Luhmann, Niklas: Der Begriff der Gesellschaft
Nikas Luhmann (1927-1998) - einer der herforragenden Soziologe des 20. Jahrhunderts, wurde 1927 in der kleinen Stadt Lüneburg in der Familie eines Bierbrauereibesitzers geboren. In den Jahren 1946-49 studierte er Jura in Freiburg, danach arbeitete er in der Landesverwaltung. Hier lernte er die Praxis der öffentliche Dienste kennen. 1960-61 nahm er Urlaub und studierte in Harvard beim Stammvater des Strukturfunktionalismus,
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Zur Inhalt
l.
II.
Ich schlage vor, bei einem solchen Versuch vom Systembegriff auszugehen.
Das besagt allerdings noch nicht viei, denn dieser Begriff wird in sehr
verschiedenem Sinne gebraucht. Eine erste Präzisierung, die sofort auf
ungewohntes Gelände führt, liegt darin, unter System nicht eine bestimmte
Sorte von Objekten verstehen, sondern eine bestimmte Unterscheidung — nämlich
die von System und Umwelt. Das muß genau gefaßt werden. ich übernehme dafür
die Begrifflichkeit, mit der George Spencer Brown seine "Laus of Form"
einleitet.4 Ein System ist die Form einer Unterscheidung,
hat also zwei Seiten: das System (als die Innenseite der Form) und die
Umwelt (als die Außenseite der Form). Erst beide Seiten machen die Unterscheidung,
machen die Form, machen den Begriff aus. Die Umwelt ist für diese Form
also ebenso wichtig, ebenso unentbehrlich wie das System selbst. Als Unterscheidung
ist die Form geschlossen. "Distinction is perfect continence", heißt es
bei Spenser Brown.5 Das heißt: alles, was man mit dieser
Unterscheidung beobachten und beschreiben kann, gehort entweder zum System
oder zur Umwelt. Und schon fallen uns Merkwürdigkeiten auf. Gehört die
Einheit des Systems zum System oder zur Umwelt. Und wo findet man die Grenze
der Form? Das, was die beiden Seiten der Form trennt, die Grenze zwischen
System und Umwelt, markiert die Einheit der Form und ist eben deshalb weder
auf der einen noch auf der anderen Seite zu fassen. Wie Grenze existiert
nur als Anweisung, sie zu überqueren — sei es von innen nach außen oder
von außen nach innen.
Lassen wir derart schwierige Fragen zunächst beiseite. Sie lassen sich
auf einem Entwicklungsstand der Theorie mit so geringer Komplexität nicht
behandeln.
Statt dessen müssen wir der Frage nachgehen, wie die Form, wie die
Differenz von System und Umwelt produziert wird. Denn die Begrifflichkeit
des Formenkalküls von Spencer Broun setzt Zeit voraus, arbeitet mit Zeit,
expliziert sich mit Zeit ähnlich wie die Logik Hegels.
Dabei ist der Begriff der Produktion (oder der poiesis im Unterschied
zu praxis) bewußt gewählt. Denn er setzt Unterscheidung als Form voraus
und behauptet, daß ein Werk hergestellt werden kann, auch wenn der Hersteller
nicht alle dazu nötigen Ursachen selbst herstellen kann. Das paßt, wie
leicht zu sehen, zur Unterscheidung von System und Umwelt. Das System disponiert
über interne und externe Ursachen für die Produktion seines Produktes,
und es kann die internen Ursachen so einsetzen, daß sich ausreichende Möglichkeiten
der Kombination von externen und internen Ursachen ergeben.
Das Werk aber, das produziert wird, ist das System selbst .sder genauer:
die Form des Systems, die Differenz von System und Umwelt. Genau das will
der Begriff der Autopoiesis bezeichnen. Er ist explizit gegen einen möglichen
Begriff von Autopraxis gesetzt. Es geht nicht um selbstbefrieuigende Aktivitäten
wie: Rauchen, Schwimmen, Schwatzen, raisonner (Man kann es nicht auf Deutsch
sagen). Der Begriff der Autopoiesis führt dann zwangsläufig zu dem schwierigen,
oft mißverstandenen Begriff der operativen Geschlossenheit des Systems.
Bezogen auf Produktion besagt er natürlich nicht; kausale Isolierung, Autarkie,
kognitiver Solipsismus, wie Gegner oft vermutet haben. Er ist vielmehr
eine zuingende Konsequenz der trivialen (begrifflich tautologischen) Tatsache,
daß kein System auferhalb seiner Grenzen operieren kann. Dies führt uns
zu dem Schluß, und er bildet die erste Etappe einer Klärung des Gesellschaftsbegriffs,
daß es sich (wenn man überhaupt den Formbegriff System anwenden will),
um ein operativ geschlossenes autopoietisches System handeln muß.
