen Kommunikationsbegriff, der es erlaubt zu sagen, daß alle Kornmunikation nur durch Kommunikation produziert wired — selbstverständlich in einer Umwelt, die dies ermöglicht und toleriert.
Hierfür kann man sich eine auf antike Traditionen zurückgehende, seit Karl Bühler übliche Unterscheidung zu nutze machen. Ich reformuliere sie als Unterscheidung von Information, Mittelung und Verstehen. Eine Kommunikation kommt nur zustande, wenn diese drei Aspekte synthetisiert werden können. Im Unterschied zu bloßen Verhaltenswahrnehmungen muß das Verstehen eine Unterscheidung von Mitteilungshandeln und Information zu Grunde legen. Von ihr ist auszugehen. Ohne eine solche "primary distinction" kommt überhaupt keine Kommunikation zustande. Wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, und das ist bei der Verwenendung von Sprache unausweichliech der Fall, kann die weitere Kommunikation sich mit sich selber befassen. Sie ist dann, und nur dann, dafür reich und komplex genug. Sie kann sich dann mit der Information befassen oder mit den Gründen, weshalb gerade dies jetzt und hier gesagt wird; oder mit den Schwierigkeiten des Verstehens des Sinnes der Kommunikation oder schließlich mit dem nächsten Schritt: ob der angebotene Sinn angenommen oder abgelehnt werden soll. Die Unterscheidung von Information, Mitteilung und Verstehen ist mithin eine Unterscheidung, die Unterscheidungen produziert und die, einmal gemacht, das System im Betrieb hält. Wie leicht einzusehen, korrespondiert das mit Batesons Begriff der Information als eines Unterschiedes, der einen Unterschied macht. Und Kommunikation ist nichts weiter als diejenige Operation, die eine solche Transformation von Unterschieden in Unterschiede vollzieht.
Es ist wichtig, dabei zu beachten, daß das einzelne kommunikative Ereignis mit dem Verstehen abgeschlossen ist. Über die Frage, ob das Verstandene der weiteren Kommunikation zugrundegelegt werden wird oder nicht, ist damit noch nicht entschieden. Das kann sein — oder auch nicht. Kommunikationen können angenommen oder abgelehnt werden. Jede andere Auffassung hätte die absurde Konsequenz, daß abgelehnte Kommunikationen gar keine gewesen sind. Daher ist es auch falsch, der Kommunikation eine inhärente, quasi teleologische Tendenz zum Konsens zu unterstellen. Dann wäre ja schon längst alles zu Ende und die Welt stumm wie zuvor. Aber die Kommunikation erschopft sich nicht, sie erzeugt vielmehr, gleichsam im Wege der Selbstprovokation, mit jedem Schritt die Bifurkation von Annehmen und Ablehnen. Jedes kommunikative Ereignis schließt und öffnet das System. Und nur infolge dieser Bifurkation kann es auch Geschichte geben, deren Verlauf davon abhängt, welcher Weg eingeschlagen wurde: der Ja-Weg oder der Nein-Weg.

IV.

Akzeptiert man diesen Begriff der Kommunikation, dann lösen sich alle üblichen obstacles epistémologiques der üblichen Gesellschaftstheorie mit einem Schlage auf; und an ihre Stelle treten Probleme, die sich besser für eine theoriegeleitete wissenschaftliche Forschung eignen.
Es ist auf dieser Grundlage klar, daß konkrete Menschen nicht Teil der Gesellschaft sind, sondern Teil ihrer Umwelt. Es wäre auch wenig sinnvoll, zu sagen, daß die Gesellschaft, aus "Beziehungen" zwischen Menschen besteht. Der Begriff der Kommunikation enthält ein sehr viel präziseres Angebot (rekonstruiert aber möglicherWeise das, was Normalsoziologen meinen, wenn sie von "Beziehungen" sprechen). Es genügt zum Beispiel nicht, daß ein Mensch einen anderen sieht oder hört — es sei denn, daß er dessen Verhalten mit Hilfe der Unterscheidung von Mitteilung und Information beobachtet. Es genügt auch nicht, daß über jemanden gesprochen oder geschrieben wird, um die Beziehung zu ihm als eine soziale Beziehung zu erweisen. Nur die Kommunikation selbst ist eine soziale Operation.
