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Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. (zuerst 1960) Piper, München, Zürich 2002, ISBN 3-492-23623-5 (englisch: The human condition. (zuerst 1958) University of Chicago Press, Chicago 1998, ISBN 0-226-02598-5.

Vita activa oder Vom tätigen Leben ist das philosophische Hauptwerk der politischen Theoretikerin Hannah Arendt. Die auf Vorlesungen beruhende Arbeit wurde zunächst 1958 in den USA unter dem Titel The Human Condition veröffentlicht. Die deutsche Fassung erschien 1960, von ihr selbst übersetzt. Vor dem Hintergrund der Geschichte politischer Freiheit und selbstverantwortlicher aktiver Mitwirkung der Bürger am öffentlichen Leben in den USA entwickelte Arendt darin eine Theorie des politischen Handelns.

Das Buch in 10 Sätzen:
in 1 Satz: Die Menschen arbeiten, stellen her und politisieren.
in 10 Sätzen: 1. Satz + (2) Arbeit bezeichnet das, was Mensch und Tier tun, um den natürlichen Prozess der Aneignug aufrecht zu erhalten (Ver-Brauch). (3) Herstellen ist das, was nur der Homo faber tut (Ge-Brauch). (4) Politik befasst sich mit der Organisation des Haushaltes. (5) Natürliche Prozesse sind kreiskausal. (6) Die Herstellung ist linear und hat einen Anfang und ein Ende. (7) Wissenschaft befasst sich mit der Natur. (8) Philosophie befasst sich mit dem, was Menschen tun. (9) Politische Theorie (anstelle von Philosophie) befasst sich mit dem, was freie Menschen (die keine Sklavenhalter sind) öffentlich tun (würden). (10) Politisches Handeln ist durch die berechnende Wissenschaft unmöglich geworden.


 

H. Arendts Text Vita passt in keiner Weise zum Kapital von K. Marx, ganz im Gegenteil. Ich beziehe mich nur auf diese beiden Texte. Ich habe sonst nichts gelesen.
Ich fasse die Vita mal zusammen, damit wir besser erkennen, ob wir dasselbe Buch gelesen haben:
In der Vita entwickelt H. Arendt die Tätigkeit. Sie unterscheidet drei Entwicklungsstufen, die sie narrativ in eine Geschichte stellt, die mit den griechischen Slavenhaltern beginnt und in der Neuzeit (also vor der Moderne) endet.
Die erste Entwicklungsstufe der Tätigkeit ist Arbeit als natürliches Verhalten, in welchem Lebensmittel zum Ver-Brauch produziert werden. Das hat mit dem gesellschaftlichen Arbeitsbegriff von K. Marx rein gar nichts zu tun, was sie explizit macht. Arbeiten müssen uch die Tiere. Die Arbeit der Menschen ist zunächst privat, jeder freie Grieche erledigt das in seinem Haus, die andern sehen nichts davon. Öffentlich ist nur, was freie Griechen in der Polis sagen.
Die zweite Entwicklungsstufe der Tätigkeit ist das Herstellen von Lebensmitteln zum Ge-Brauch, was nur Menschen tun, und was sie als Handwerker zunehmend in der Öffentlichkeit tun. Da H. Arendt diese Differenz bei den Griechen lokalisiert, kann sie feststellen, dass freie Menschen weder arbeiten noch etwa herstellen, sie befassen sich nur mit dem Wohl der Polis.
Die dritte Entwicklungsstufe der Tätigkeit ist das politische Handeln der freien Menschen.
Die Geschichte läuft aber schief. Zuerst entwickelt sich das Herstellen zur Wissenschaft, die politisches Handeln auf formelhaftes Berechnen reduziert. Dann wird das Herstellen Teil der nun öffentlichen Arbeit, in welchen den Menschen das entfremdete Konsumieren bleibt, weil die Arbeit zum Selbstzweck geworden ist und wissenschaftlich organisiert wird. Das politische Handeln ist unmöglich geworden.