In dieser Abstraktionslage merkt man nicht so schnell, was sas bedeutet.
Dir finden uns bereits jenseits jener obstacles epistémologiques, die uns
so fragwürdig erschienen waren. Denn operative Geschlossenheit schließt
Menschen ebenso wie Länder aus dem Gesellschaftssystem aus. Und sie schließt
statt dessen Operationen der Selbstbeobachtung und der Selbstbeschreibung
ein. Die Humanisten und Geographen können aber rasch getröstet werden,
denn die Umwelt ist ja unentbehrliche Komponente der Unterscheidung, sie
gehört zur Form des Systems. Wenn wir Menschen als lebende und bewußte
Systeme und wenn wir Länder mit ihren geographischen und demographischen
Besonderheiten aus der Gesellschaft ausschließen, gehen sie der Theorie
nicht verloren. Sie finden sich nur nicht dort, wo man sie bisher mit fatalen
Konsequenzen für die Theorieentwicklung vermutet hatte. Sie finden sich
nicht in der Gesellschaft, sondern in ihrer Umwelt.
III.
Das wichtigste Stück Arbeit am Begriff der Geseilschaft
steht uns noch bevor. Es wird aufgerufen mit der Frage, welche Operation
denn das Gesellschaftssystem produziert und, wie wir hinzufügen müssen,
aus ihren Produkten produziert, das heißt reproduziert.
Es muß sich um eine präzise angebbare Operationsweise handeln. Nennt
man, wie häufig, um sicher zu gehen, viele Operationen — etwa Denken und
Handeln, Strukturbildung und Prozeßablauf — verschwindet die gesuchte Einheit
in der Blässe und Fadheit des "und". (Man sollte "unds" in theoriebautechnischen
Angelegenheiten verbieten). Wir müssen mit der Bestimmung der Operationsweise,
mit der Gesellschaft sich rpoduziert und reproduziert, etwas riskieren.
Sonst verliert der Begriff alle Kontur.
Mein Vorschlag ist: den Begriff der Kommunikation zugrundeyulegen und
damit die soziologische Theorie vom Handlungsbegriff auf den Systembegriff
umzustellen. Das ermöglicht es, das soziale System als ein operativ geschlossenes,
nur aus eigenen Operationen bestehendes, Kommunikationen aus Kommunikationen
reproduzierendes System darzustellen. Beim Begriff der Handlung sind externe
Referenzen kaum zu vermeiden. Eine Handlung erfordert, weil sie zugerechnet
werden muß, die Bezugnahme auf nicht sozial konstituierte Sachverhalte:
auf ein Subjekt, ein Individuum, für alle praktischen Zwecke sogar auf
einen lebenden Leib, also auf eine Stelle im Raum. Nur mit Hilfe des Begriffs
der Kammunikation kann man ein soziales System als ein autopoietisches
System denken, das nur aus Elementen. nämlich Kommunikationen besteht,
die es selbst durch das Netwuerk eben dieser Elemente, durch Kommunikationen
produziert und reproduziert.
Die Theorieentscheidungen für die Auffassung der Gesellschaft als autopoietisches
System und für die Charakterisierung der das System reproduzierenden Operation
als Kommunikation müssen also in einem Zuge getroffen werden. Sie bedingen
sich wechselseitig. Das heißt auch, daß der Begriff der Kommunikation zu
einem ausschlaggebenden Faktor der Bestimmung des Gesellschaftsbegriffs
wird. Je nach dem, wie man Kommunikation definiert, definiert man Gesellschaft
— und Definition hier verstanden im genauen Sinne als Bestimmung von Grenzen.
Mit anderen Worten: die Theoriekonstruktion muß mit zwei Augen durcgeführt
werden, das eine auf den Systembegriff, das andere durchgeführt werden,
das eine auf den Systembegriff gerichtet. Nur dadurch gewinnt sie die erforderliche
Tiefenschärfe.