Auch der Begriff der territorialen Grenzen wird entbehrlich und damit die Annahme einer Vielzahl von regionalen Gesellschaften. Welche Bedeutung der Raum und Grenzen im Raum haben, ergibt sich aus ihrer kommunikativen Verwendung, aber die Kommunikation selbst hat keinen Platz-im-Raum. Sie mag durch ihr materielles Substrat abhängig sein von räumlichen Verhältnissen. Aber während für Tiergeselschaffen räumliche Verhältnisse eines der wichtigsten, wenn nicht das einzige Ausdrucksmittel soyialer Ordnung ist, nimmt der Evolution der soziokulturellen Gesellschaft die Bedeutung räumlicher Verhältnisse intolge von Sprache, Schrift, Telekommunikation so stark ab, daß man für heutige Verhältnisse davon ausgehen muß, daß die Kommunikation die restliche Bedeutung des Raumes bestimmt und nicht umgekehrt der Raum die Möglichkeit von Kommunikation freisetzt und beschränkt.
Schließlich ist am Begriff der Kommunikation gut zu verdeutlichen, daß die Gesellschaft ein sich selbst beobachtendes und beschreibendes System ist. Schon die einfache Kommunikation ist nur in einem rekursiven Netzuerk vorheriger und späterer Kommunikation möglich. Ein solches Netzwerk kann sich selbst thematisieren, kann über eigene Kommunikation informieren, kann informationen bezweifeln, Akzeptanz verweigern, zulässige bzw. nichtzulässige Kommunikation normieren usw. — sofern dies nur seinerseits in der operativen Form von Kommunikation geschieht. Damit wird ein Doppelsachverhalt klar: daß die Gesellschaft ein sich selbst beobachtendes und beschreibendes System ist und daß sie ihre eigene Operationsweise benutzen kann, aber auch benutzen muß, um solche selbstreferentiellen Operationen durchzufuhren. Und das gilt auch für Wissenschaft und auch für Soziologie. Alle Kornmunikation über Gesellschaft ist an Konditionierungen durch die Gesellschaft gebunden. Es gibt keinen externen Beobachter mit einer auch nur einigermaßen zureichenden Kompetenz. Obwohl natürlich jedes Einzelbewußtsein sich Gedanken machen kann über das, was es für die Gesellschaft hält; jedes Immunsystem sich selbst beobachten kann im Hinblick auf Krankheiten, die sich nur auf Grund des gesellschaftlichen Zusammenlebens von Menschen einstellen, usw.
Als Zwischenergebnis können wir nunmehr den Begriff der Gesellschaft bestimmen. Die Gesellschaft ist das umfassende System aller Kommunikationen, das sich autopoietisch reproduziert, indem es im rekursiven Netzuerk von Kommunikationen immer neue (und immer andere) Kommunikationen erzeugt. Die Emergenz eines solchen Systems schließt Kommunikationen ein; denn sie sind nur intern anschlußfähig. Und sie schließt alles andere aus. Die Reproduktion eines solchen Systems erfordert also die Fähigkeit zur Diskriminierung von System und Umwelt. Kommunikationen können Kommunikationen erkennen und unterscheiden von anderen Sachverhalten, die zur Umwelt gehören in dem Sinne, daß man zwar über sie, aber nicht mit ihnen kommunizieren kann.
Das führt zu der Frage: Was ändert sich, wenn wir diesen Begriff benutzen? Was wird sichtbar oder auch unsichtbar, wenn wir mit Hilfe der dadurch gegebenen Form beobachten? Oder sogar, wenn ich eine Formulierung aus Italo Calvinos Lezioni Americane benutzen darf: Erschließt uns dieser Begriff den Zugang "alla totalita del dicibile e del non dicibile"?6
Wir verlieren, um damit zu beginnen, die Möglichkeit, über "den Menschen" (im Singular) Aussagen zu machen. Das scheint manche zu schmerzen. Wenn es aber zutrifft, daß es "den Menschen" überhaupt erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gibt, kann man mit guten Ggründen sagen: forget it! Er gehört zu einer Übergangszeit, in der es noch nicht möglich war, die moderne Gesellschaft adäquat zu beschreiben und man statt dessen in Zukunftsillusionen ausweichen mußte, um sich dann mit der semantischen Assoziation von "die Gesellschaft" — "die Zukunft" — "der Mensch" die Hoffnung auf eine verbesserungsfähige Einheit zu beuahren. Diese Projektion eines imaginären Menschen (oder noch schlimmer: eines Menschenbildes) mußte darauf verzichten, den Menschen aus seinem Unterschied zu Mineralien, Pflanzen und Tieren zu bestimmen.7 Sie bot sich deshalb als Begriff ohne Gegenbegriff an, und das heißt: Mit hoher Wahrscheinlichkeit einer moralischen Aufladung durch die Unterscheidung gute Menschen/schlechte Menschen.
