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Alexander A. Bogdanov: Wissenschaft und Philosophie. Vier Dialoge. Unter dem Pseudonym N. Verner. Deutsch in: Über Grenzen des Begreifens, S. 61ff. Zuerst in: Philosophie des Kollektivismus 1909, eine Sammlung von Essays, die den Konflikt mit Lenin verschärften, insbesondere wegen der Zuschreibung auf individuelle Beobachter (S. 58).

In diesem Essay geht es um den Übergang von Philosophie zur Wissenschaft im 15. Jhd. (ungeachtet der re-entries durch die eigentliche Philosophie des Idealismus und den vielen "Philosophien" von alternden Naturwisssenschaftlern in der Neuzeit.). Als Philosophie gilt dabei, was heute als die Lehren der alten Griechen behandelt wird, die im europäischen Mittelalter durch die neu begründete Wissenschaft aufgehoben wurden. (Mehr dazu bei G. Galilei)

Das Buch hat ein roman-typisches Plot: Ein leninistischer Parteifunktionär versucht die Philosophie so zu verstehen, dass sie praktischen Nutzen in der Politik hat. Dazu holt er sich als Anfänger (in den Dialogen als A) Rat bei einem Wissenden (in den Dialogen als B wie Bogdanov), der sich sokratisch verhält, also doziert, aber die Verantwortung dem Fragenden zuweist - aber schliesslich nichts über den praktischen Nutzen seiner Weisheit sagt.

Die Kernaussage lautet, dass die Philosophie behandele, was die Wissenschaft noch nicht behandeln kann. Als Beispiel dient Demokrit, der keine Ahung von Atomen im wissenschaftlichen Sinn hatte, aber das Atom ins Denken gebracht hat. Und umgekehrt hat Kopernikus Wissenschaft gemacht, aber nur innerhalb einer entsprechend entwickelten Produktivkraft konnte er philosophische bereits vorhandenen Ideen einen praktischen Sinn geben.

Die 4 Dialoge:

1. Dialog:
A. schildert sein erfolgsloses Bemühen um Philosophie. B unterscheidet Basis und Überbau und betont, dass man die Basis (Produktivkräfte) zuerst beherrschen müsse: Was wissen Sie über den Webstuhl, den Traktor oder das Pferd? Und über die Physiologie der Arbeit?

Das eigentliche Beispiel bildet der - in den Wissenschaften - umstrittene Energie-Begriff, während jener der Philosophen nur noch auf Unwissenheit beruhe (S. 68).

Eine ganz wesentliche Sache sei die Sprache als Werkzeug (!). Sie beherrscht jene, die sie nicht beherrschen. Und vor aller Philosophie komme das praktische (wohl politische) Leben.

2. Dialog:
A hat sich eine Zeitlang mit Wissenschaft befasst und dabei festgestellt, dass die Philosophie dazu keinen Beitrag leiste, sie scheine ihm nun als Geschwätz. B sagt: sie sei leider noch nötig, er unterscheidet eine scholastische und eine wissenschaftliche Philosophie, erstere problematisiere Erkenntnis, letztere verwende wissenschaftliche Methoden. [RT: und hat deshalb einen Gegenstand?]
Ist der Energieerhaltungssatz Wissenschaft oder Philosophie? In der Antike gab es vergleichbare "allgemeinste" Aussagen (nichts entsteht), die dann noch Philosophie waren, weil sie in der Wissenschaft nicht brauchbar waren. Es gab noch keine technische Verifikationen. Ideen, die noch nicht wissenschaftlich behandelt werden können, provozieren Wissenschaft, etwa das Pertuum mobile. Sie sind Larven (Keimformen). Die Philosophie löst sich in der Wissenschaft auf, der Anfang ist bereits gemacht (S. 79).