Schon der Begriff der Kommunikation selbst verändert sich in dieser
Konstellation. (Jeder kann man ihn auf kommunikatives Handeln reduzieren
und die Beteiligung anderer, sei es als bloßen Effekt dieses Handelns,
sei es im Sinne von Hahermas als normatives Implikat registrieren. Noch
kann man Kommunikation als Übertragung von Information von einer Stelle
auf eine begreifen. Bei solchen Auffassungen würden in der einen oder anderen
Weise Träger des Geschehens vorausgesetzt, die nicht selber durch die Kommunikation
konstituiert sind. Die Kombination Systemtheorie/Kommunikationstheorie
erfordert dagegen einen Kommunikationsbegriff, der es erlaubt zu sagen,
daß alle Kornmunikation nur durch Kommunikation produziert wired — selbstverständlich
in einer Umwelt, die dies ermöglicht und toleriert.
Hierfür kann man sich eine auf antike Traditionen zurückgehende, seit
Karl Bühler übliche Unterscheidung zu nutze machen. Ich reformuliere sie
als Unterscheidung von Information, Mittelung und Verstehen. Eine Kommunikation
kommt nur zustande, wenn diese drei Aspekte synthetisiert werden können.
Im Unterschied zu bloßen Verhaltenswahrnehmungen muß das Verstehen eine
Unterscheidung von Mitteilungshandeln und Information zu Grunde legen.
Von ihr ist auszugehen. Ohne eine solche "primary distinction" kommt überhaupt
keine Kommunikation zustande. Wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, und
das ist bei der Verwenendung von Sprache unausweichliech der Fall, kann
die weitere Kommunikation sich mit sich selber befassen. Sie ist dann,
und nur dann, dafür reich und komplex genug. Sie kann sich dann mit der
Information befassen oder mit den Gründen, weshalb gerade dies jetzt und
hier gesagt wird; oder mit den Schwierigkeiten des Verstehens des Sinnes
der Kommunikation oder schließlich mit dem nächsten Schritt: ob der angebotene
Sinn angenommen oder abgelehnt werden soll. Die Unterscheidung von Information,
Mitteilung und Verstehen ist mithin eine Unterscheidung, die Unterscheidungen
produziert und die, einmal gemacht, das System im Betrieb hält. Wie leicht
einzusehen, korrespondiert das mit Batesons Begriff der Information als
eines Unterschiedes, der einen Unterschied macht. Und Kommunikation ist
nichts weiter als diejenige Operation, die eine solche Transformation von
Unterschieden in Unterschiede vollzieht.
Es ist wichtig, dabei zu beachten, daß das einzelne kommunikative Ereignis
mit dem Verstehen abgeschlossen ist. Über die Frage, ob das Verstandene
der weiteren Kommunikation zugrundegelegt werden wird oder nicht, ist damit
noch nicht entschieden. Das kann sein — oder auch nicht. Kommunikationen
können angenommen oder abgelehnt werden. Jede andere Auffassung hätte die
absurde Konsequenz, daß abgelehnte Kommunikationen gar keine gewesen sind.
Daher ist es auch falsch, der Kommunikation eine inhärente, quasi teleologische
Tendenz zum Konsens zu unterstellen. Dann wäre ja schon längst alles zu
Ende und die Welt stumm wie zuvor. Aber die Kommunikation erschopft sich
nicht, sie erzeugt vielmehr, gleichsam im Wege der Selbstprovokation, mit
jedem Schritt die Bifurkation von Annehmen und Ablehnen. Jedes kommunikative
Ereignis schließt und öffnet das System. Und nur infolge dieser Bifurkation
kann es auch Geschichte geben, deren Verlauf davon abhängt, welcher Weg
eingeschlagen wurde: der Ja-Weg oder der Nein-Weg.
IV.
VI.
Diese Überlegungen haben uns bereits in die Nähe dessen gebracht, was
über das Verhältnis von lndividuum und Gesellschaft zu sagen ist. Zunächst
sei nochmals an das entsprechende obstacle epistémologique erinnert: Die
Soziologie kann das Individuum nicht mehr gut als Teil der Gesellschaft
begreifen, sie kann sich von dieser Vorstellung aber auch nicht trennen.
Solange sie als akademische Disziplin existiert, ringt sie mit diesem Problem.
Demgegenüber geht der hier vorgestellte Gesellschaftsbegriff von einer
vollständigen Trennung von Gesellschaft und Individuum aus. Und nur auf
dieser Grundlage ist, so meine These, ein Theorieproqramm möglich, das
das Individumm ernst nimmt.