Denn dies also geopfert werden kann — leichten oder schueren Herzens je nach der Stärke des Bedürfnisses, gut zu sein: was wird damit gewonnen, daß wir statt dessen einen differentialistischen Begriff vorschlagen, nämlich eine Forrn des Gesellschaftsbegriffs, die dazu zwingt, alles auf System und Umwelt zu verteilen und Aussagen über die Einheit der Differenz zu vermeiden?
Diese Frage soll an drei Beispielen diskutiert werden, im Hinblick auf Sprache, im Hinblick auf die Beziehung von Individuum und Gesellschaft und im Hinblick auf Rationalität.
V
Was Sprache betrifft, legt ein systemtheoretischer Gesellschaftsbegriff es nahe, die Vorstellung aufzugeben, Sprache sei ein Systenm. Die immer Linguisten in der Nachfolge von Saussure an dieser dieser Vorstellung hängen mögen, weil sie die akademische selbstständigkeit ihrer Disziplin zu sichern scheint: man kann nicht gut Sprache und Gesellschaft beide als System begreifen. Der Überschneidungsbereich wäre zu groß, ohne zur Deckung der Begriffe zu führen, denn es gibt auch nichtsprachliche Kommunikation. Die Beziehung dieser beiden System zueinander bliebe unkralbar. Die Linguisten können natürlich an der Vorstellung Gefallen finden, keine Soziologen zu sein. Aber die Differenzierung der Disziplinen ist keine zureichende Antwort auf Sachfragen.
Wenn der Systembegriff nicht mehr auf Sprache angewandt werden sollte, heißt das selbstverständlich nicht, daß das Phänomen Sprache an Bedeutung verliert. Das Gegenteil trifft zu. Man kann die damit freigewordene Theoriestelle anders besetzen, und zwar mit Hilfe des Begriffs der strukturellen Kopplung. Dieser Begriff ist von Humberta Maturana eingeführt worden8, und er hat die Aufgabe, zu bezeichnen, wie operativ geschlossene, autopoietische Systeme in einer Umwelt bestehen können, die einerseits Voraussetzung der Autopoiesis des Systems ist, andererseits aber nicht in diese Autopoiesis eingreift. Das Problem, das dieser Begriff löst, besteht darin, daß das System sich nur durch eigene Strukturen bestimmen kann und zwar nur durch Strukturen, die es mit eigenen Operationen aufbauen und verändern kann; daß aber gleichwohl nicht bestritten werden kann, daß diese Art operativer Autonomie ein Mitwirken, ein Dazu-Passen der Umwelt voraussetzt. Es gibt Leben nicht unter beliebigen physikalischen oder chemischen Umweltbedingungen, auch wenn die Welt nicht bestimmen kann, wohin der Hase läuft. Strukturelle Kopplungen bestehen also, so druckt Maturana dies aus, orthogonal zur Autopoiesis des Systems. Sie tragen keine Operationen bei, die die Fähigkeit hätten,(das System selbst zu reproduzieren — in unserem Falle also: keine Kommunikationen. Aber sie regen das System zu Irritationen an, sie stören das System in einer Weise, die intern dann in eine Form gebracht wird, mit der das System arbeiten kann. Man mag sich an Piagets Begriffspaar Assimilation/Akkommoaation erinnern, oder auch an die Art, wie die funktiontionalistische Psychologie von generalisierten Erwartungen und Erwartungsenttäuschungen gesprochen hatte.
