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Hamacher, Werner: Sprachgerechtigkeit. S. Fischer, Frankfurt am Main 2018.

Vom Recht, Rechte zu haben, in: Sprachgerechtigkeit, S. 86-87
"Allein von der nicht-prädikativen Sprache einer politisch wie juridisch unqualifizierten Existenz, so legt Arendt nahe, kann ein anderer Anfang eines gemeinschaftlichen Lebens ausgehen, der nicht in den Paradoxien des einen antiken politischen Menschenrechts und nicht in denjenigen der staatsbürgerlichen Menschenrechte endet. Von diesem anderen Anfang spricht in der Sprache des Wunsches das Augustinus-Zitat volo ut sis, das Arendt zur Charakterisierung einer außer-politischen Existenz-Affirmation heranzieht; von ihm spricht mit großer Emphase im letzten Absatz des Totalitarismus-Buches das für Arendts Philosophie entscheidende Augustinus-Zitat: Initium ut esset, creatus est homo - »damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen«. Dieser Anfang, der *das eigentliche Versprechen des Endes an uns ist*, kann, so kommentiert Arendt in »Vita activa«, nicht gedacht werden als Anfang zu einem vorgesetzten Zweck, sondern nur als Anfang des Anfangs oder des Anfangens selbst, als ein solcher Anfang mithin, der freistellt, was mit ihm angefangen wird und zu welchem Ziel er führt -: als ein Anfang also, der nichts als Freiheit, und Freiheit zumal von allen Bestimmungen durch eine vorgängige oder projektierte Gemeinschaft und ihre Ordnungsprinzipien ist."
"Versteht man, wie Arendt es tut, das Ende der Menschenrechte und des >Rechtes<, Rechte zu haben, als Versprechen eines solchen anderen Anfangs, so kann er nur einsetzen mit derjenigen Sprache, die aus der Rechtssphäre verdrängt worden ist, und kann sich nur fortsetzen in einer Sprache, in der die Privilegien des Urteils und der Entscheidung, die jene Sphäre beherrschen, nicht gelten. Allein die Sprache eines Anspruchs diesseits von Rechtsansprüchen, die Sprache eines bloßen Wunsches nach Gemeinschaft, der jeder bereits konstituierten Gemeinschaft vorangeht, kann der Anfang der Konstitution einer Gemeinschaft sein und sich als solcher Anfang in jeder bewahren, die ihn nicht durch das Regiment von Rechten zum Verstummen bringt. Wenn diese Sprache vor jeder Konstitution, jedem Konsens und jeder Kohärenz - vor dem cum einer communitas und ihrer Kommunikationsregeln - ein Anfang ist, dann kann jede Gemeinschaft, die mit ihr eröffnet wird, nur ihrerseits ein Anfang anderer Anfänge, eine Gemeinschaft zu unabsehbaren weiteren Gemeinschaften sein, die keiner Teleologie unterstehen, jeder Antizipation entzogen sind und keinem Begriff oder Namen, der sich von ihnen bilden lässt - und sei's der Name >Gemeinschaft< oder >Gesellschaft< -, entsprechen."
"[...] Der Wunsch, das Plädoyer, die Klage, die jedem Urteil vorausgehen, gehören für Aristoteles zur Sprache des Rhetors, dessen Überredungs- und Überzeugungsversuche zu einem Teil politischer oder juristischer Deliberation werden können, ohne schon der Sprache der Beurteilung oder der Entscheidung anzugehören. Arendt hat in ihrer »Vita activa<< zumindest einen Hinweis auf diese vor-prädikative Sprache gegeben. Vor jeder Möglichkeit einer Übereinstimmung mit Anderen bekundet sie die bloße Existenz eines Unterschieds von Anderen und beharrt auf diesem Unterschied noch in dem Versuch, ihn als solchen zur Geltung zu bringen. Wendet sie sich als Bitte an einen Anderen, so geht sie auch ihm noch voraus und ist Bitte ohne diesen Anderen, der sie erfüllen könnte, eine Bitte vor ihm, die ihm bloß einen Platz einräumt, ohne darüber entscheiden zu können, ob dieser Platz besetzt wird oder vakant bleibt -: Sie ist also jeweils zugleich Bitte an einen Anderen und an niemanden, Anbahnung einer Gemeinschaft aus der Entfernung zu ihr, Anbahnung einer gemeinsamen Sprache, ohne dass diese bereits gegeben oder auch nur ihre Möglichkeit gesichert wäre. Sie ist Rede nicht eines über Sprache verfügenden, sondern um Sprache bittenden Wesens, eines zoon logon euchomenon. Diese Bitte ist noch in jeder Aussage und jedem Urteil zu hören."