In aller Härte: Die "Telnahme" des Individuums an der Gesellschaft
ist ausgeschlossen. Es gibt keine Kommurikation zwischen Individuum und
Gesellschaff, denn Kommunikailon ist immer nur eine interne Operation des
Gesellschaftssystems. Die Gesellschaft kann mit eigenen Operationen nie
aus sich herausgreifen und das Individuum ergreifen; sie kann mit eigenen
Operationen immer nur eigene Operationen reproduzieren. Denn sie kann,
das sollte eigentlich leicht verständlich sein (aber warum akzeptiert man
es nicht?) nicht äußerhalb ihrer eigenen Grenzen operieren. Dasselbe gilt
aber auch umgekehrt für das Leben und das Bewußtsein des Individuums. Auch
hier bleiben die systemreproduzierenden Operationen im System. Kein Gedanke
kann das Beuußtsein, das er reproduziert, verlassen. Und muß man nicht
sagen: zum Glück? Denn was würde mir geschehen und wie würde ich Individualität
entwickeln können, wenn andere mit ihren Gedanken meine Gedanken bewegen
könnten? Und wie sollte man sich Gesellschaft als Hypnose aller durch alle
vorstellen können?
Möglich bleibt es natürlich, daß ein Individuum sich Gesellschaft vorstellt.
Und mögtich bleibt es erst recht, daß Kommunikation Personen als Adressaten
und als Themen verwendet. Aber dann sollte man im strikten antiken Sinn
von Personen sprechen und nicht von Individuen (Menschen, Bewußtsein, Subjekten
etc.). Namen und Pronomina, die in der Kammunikation verwendet werden,
haben nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem, was sie bezeichnen. Niemand
ist "ich". So wenig wie das Wort Apfel ein Apfel ist.
Individualität ernst genommen, das heißt: Individuen als Produkt ihrer
eigenen Tätigkeit begreifen, als selbstreferentielle historische Maschinen,
die mit jeder eigenen Operation den Ausgangszustand für weitere Operationen
bestimmen und dies nur durch eigene Operationen tun können.
Es gibt daher auch keine normative Integration von Individuen in die
Gesellschaft. Es gibt, anders gesagt, keine Normen, von denen man nicht
abweichen könnte, wenn es einem gefällt. Und es gibt keinen Konsens, wenn
dies heißen soll, daß die empirischen Zustände, in denen Individuen sich
befinden, irgendwie übereinstimmen. Es gibt nur entsprechende Beobachtungsschemata,
in denen ein Beobachter sich selbst zu der Feststellung determiniert, daß
ein Verhalten mit einer Norm übereinstimmt oder von ihr abweicht. Und dieser
Beobachter kann auch ein kommunizierendes System sein — ein Gericht, die
Massenmedien etc. Wenn man nach der Realitätsgrundlage von Normen oder
von Konsensunterstellungen fragt, muß man deshalb einen Beobachter beobachten;
und wenn man darauf verzichtet, Gott als Weltbeobachter zu akzeptieren,
gibt es dafür immer mahrere Möglichkeiten.
Erst wenn man die Theorie in dieser Radikalität akzeptiert, kann man
sehen, was der Ergänzungsbegriff der strukturellen Kopplung leistet. Er
erklärt, daß es trotz dieser operativen Geschlossenheit in der Welt nicht
beliebig zugeht. Strukturelle Kopplungen sorgen für Häufung bestimmter
und Auschließung anderer Irritationen. Dadurch ergeben sich Trends in der
Selbstdetermination von Strukturen, die davon abhängen, mit welchen Irritationen
sie es zu tun haben. So sind die Organismen auf die Anziehungskraft der
Erde eingestellt, und dies in oft sehr spezifischer Weise. (Ein Wal zerquetscht
durch sein pures Gewicht seine eigenen inneren Organe, wenn er nicht im
Wasser schuimmt, sondern strandet). Ein Menschenkind, daß ständig den sonderbaren
Geräuschen ausgesetzt ist, die als Sprache funktionieren, lernt sprechen.
Jede Gesellschaft sozialisiert die Individuen auf der anderen Seite ihrer
strukturellen Kopplungen und sie ist als Gesellschaft genau darauf eingestellt.
Die Sprache ist binär codiert mit der Möglichkeit, jede Mitteilung bejahend
oder verneinend zu beantworten. Jede Norm wird gegen die Möglichkeit abweichenden
Verhaltens projiziert. Die Gesellschaft placiert auf diese Weise die (gänzlich
unkontrollierbaren) Individuen in ein optionales Schema. Sie konzediert,
was sie ohnehin nicht ändern kann, als Freiheit; und dies in einer so stark
schematisierten Form, das die Kommunikation über Jas oder über Neins, über
konformes oder über abweichendes Verhalten fortgesetzt werden kann, wie
immer sich das Individuum entscheidet. Wir erkennen darin evolutionär extrem
unwahrscheinliche, hoch selektive Einrichtungen die Trennung und Verbindung
von Systemen, von Freiheit und Ordnung.