Auf den Fall der Kommunikation angewandt, können wir mit Hilfe dieses Begriffs sagen, daß Sprache auf Grund ihrer auffälligen Eigenarten der strukturellen Kopplung von Kommunikation und Bewußtsein dient. Sprache hält Kommunikation und Büwußtsein, also auch Gesellschaft und Individuum getrennt. Nie kann ein Gedanke Kommunikation sein, aber auch nie Kommunikation ein Gedanke. Immer hat die Kommunikation im rekursiven Netzwerk ihrer eigenen Operationen andere Vorläufer- und andere Nachfolgeereignisse als das, was im Aufmerksarnkeitsbereich eines individuellen Bewußtseins ablauft. Es gibt keinerlei Überschneidung auf operativer Ebene. Es handelt sich um zwei verschiedene operativ geschlossene Systeme. Entscheidend ist, daß es der Sprache gelingt, die Systeme trotzdem, und gerade inhrer verschiedenen Operationsweise, zu koppeln. Die Sprache leistet dies durch ihre artifizielle Auffälligkeit im akustischen Medium der Geräusche und dann im optischen Medium der Schriftzeichen. Sie kann Bewußtsein faszinieren und zentrieren und zugleich Kommunikation reproduzieren. Ihre Funktion liegt demnach nicht in der Vermittiung von Referenz auf eine Außenwelt, sondern ausschließlich in der strukturellen Kopplung. Dies ist jedoch nur die eine Seite ihrer Leistung. Wie alle strukturellen Koplungen hat auch die Sprache einen Einschließungseffekt und einen Ausschließungseffekt. Sie steigert die Irritierbarkeit des Bewußtseins durch Kommunikation und die Irritierbarkeit der Gesellschaft durch das Bewußtsein, das Eigenzustande in Sprache und in Verstehen bzw. Nichtverstehen umsetzt. Damit zugleich werden aber für das Gesellschaftssystem andere Irritationsquellen ausgeschlossen. Das heißt: die Sprache isoliert die Gesellschaft gegenüber fast allen Umweltereignissen physikalischer, chemischer oder lebensförmiger Art mit der einzigen Ausnahme der Irritation durch Beuußtseinsimpulse. So wie das Gehirn durch die extrem geringe physikalische Resonanzfähigkeit von Auge und Ohr fast vollständig isoliert ist gegenüber allem, uas in der Umuelt geschieht, so ist auch das Gesellschaftssystem fast vollständig isoliert gegenüber allem, uas in der Welt geschieht — mit der schmale Bandbreite von Reizen, die über Beuußtsein kanalisiert werden. Und wie im Falle des Gehirns so ist auch im Falle der Gesellschaft diese fast komplette Isolierung die Bedingung operativer Geschlossenheit mit der Möglichkeit des Aufbaus hoher Eigenkomplexität.

VI.

Diese Überlegungen haben uns bereits in die Nähe dessen gebracht, was über das Verhältnis von lndividuum und Gesellschaft zu sagen ist. Zunächst sei nochmals an das entsprechende obstacle epistémologique erinnert: Die Soziologie kann das Individuum nicht mehr gut als Teil der Gesellschaft begreifen, sie kann sich von dieser Vorstellung aber auch nicht trennen. Solange sie als akademische Disziplin existiert, ringt sie mit diesem Problem. Demgegenüber geht der hier vorgestellte Gesellschaftsbegriff von einer vollständigen Trennung von Gesellschaft und Individuum aus. Und nur auf dieser Grundlage ist, so meine These, ein Theorieproqramm möglich, das das Individumm ernst nimmt.
In aller Härte: Die "Telnahme" des Individuums an der Gesellschaft ist ausgeschlossen. Es gibt keine Kommurikation zwischen Individuum und Gesellschaff, denn Kommunikailon ist immer nur eine interne Operation des Gesellschaftssystems. Die Gesellschaft kann mit eigenen Operationen nie aus sich herausgreifen und das Individuum ergreifen; sie kann mit eigenen Operationen immer nur eigene Operationen reproduzieren. Denn sie kann, das sollte eigentlich leicht verständlich sein (aber warum akzeptiert man es nicht?) nicht äußerhalb ihrer eigenen Grenzen operieren. Dasselbe gilt aber auch umgekehrt für das Leben und das Bewußtsein des Individuums. Auch hier bleiben die systemreproduzierenden Operationen im System. Kein Gedanke kann das Beuußtsein, das er reproduziert, verlassen. Und muß man nicht sagen: zum Glück? Denn was würde mir geschehen und wie würde ich Individualität entwickeln können, wenn andere mit ihren Gedanken meine Gedanken bewegen könnten? Und wie sollte man sich Gesellschaft als Hypnose aller durch alle vorstellen können?
Möglich bleibt es natürlich, daß ein Individuum sich Gesellschaft vorstellt. Und mögtich bleibt es erst recht, daß Kommunikation Personen als Adressaten und als Themen verwendet. Aber dann sollte man im strikten antiken Sinn von Personen sprechen und nicht von Individuen (Menschen, Bewußtsein, Subjekten etc.). Namen und Pronomina, die in der Kammunikation verwendet werden, haben nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem, was sie bezeichnen. Niemand ist "ich". So wenig wie das Wort Apfel ein Apfel ist.