Antwort an Appollonia: ich habe zusammengefasst und entsprechend verkürzt. Ich meine nicht, dass freie Griechen arbeiten, sondern dass alle animals im Stoffwechsel Nahrung VERbrauchen. Animals steht dafür, dass Arbeit den Mensch nicht auszeichnet. Das macht erst das Herstellen, weshalb dann vom HOMO faber die Rede ist.
Die Entwicklung (und deren Stufen) sind logisch.
Öffentlich ist, was andere Menschen in dem Sinne betrifft, dass sie es eingreifend beobachten. Was im Privaten geschieht, geht niemanden etwas an. POLITISCHES Handeln - und nur davon, ist die Rede - ist das Aushandeln davon, was in der Öffentlichkeit wie getan wird. Das bedingt freie Menschen. Freie Menschen sind Utopie, das hat es nie gegeben - nirgendwo. Die freien Griechen waren Unmenschen mit Sklaven. Und jede Vergesellschaftung, die wir seit der Polis kennen, beruht auf Gewalt. Die von H. Arendt spezifisch entwickelte Gewalt ist die Wissenschaft, die Entscheidungen und Verhandlungen obsolet macht, weil man berechnen kann, was richtig ist.
Aber wir wissen ja gut, dass wir verschieden lesen. Ich finde schön, dass das hier wieder zur Sprache kommt.

Antwort an Appollonia: ich neheme einfach den ersten Satz in Vita sehr wörtlich: Von Menschen ist NICHT die Rede. Es geht nicht um Konstitutionelles, sondern darum, was der Fall ist: Wie Menschen aktuell leben und in der Vergangenheit gelebt haben.
Bei den Griechen, die wir nur aus überlieferten Gechichten kennen, unterstellt sie freie Menschen mit politischem Handeln. Danach aber gibt es arbeitende Tier und den Homo faber, der sich in der Wissenschaft verloren hat. Die Ent-weltlichung fürhte zum "Sieg" - dem totalen Überhandnehmen - des fressenden Tiers (animal laborans, bei welchen produzieren und verbrauchen dasselbe ist, hör nochmals das kleine Interview unten)

Antwort an Appollonia: ach.. ich bin ein durchschnittlicher Mensch (kein Künstler und kein Naturwissenschaftler) und lese:
"... sich mehr und mehr dem Erfahrungshorizont der durchschnittlichen menschlichen Existenz entziehen." ...
"In diesem, was menschliche Existenz anlangt, wichtigsten Aspekt ist auch das Vermögen zu handeln auf die Wenigen beschränkt, und die Wenigen, die sich in seinem Erfahrungshorizont noch auskennen, dürften an Zahl den Künstlern, bzw. denen, die sich in dem Erfahrungshorizont der Welt noch auskennen, sogar noch unterlegen sein."
Aber wohl ist das Buch nicht für unsereins geschrieben.

Volltext (mit PW)

Begriffe:

industrielle Revolution: siehe Industrie

Der Historiker weiß nur zu gut, daß der Sinn geschichtlicher Abläufe meist erst zum Vorschein kommt, wenn sie ihren Abschluß erreicht haben, niemals aber zu erkennen ist, bevor die Entwicklung auf ihren Höhepunkt gekommen ist. So ist es auch in diesem Fall, als zeigte sich die wirkliche Bedeutung der Technik, d. h. der Ersetzung von Werkzeugen und Geräten durch die Maschinen, erst in dem, was wir vorläufig als das unmittelbar bevorstehende Endstadium dieser Entwicklung antizipieren, nämlich in der Automation.