Freiheit und Ordnung — das waren die Problemtermini (oder die "Variablen")
des letzten überzeugenden Rationatätsbegriffs, den Europa hervorgebracht
hat: So viel Freiheit wie möglich bei so viel Ordnung wie nötig, so könnte
man das liberale Credo in einer an Leibniz angelehnten Weise formulieren.
Seitdem gibt es nur noch Zerfallsprodukte, sei es in der Form einer Unterscheidung
mehrerer Rationalitätsbegriffe ohne Bestimmung der Rationalität per se
(Weber, Habermas), sei es in Form, der Unterscheidung von Rationalität
und Irrationalität, die beiden Seiten der Unterscheidung ihre Berechtigung
zugesteht — und wieder: ohne anzugeben, worin denn die Aussage eben dieser
Unterscheidung bestehe; oder anders formuliert, was denn durch ihre Form
bezeichnet werde. Dem entspricht die Verflüchtigung des Begriffs der Vernunft:
Aus einer Eigenschaft menschlicher Lebewesen ist ein nur approximativ zu
erreichendes, im wörtlichen Sinne utopisches Ideal geworden.
Es ist nicht leicht zu sehen, ob überhaupt und wie ein systemtheoretischsr
Gesellschaftsbegriff aus diesem Dilemma heraushelfen könnte. In jedem Falle
gibt es kein Zurück zum alteuropäischen Rationalitätskontinuum von Sein
und Denken oder von Natur und Handlung, bei dem die Rationalität genau
in der Konvergenz des so Unterschiedenen lag. Also darin, daß das Denken
auf die ihm eigene Weise dem Sein entsprach oder das Handeln auf die ihm
eigene Weise der Natur. Immerhin fällt an Unterscheidungen nie Sein/Denken
und Natur/Handlung eine eigentümliche Asymmetrie auf, in der sich, von
heute her gesehen, die Struktur von Rationalität zu verbergen scheint.
Wenn man anzunehmen hat, daß das Denken im eigenen Sein dem Sein zu entsprechen
habe und das Handeln in der eigenen Natur der Natur, so kommt die Unterscheidung
offenbar auf der einen ihrer beiden Seiten, im Denken bzw Handeln, nochmals
vor. George Spencer Brown nennt die Operation, die eine solche Struktur
realisiert, ein "re-entry" der Form in die Form — oder der Unterscheidung
in das durch sie Unterschiedene.9 Der Kontext des
Formenkalküls, in dem das geschieht, legt es nahe, dabei an die Auflösung
einer Paradoxie zu denken, nämlich der Paradoxie des Gebrauchs einer Unterscheidung,
die sich selbst nicht unterscheiden kann. Wie immer, mit Hilfe dieser aktiven
(wenn nicht gewaltsamen) Interpretation alteuropäischer Rationalitätsbegrifflichkeit
können wir fragen, ob sie an anthropologische (oder humanistische) Begriffe
wie Denken und Handeln gebunden bleiben muß oder ob man nicht zumindest
die Figur des re-entry davon ablösen, kann. Und genau dieser Schritt fällt
der Systemtheorie leicht, da sie ohnehin die Form des Systems durch die
(asymmetrische) Unterscheidung von System und Umwelt bestimmt.
Ebenso wie für Bewußtseinssysteme ist auch für das Gesellschaftssystem
ein solches re-entry unvermeidlich. Die operativ vollzogene Differenzierung
von System und Umwelt kehrt in das System als Unterscheidung von Selbstreferenz
und Fremdreferenz zurück. Kornmunikation kann nur so vollzogen werden,
daß das System eine Konfusion der eigener) Operation mit dem, worüber kommuniziert
wird, vermeidet. Mitteilung und Information müssen unterschieden werden
und unterschieden bleiben, sonst kommt überhaupt keine Kommunikation zustande.