Individualität ernst genommen, das heißt: Individuen als Produkt ihrer eigenen Tätigkeit begreifen, als selbstreferentielle historische Maschinen, die mit jeder eigenen Operation den Ausgangszustand für weitere Operationen bestimmen und dies nur durch eigene Operationen tun können.
Es gibt daher auch keine normative Integration von Individuen in die Gesellschaft. Es gibt, anders gesagt, keine Normen, von denen man nicht abweichen könnte, wenn es einem gefällt. Und es gibt keinen Konsens, wenn dies heißen soll, daß die empirischen Zustände, in denen Individuen sich befinden, irgendwie übereinstimmen. Es gibt nur entsprechende Beobachtungsschemata, in denen ein Beobachter sich selbst zu der Feststellung determiniert, daß ein Verhalten mit einer Norm übereinstimmt oder von ihr abweicht. Und dieser Beobachter kann auch ein kommunizierendes System sein — ein Gericht, die Massenmedien etc. Wenn man nach der Realitätsgrundlage von Normen oder von Konsensunterstellungen fragt, muß man deshalb einen Beobachter beobachten; und wenn man darauf verzichtet, Gott als Weltbeobachter zu akzeptieren, gibt es dafür immer mahrere Möglichkeiten.
Erst wenn man die Theorie in dieser Radikalität akzeptiert, kann man sehen, was der Ergänzungsbegriff der strukturellen Kopplung leistet. Er erklärt, daß es trotz dieser operativen Geschlossenheit in der Welt nicht beliebig zugeht. Strukturelle Kopplungen sorgen für Häufung bestimmter und Auschließung anderer Irritationen. Dadurch ergeben sich Trends in der Selbstdetermination von Strukturen, die davon abhängen, mit welchen Irritationen sie es zu tun haben. So sind die Organismen auf die Anziehungskraft der Erde eingestellt, und dies in oft sehr spezifischer Weise. (Ein Wal zerquetscht durch sein pures Gewicht seine eigenen inneren Organe, wenn er nicht im Wasser schuimmt, sondern strandet). Ein Menschenkind, daß ständig den sonderbaren Geräuschen ausgesetzt ist, die als Sprache funktionieren, lernt sprechen. Jede Gesellschaft sozialisiert die Individuen auf der anderen Seite ihrer strukturellen Kopplungen und sie ist als Gesellschaft genau darauf eingestellt. Die Sprache ist binär codiert mit der Möglichkeit, jede Mitteilung bejahend oder verneinend zu beantworten. Jede Norm wird gegen die Möglichkeit abweichenden Verhaltens projiziert. Die Gesellschaft placiert auf diese Weise die (gänzlich unkontrollierbaren) Individuen in ein optionales Schema. Sie konzediert, was sie ohnehin nicht ändern kann, als Freiheit; und dies in einer so stark schematisierten Form, das die Kommunikation über Jas oder über Neins, über konformes oder über abweichendes Verhalten fortgesetzt werden kann, wie immer sich das Individuum entscheidet. Wir erkennen darin evolutionär extrem unwahrscheinliche, hoch selektive Einrichtungen die Trennung und Verbindung von Systemen, von Freiheit und Ordnung.

VII.

Freiheit und Ordnung — das waren die Problemtermini (oder die "Variablen") des letzten überzeugenden Rationatätsbegriffs, den Europa hervorgebracht hat: So viel Freiheit wie möglich bei so viel Ordnung wie nötig, so könnte man das liberale Credo in einer an Leibniz angelehnten Weise formulieren. Seitdem gibt es nur noch Zerfallsprodukte, sei es in der Form einer Unterscheidung mehrerer Rationalitätsbegriffe ohne Bestimmung der Rationalität per se (Weber, Habermas), sei es in Form, der Unterscheidung von Rationalität und Irrationalität, die beiden Seiten der Unterscheidung ihre Berechtigung zugesteht — und wieder: ohne anzugeben, worin denn die Aussage eben dieser Unterscheidung bestehe; oder anders formuliert, was denn durch ihre Form bezeichnet werde. Dem entspricht die Verflüchtigung des Begriffs der Vernunft: Aus einer Eigenschaft menschlicher Lebewesen ist ein nur approximativ zu erreichendes, im wörtlichen Sinne utopisches Ideal geworden.