3. Dialog:
A hat nun auch Zweifel an der Wissenschaft, speziell, wo dies philosophische Fragen beantwortet. Er ekennt Willkür. Er betrachtet Mathematik. Elementare Geometrie und Algebra bereiten ihm keine Probleme [RT: Ich weiss nicht, weshalb er sie zu den Wissenschaften zählt, wohl aus methodischen Gründen ]. Die Infinitesimalanalyse dagegen .. oder der physikalische Wellenäther ..
B argumentiert mit einer jeweils unterstellten Referenz, wobei Abbildung nur eine Metapher sei. Sprache sei nie ein Bild, der Barometerstand 6000 Meter sei nicht irgendwie einer Höhe ähnlich. Jede Entsprechung bestehe in einer Anwendbarkeit (87).
Das Wissen müsse sich als Werkzeug bewähren und als Werkzeug sage es etwas über die Wirklichkeit aus. Die Zähne eines Tieres "entsprechen oder widerspiegeln" dessen Futter. Verschiedene Theorie sind verschiedene Werkzeuge.
Dann beginnt eine Auflösung der sprachlichen Bilder: Aether als starrer Körper meint nur Aspekte, jeder weiss, das Aether kein starrer Körper ist. Und auch "Teilchen" hat keine unmittelbare Entsprechung. Aber man kann mit der Theorie bestimmte Phänomene erfassen.
Ein Werkzeug, das Mängel hat, wird erst weggeworfen, wenn man ein besseres hat.
In Bezug auf Infinitesimale: "Unendlich kleine Grösse" ist ein Symbol für eine Prozessauffassung (S. 93). Wahrheit ist eine Maschine, mit welcher die Wirklichkeit hergestellt ("zugeschnitten und genäht") wird.

4. Dialog:
A hat sich mit der Werkzeugvorstellung angefreundet. Jetzt fragt er, wer Eigentümer dieser Werkzeuge sei [ RT die naheliegende politische Frage ]. Es geht dabei nicht um kapitalistisches Eigentum: Die Fabrik "gehöre" den Arbeitenden, auch wenn der Kapitalist noch nicht enteignet sei, weil sie das "Werkzeug" anwenden und es so zu einem kollektiven Werkzeug machen. Wie ist das mit der Theorie?

Das Subjekt der Wissenschaft sei die Gesellschaft (differenzierter noch durch die Klassen), nicht ein einzelner Mensch. Der Einzelne hätte nicht mal ein Kriterium (Robinsonade).
A frägt zur guten Letzt: Sind es nicht einzelne Menschen, die wissenschaftliche Entdeckungen machen? Anhand von N. Kopernikus: Die Gesellschaft besitzt das alte Wissen, Kopernikus dagegen das neue. B sagt, dass Kopernikus in eine Gesellschaft eingebettet sei, in welcher Könige durch die Schiffahrt neue Märkte erschliessen wollten. Dazu wurde die Navigation nötig, weshalb - im Auftrag von König Alfons astronomische Tabellen über die Positionen der Himmelskörper erstellt wurden. Kopernikus merkte, dass sie der Theorie widersprachen und dass der Widerspruch verschwindet, wenn man die Sonne ins Zentrum stellt. Wem also gehört die Entdeckung? Die Tabellen seien Ausdruck eines historischen Kollektives. Sie seien das wissenschaftliche Werk, das eben widersprüchlich war und deshalb aufgeräumt werden musste. Kopernikus sei das Werkezeug des Kollektiv gewesen. Er selbst - als Individuum - hätte die Tabellen nicht herstellen können (und hätte auch kein Motiv dazu gehabt). Und ohnehin alle die Voraussetzungen, zb die Instrumente sind kollektiv, und selbst die Erziehung von Kopernikus. [ Offen bleibt das philosophische Motiv, das Ideen vorwegnimmt, und unklar bleibt auch, was Wissenschaft vor Kopernikus gewesen sein könnte - ausser eben Philosophie ]. Nochmals: die alten Griechen kannten die Idee mit der Sonne im Zentrum, aber erst die entwickelte Paxis (Tauschhandel) ermöglichte, dass die Idee zur wissenschaftlich annehmbaren Tatsache wurde.

