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Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Orig: Tristes Tropiques,1955)

Lévi-Strauss bezeichnet Rousseau nicht nur als Gründer der Ethnografie, er sieht sein gesamtes eigenes Werk als Fortführung des Rousseau’schen Denkens. Der rote Faden, der beide verbindet, ist der Logozentrismus. Lévi-Strauss beschreibt in seinem Buch Traurige Tropen unter anderem das schriftlose Volk der Nambikwara. Er schildert sie als harmonische, sorgenfreie Gesellschaft, deren Mitglieder rein verbal, von Angesicht zu Angesicht kommunizieren und deshalb völlig gegenwärtig leben. Dieser paradiesische Zustand wird durch das koloniale Eindringen von Schrift und Kultur gewaltsam beendet. Lévi-Strauss schildert eindrücklich, wie das Volk der Nambikwara unter dem Einfluss der westlichen Zivilisation herunterkam. Darin zeigt sich das logozentrische Erbe der strukturalistischen Ethnografie, aber auch ihre Verbundenheit zum Rousseau’schen Projekt der Suche nach dem Ursprung der Gesellschaft. Der Ethnologe erkundet eigentlich nicht die fremde Kultur, sondern die Vergangenheit der eigenen, abendländischen Zivilisation.

„Die entscheidendste Intention des vorliegenden Essays wäre es also, rätselhaft zu machen, was vorgeblich unter dem Namen der Nähe, der Unmittelbarkeit und der Präsenz (…) verstanden wird.“ (S. 123) Lévi-Strauss ignoriert denn auch eigene, an anderer Stelle verzeichnete Beobachtungen von Ungerechtigkeit und Streit bei den Nambikwara. Er übersieht zudem, dass dieses Volk bereits Schrift besitzt: Es kennt Eigennamen und Stammbäume. Der Akt der Benennung markiert den Eintritt in die Schrift: Durch die Benennung wird eine Differenz zu anderen Namen gesetzt, womit alles Eigene ausgelöscht wird. Dies ist ein Ur-Akt der sprachlichen Gewalt. Deshalb ist es falsch, die Nambikwara als schriftloses Volk zu bezeichnen, und ebenso falsch, sie als gewaltfreie Gesellschaft zu stilisieren. Auch die beeindruckend langen Familienstammbäume, die sie aus dem Gedächtnis auflisten können, erfüllen die Kriterien von Schrift. Sie bilden ein Netzwerk aus Elementen mit spezifischen, wechselseitigen Beziehungen und archivieren Information.