Es ist nicht leicht zu sehen, ob überhaupt und wie ein systemtheoretischsr Gesellschaftsbegriff aus diesem Dilemma heraushelfen könnte. In jedem Falle gibt es kein Zurück zum alteuropäischen Rationalitätskontinuum von Sein und Denken oder von Natur und Handlung, bei dem die Rationalität genau in der Konvergenz des so Unterschiedenen lag. Also darin, daß das Denken auf die ihm eigene Weise dem Sein entsprach oder das Handeln auf die ihm eigene Weise der Natur. Immerhin fällt an Unterscheidungen nie Sein/Denken und Natur/Handlung eine eigentümliche Asymmetrie auf, in der sich, von heute her gesehen, die Struktur von Rationalität zu verbergen scheint. Wenn man anzunehmen hat, daß das Denken im eigenen Sein dem Sein zu entsprechen habe und das Handeln in der eigenen Natur der Natur, so kommt die Unterscheidung offenbar auf der einen ihrer beiden Seiten, im Denken bzw Handeln, nochmals vor. George Spencer Brown nennt die Operation, die eine solche Struktur realisiert, ein "re-entry" der Form in die Form — oder der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene.9  Der Kontext des Formenkalküls, in dem das geschieht, legt es nahe, dabei an die Auflösung einer Paradoxie zu denken, nämlich der Paradoxie des Gebrauchs einer Unterscheidung, die sich selbst nicht unterscheiden kann. Wie immer, mit Hilfe dieser aktiven (wenn nicht gewaltsamen) Interpretation alteuropäischer Rationalitätsbegrifflichkeit können wir fragen, ob sie an anthropologische (oder humanistische) Begriffe wie Denken und Handeln gebunden bleiben muß oder ob man nicht zumindest die Figur des re-entry davon ablösen, kann. Und genau dieser Schritt fällt der Systemtheorie leicht, da sie ohnehin die Form des Systems durch die (asymmetrische) Unterscheidung von System und Umwelt bestimmt.
Ebenso wie für Bewußtseinssysteme ist auch für das Gesellschaftssystem ein solches re-entry unvermeidlich. Die operativ vollzogene Differenzierung von System und Umwelt kehrt in das System als Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz zurück. Kornmunikation kann nur so vollzogen werden, daß das System eine Konfusion der eigener) Operation mit dem, worüber kommuniziert wird, vermeidet. Mitteilung und Information müssen unterschieden werden und unterschieden bleiben, sonst kommt überhaupt keine Kommunikation zustande. Das System operiert in ständiger Reproduktion der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz. Das ist seine Autopoiesis. Das ermöglicht erst seine operative Geschlossenheit. Und ebenso externalisiert das Bewußtsein ständig und in jeder Operation das, was ihm sein Gehirn, das Organ für die Selbstbeobachtung des Zustandes seines Organismus, suggeriert. Auch das Bewußtsein muß ständig Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheiden und mit dieser Unterscheidung sich-selbst-im-Unterschied-zur-Umwelt beobachten. Gerade weil operative Ausgriffe in die Umwelt unmöglich sind, ist die Selbstbeobachtung mit Hilfe dieser Unterscheidung zwingende Bedingung der Autopoiesis des Systems; und zwar im Falle der Gesellschaft ebenso wie im Falle des Bewußtseins.