Das System operiert in ständiger Reproduktion der Unterscheidung von Selbstreferenz
und Fremdreferenz. Das ist seine Autopoiesis. Das ermöglicht erst seine
operative Geschlossenheit. Und ebenso externalisiert das Bewußtsein ständig
und in jeder Operation das, was ihm sein Gehirn, das Organ für die Selbstbeobachtung
des Zustandes seines Organismus, suggeriert. Auch das Bewußtsein muß ständig
Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheiden und mit dieser Unterscheidung
sich-selbst-im-Unterschied-zur-Umwelt beobachten. Gerade weil operative
Ausgriffe in die Umwelt unmöglich sind, ist die Selbstbeobachtung mit Hilfe
dieser Unterscheidung zwingende Bedingung der Autopoiesis des Systems;
und zwar im Falle der Gesellschaft ebenso wie im Falle des Bewußtseins.
Wollte man eine Nachfolgebegrifflichkeit für die kosmologische Rationalität
der alten Welt suchen, müßte man schon hier ansetzen. Aber das wäre dann
eine operativ erzwungene "sowieso"-Rationalität, ganz unideal und ohne
Option für nichtrationale Operationen. Es wäre nur die intern ständig reproduzierte
Doppelorientierung an dem, was das System als sich selbst und als Umwelt
identifiziert. Diese Rationalität wäre die Rationalität eines Beobachters
erster Ordnung. Zu einer anspruchsvolleren Begrifflichkeit kommt man erst
auf einer Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung. Das setzt voraus, daß
das System sich selbst beim Vollzug des re-entry beobachtet. Es muß dann
die Unterscheidung Selbstreferenz/Fremdreferenz zu Grunde legen und diese
Unterscheidung in die Selbstreferenz hineinholen. Es muß Klarheit darüber
gewinnen, daß nicht nur die Differenzierung des Systems gegenüber dem Rest
der Welt, der dann Umwelt wird, durch eigene Operationen vollzogen wird
und ohne diese münchhausenhafte Eigenbeteiligung nicht zustande käme. Sondern
es muß außerdem sehen, daß die damit ermöglichte Unterscheidung von Selbstreferenz
und Fremdreferenz eine eigene Unterscheidung ist und eigene Operationen
erfordert. Auch die Unterscheidung Selbstreferenz/Fremdreferenz tritt in
das durch sie Unterschiedene wieder ein. Sie wird diejenige Differenz,
mit der das System sich seiner eigenen Einheit versichert. Mit dieser Einsicht
wird die Welt, welche Unterscheidung immer sie formiert, zur Konstruktion.
Die Welt ist darin unbestrittenermaßen Realität, denn schließlich werden
die unterscheidenden und konstruierenden Operationen ja faktisch vollzogen;
und unbestrittenermaßen Konstruktion, denn ohne Spaltung durch eine Unterscheidung,
die auf sehr verschiedene Weise (durch jedes System anders) angesetzt werden
kann, ist gar nichts zu sehen. Wir finden uns damit vor einem Tatbestand,
an dem Philosophen wie Fichte oder Derrida die Philosophie in die Verzweiflung
getrieben haben. Rationalität kann, wenn wir irgend in der Nachfolge alteuropäischer
Begrifflichkei t bleiben wollen, nur von hier aus begriffen werden. Aber
wie?
Der bekannteste Ausweg ist: auf einer externen Referenz zu bestehen.
Oder, was aufs Selbe hinausläuft: auf Metaebenen auszuweichen. Man kann
sich dafür auf Russell, Tarski, Gödel berufen. Im Grunde ist das noch gnadentheologisch
gedacht. Soweit ich das als Nichtphilosoph überblicken kann, hat noch jede
genauere Analyse des sogenannten Problems der Referenz dieses Problem zersetzt.
Man denke nur an Quines Kritik des logischen Empirismus und dessen Annahme,
daß Referenz, Wahrheit und Sinn (ens et verum et bonum?) konvergieren.
Dir haben die Folgerung bereits gezogen: das Problem der Referenz muß durch
die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz ersetzt werden
— durch eine Unterscheidung, die, wie die Enzyme in Zellen, zugleich Produkt
und Code der entsprechenden Systemoperationen ist. Aber gleichviel, nenn
man die Gesellschaft als dasjenige System auffaßt, dem vor allem Rationalitätszumutungen
gestellt sind, wird jener Ausweg der Externalisierung bzw. Metaisierung
(Gödel isierung) ohnehin ungangbar. Denn wo wäre hier eine höhere Ebene
oder eine Außewuelt, die erlösend oder doch konditionierend wirken könnten?10
Führt eben das zu dem Schluß, daß letztlich die Gesellschaft dasjenige
System ist, an dem alle Rationalität sich als rational auszuweisen hat?
Es muß uns genügen, diese Frage zu stellen und, wie auf einer Auktion,
auf andere Angebote zu warten.
Anmerkungen