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Hermann Hesse: Narziß und Goldmund. Erzählung. 196 g. 319 S. 37. A. 1998. Suhrkamp-Tb. (274). Suhrkamp Taschenb. Kartoniert. SFr. 17.00 ISBN 3-518-36774-9

Leseprobe

Vor dem von Doppelsäulen getragenen Rundbogen des Klostereinganges von Mariabronn, dicht am Wege, stand ein Kastanienbaum, ein vereinzelter Sohn des Südens, von einem Rompilger vor Zeiten mitgebracht, eine Edelkastanie mit starkem Stamm; zärtlich hing ihre runde Krone über den Weg, atmete breitbrüstig im Winde, ließ im Frühling, wenn alles ringsum schon grün war und selbst die Klosternußbäume schon ihr rötliches Junglaub trugen, noch lange auf ihre Blätter warten, trieb dann um die Zeit der kürzesten Nächte aus den Blattbüscheln die matten, weißgrünen Strahlen ihrer fremdartigen Blüten empor, die so mahnend und beklemmend herbkräftig rochen, und ließ im Oktober, wenn das Obst und Wein schon geerntet war, aus der gilbenden Krone im Herbstwind die stacheligen Früchte fallen, die nicht in jedem Jahr reif wurden, um welche die Klosterbuben sich balgten und die der aus dem Welschlauch stammende Subprior Gregor in seiner Stube im Kaminfeuer briet. Fremd und zärtlich ließ der schöne Baum seine Krone überm Eingang zum Kloster wehen, ein zartgesinnter und leicht fröstelnder Gast aus einer anderen Zone, verwandt in geheimer Verwandtschaft mit den schlanken, sandsteinernen Doppelsäulchen des Portals und dem steinernen Schmuckwerk der Fensterbogen, Gesimse und Pfeiler, geliebt von den Welschen und Lateinern, von den Einheimischen als Fremdling begafft.

Unter dem ausländischen Baume waren schon manche Generationen von Klosterschülern vorübergegangen; ihre Schreibtafeln unterm Arm, schwatzend, lachend, spielend, streitend, je nach Jahreszeit barfuß oder beschuht, eine Blume im Mund, eine Nuß zwischen den Zähnen oder einen Schneeball in der Hand.

An dieser Erzählung schrieb Hesse von April 1927 bis Januar 1929. Zunächst gab es drei Varianten für den Titel: Narziß oder der Weg zur Mutter, Das Lob der Sünde, schließlich entschied er sich für Narziß und Goldmund mit dem Untertitel Geschichte einer Freundschaft, der 1929 für den Vorabdruck in der Zeitschrift Die Neue Rundschau verwendet wurde, in der Erstausgabe von 1930 jedoch entfiel. »Ich habe in diesem Buch«, schrieb Hesse 1933 an eine Leserin, »der Idee von Deutschland und deutschem Wesen, die ich seit Kindheit in mir hatte, einmal Ausdruck gegeben und ihr meine Liebe gestanden - gerade weil ich alles, was heute spezifisch »deutsch« ist, so sehr hasse.« So ist es kein Zufall, daß der Dichter seine Erzählung im Mittelalter, der vorreformatorischen Welt des Würzburger Bildhauers Tilman Riemenschneider und in dem ihm von seiner eigenen Schulzeit her bestens vertrauten gotischen Ambiente des Klosters Maulbronn, angesiedelt hat, das als Mariabronn zum Ausgangs- und Endpunkt für die Abenteuer des Künstlers Goldmund wird.

»Diese Erzählung wetteifert nicht mit der Reportage, kümmert sich nicht um Aktualität, kitzelt nicht mit politischer Tendenz, verrücktem Getue oder Pikanterie, sondern ist - im besten Sinne des Wortes -Poesie, unzeitgemäße Poesie: ... In Narziß und Goldmund bekommen die zwei Grundformen des sc der Denker und der Träumer, der Herbe und der Blühende, der Klare und der Kindliche. Beide verwandt, obwohl in allem ihr Gegenspiel, beide vereinsamt, beide von Hesse gleich gerecht in ihren Vorzügen und Schwächen erkannt, gleich exakt wiedergegeben.« Max Herrmann-Neiße