Wollte man eine Nachfolgebegrifflichkeit für die kosmologische Rationalität der alten Welt suchen, müßte man schon hier ansetzen. Aber das wäre dann eine operativ erzwungene "sowieso"-Rationalität, ganz unideal und ohne Option für nichtrationale Operationen. Es wäre nur die intern ständig reproduzierte Doppelorientierung an dem, was das System als sich selbst und als Umwelt identifiziert. Diese Rationalität wäre die Rationalität eines Beobachters erster Ordnung. Zu einer anspruchsvolleren Begrifflichkeit kommt man erst auf einer Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung. Das setzt voraus, daß das System sich selbst beim Vollzug des re-entry beobachtet. Es muß dann die Unterscheidung Selbstreferenz/Fremdreferenz zu Grunde legen und diese Unterscheidung in die Selbstreferenz hineinholen. Es muß Klarheit darüber gewinnen, daß nicht nur die Differenzierung des Systems gegenüber dem Rest der Welt, der dann Umwelt wird, durch eigene Operationen vollzogen wird und ohne diese münchhausenhafte Eigenbeteiligung nicht zustande käme. Sondern es muß außerdem sehen, daß die damit ermöglichte Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz eine eigene Unterscheidung ist und eigene Operationen erfordert. Auch die Unterscheidung Selbstreferenz/Fremdreferenz tritt in das durch sie Unterschiedene wieder ein. Sie wird diejenige Differenz, mit der das System sich seiner eigenen Einheit versichert. Mit dieser Einsicht wird die Welt, welche Unterscheidung immer sie formiert, zur Konstruktion. Die Welt ist darin unbestrittenermaßen Realität, denn schließlich werden die unterscheidenden und konstruierenden Operationen ja faktisch vollzogen; und unbestrittenermaßen Konstruktion, denn ohne Spaltung durch eine Unterscheidung, die auf sehr verschiedene Weise (durch jedes System anders) angesetzt werden kann, ist gar nichts zu sehen. Wir finden uns damit vor einem Tatbestand, an dem Philosophen wie Fichte oder Derrida die Philosophie in die Verzweiflung getrieben haben. Rationalität kann, wenn wir irgend in der Nachfolge alteuropäischer Begrifflichkei t bleiben wollen, nur von hier aus begriffen werden. Aber wie?
Der bekannteste Ausweg ist: auf einer externen Referenz zu bestehen. Oder, was aufs Selbe hinausläuft: auf Metaebenen auszuweichen. Man kann sich dafür auf Russell, Tarski, Gödel berufen. Im Grunde ist das noch gnadentheologisch gedacht. Soweit ich das als Nichtphilosoph überblicken kann, hat noch jede genauere Analyse des sogenannten Problems der Referenz dieses Problem zersetzt. Man denke nur an Quines Kritik des logischen Empirismus und dessen Annahme, daß Referenz, Wahrheit und Sinn (ens et verum et bonum?) konvergieren. Dir haben die Folgerung bereits gezogen: das Problem der Referenz muß durch die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz ersetzt werden — durch eine Unterscheidung, die, wie die Enzyme in Zellen, zugleich Produkt und Code der entsprechenden Systemoperationen ist. Aber gleichviel, nenn man die Gesellschaft als dasjenige System auffaßt, dem vor allem Rationalitätszumutungen gestellt sind, wird jener Ausweg der Externalisierung bzw. Metaisierung (Gödel isierung) ohnehin ungangbar. Denn wo wäre hier eine höhere Ebene oder eine Außewuelt, die erlösend oder doch konditionierend wirken könnten?10
Führt eben das zu dem Schluß, daß letztlich die Gesellschaft dasjenige System ist, an dem alle Rationalität sich als rational auszuweisen hat?
Es muß uns genügen, diese Frage zu stellen und, wie auf einer Auktion, auf andere Angebote zu warten.

Anmerkungen

  1. Siehe Humberto R. Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirkichkeit: Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie. Braunschwieg, 1982.
  2. La formation de l’esprit scientifique: Con ribution á une Psychanalyse de la connaissance objective, Paris 1938, Neudruck 1947, S. 13ff.
  3. Italo Calvino. Lezioni Americane. Milano 1988i S. 6f.
  4. George Spencer Brown, Laws of Form (1969). Neudruck New Yorli 1979.
  5. A. a. O.  S. 1.
  6. Italo Calvinoi a. a. O., S. 72. Vgl. auch Niklas Luhmann/Peter Fuchs, Reden und Schweigen, Frankfurt 1989.
  7. Das "human kind" des 18. Jahrhunderts hatte noch durchweg diesen Sinn, während "humankind" nach den Direktiven amerikanischer Verlagseditoren/innen "heute dazu dient, den "sexistischen" Ausdruck "mankind" zu vermeiden.
  8. A. a. O., S. 143ff, 243f.
  9. Siehe: Laws of Form, a. a. O., 1979, S. 56f., 69ff.
  10. Jean-François Lyotard hat einmai (mündlich) die Vermutung geäußert, daß es für die Systemtheorie letztlich gar feine Umwelt mehr geben könne. Daß diese Vermutung an dem Punkte, den wir im Text erreicht haben, zutrifft, sei zugegeben. Ebenso sollte aber ersichtlich sein, daß dies nicht auf eine solipsistische Position hinausläuft, sondern sich gerade daraus ergibt, daß die Realdifferenz von System und Umwelt unbestrittener Ausgangspunkt bleibt.
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