Dann kommt nochmals die Pointe: Die Gesellschaft ist kein Ding mit Bewusstsein, Kopernikus kein "blindes Werkzeug". Das Subjekt ist eine "organisierte Aktivität", in welcher Menschen ihre organisierte Rolle spielen, also organisiert (und nicht individualisiert) sind.


 
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Kritische Anmerkungen:

A. Bogdanov lässt offen, was er als Philosophie und als Wissenschaft bezeichnet. Seine Argumentation passt meiner Leseweise nach auf die Zeit, in welcher das von Arabern nach Europa gebrachte Wissen in Europa zur Entwicklung der Produktivkraft verwendet wurde. Die Griechen und die Römer kannten diese Art angewandter Wissenschaft nicht. Im Mittelalter dämmerte ab etwa 1100 bei den Dominikanern eine neue Leseweise der alten Texte (Bacon, Ockham), woraus sich ab 1500 eine praktische Vermessung der Welt entwickelte, die in Anlehnung an die alten Texte immer noch als Philosophie verstanden wurde, aber eigentlich eine sehr instrumentelle Orientierung hatte, also das, was A. Bogdanov als Entstehung der Wissenschaft beschreibt. Sinnigerweise wird G. Galilei, der am Anfang dieser Entwicklung steht, als Wissenschaftler und nicht als Philosoph aufgefasst. Aber auch die vermeintlichen Philosophen (Descartes, Leibniz) befassten sich mit praktischen Fragen. Eine gewisse Differenzierung ergab sich aus der zunehmenden Bedeutung des Rechnens, das eher den Naturwissenschaften zugerechnet wurde (Newton), bis es noch etwas später hauptsächlich durch Ingenieure entwickelt wurde. Die eigentliche Differenzierung besteht darin, dass die Philosophie durch I. Kant ihren Gegenstand als Erkenntnistheorie bekommen hatte, und sich dadurch von der Wissenschaft abtrennte, indem sie anstelle von Erklärungen die Bedingungen der Möglichkeit suchte. Eine Verbindung blieb in Form der Logik bestehen, die später auch als Mathematik zur Philosophie gerechnet wurde (Frege). Es ist in diesem Sinne auch kein Zufall, dass die eigentliche Philosophie als Logik und Metaphysik quasi als Kehrseite der Wissenschaft etwa 1765 gleichzeitig wie die Dampfmaschine entstanden ist.

A. Bogdanov sagt in diesem (sehr kurzen) Text auch nicht, wo und wie er K. Marx zuordnen würde, obwohl er im Dialog explizit einen leninistischen Parteifunktionär fragen lässt.

Die kopernikanische Wende ist in vielen Hinsichten exemplarisch. Bei A. Bogdanov hat die Geometrie - die bei den Griechen Philosophie war - ihren Sinn durch die Navigation in der Schifffahrt bekommen, wobei die Vermessung der Erde als Geo-Metrie eine neue Sicht auf die Erde herbeigeführt hat. H. Arendt - eine Philosophin - schreibt dagegen von mutiger Weitsicht von Philosophen, die lange vor den unnötigen empirischen Beweisen via Fernrohr schon wussten, wo die Sonne steht. Sie übersieht, dass das niemanden interessierte und dass G. Galilei beklagte, dass die Kirchfürsten, die eben auch Philosophen waren, nicht durch sein Fernrohr schauen wollten. Den Schifffahrern war vermutlich egal, wo die Sonne steht, sie hat praktische Fragen.

Die von den Griechen hergebrachte Geometrie war ein Lehre über die Darstellung von Figuren in zwei Dimensionen. Damit war sie auf dreidimensionale Gegenstände beschränkt, die sich zeichnen lassen. Geometrie ist ein Sinnbild der Philosophie, die keinen Nutzen, sondern ontologische Wahrheiten sucht. Erst mit der Wissenschaft wurde die Geometrie Teil von Berechnungen, etwa als Trigonometrie.
Ich kann nicht abschätzen, inwiefern Geometrie heute einen Beitrag zur Mathematik oder zu irgendeiner Wissenschaft darstellt.