Blicken wir von diesem antizipierten Endstadium auf die Entwicklung der neuzeitlichen Technik zurück, so entfaltet sie sich ungefähr in folgenden Stadien:
Im ersten Stadium, das, von der Dampfmaschine beherrscht, unmittelbar in die industrielle Revolution führte, ahmte man mit Hilfe der Maschine Naturprozesse nach oder bediente sich zu diesem Zweck auch direkt der Naturkräfte; beides unterschied sich grundsätzlich kaum von den Wasser und Windmühlen, in denen der Mensch seit unvordenklichen Zeiten bestimmte Naturkräfte eingefangen und in seinen Gebrauch gestellt hatte.
Neu war nicht die Dampfmaschine, sondern vielmehr die Entdeckung und Ausbeutung der Kohlenlager der Erde, durch die man endlich den Brennstoff gewann, um das Prinzip der Dampfmaschine anzuwenden.(9) (S. 174)
[ FN 9 Abgesehen von allen Erfahrungen, war die wesentlichste Vorbedingung der industriellen Revolution einfach die Verknappung des Holzes und die Entdeckung der Kohle als Brennstoff. In diesem Zusammenhang ist die Vermutung von R. H. Barrow bemerkenswert, daß die Lösung des »bekannten Rätsels der Wirtschaftsgeschichte des Altertums, dessen industrielle Entwicklung über einen gewissen Punkt nicht hinauskam«, darin besteht, daß man keine Maschinen zu erfinden wußte, sondern für solche Maschinen keinen Brennstoff, eben keine Kohle gegeben (Slavery in the Roman Empire, 1928, S. 123).]

Die Maschinenwerkzeuge dieses Anfangsstadiums zeigen auf ihre Weise die gleiche Nachahmung des natürlich Gegebenen; auch sie imitieren und steigern die Kraft der menschlichen Hand. Dies gerade gilt heute als mangelndes Verständnis für das Wesen der Maschine, als eine Art Kurzschluß, den man auf jeden Fall vermeiden muß. Unter keinen Umständen darf das Entwerfen von Maschinen von dem Ziel geleitet sein, die Hand des Arbeiters zu ersetzen oder die' Handbewegungen dessen nachzuahmen, der die Maschine bedient.

Im nächsten Stadium tritt die Elektrizität und. -Elektrifizierung der Welt in den Vordergrund, und in diesem Stadium befinden wir uns auch heute noch, jedenfalls im Rahmen des Alltagslebens, das ja noch nicht von der Automation oder der Nutzung der Atomenergie bestimmt ist. In diesem Stadium kommt man mit den Vorstellungen einer technisch bedingten, gigantischen, Steigerung der handwerklichen Möglichkeiten, also der Technisierung von "Herstellungsprozessen", nicht mehr aus; auf diese bereits wirklich technisch bestimmte Welt sind die Kategorien von Homo faber, für den ein Werkzeug eben ein Mittel zur Erreichung eines vorgefaßten Zweckes ist, nicht mehr anwendbar. Denn hier handelt es sich nicht mehr darum der Natur, so wie sie ist, das zu entnehmen oder zu entreißen' ~ was wir in der Form von Material brauchen und gebrauchen: wobei wir in die Natur nur eingriffen, indem wir ein Natürliches vernichteten, einen natürlichen Prozeß »künstlich« unterbrachen oder auch ihn künstlich nachahmten. In all diesen Fällen haben wir für unsere eigenen weltlichen Zwecke Natürliches verändert oder auch die Natur künstlich denaturiert, so zwar,' daß die von Menschen errichtete Welt und die Natur durchaus deutlich voneinander geschieden und unterschieden blieben.
Was wir dagegen seit Beginn unseres Jahrhunderts technisch tun, ist etwas ganz anderes. Wir haben begonnen, gewissermaßen Naturprozesse selbst zu »machen«, d.h. wir haben natürliche Vorgänge losgelassen, die niemals zustande gekommen wären ...

(S.60) schreibt H. Ahrendt, dass das unnatürliche Anwachsen der Produktivität nicht mit der Erfindung der Maschine begonnen hat, sondern mit der Organisation der Arbeitsteilung, was ich als Manufaktur lese.

"Es zeigt sich nämlich, daß die »Wahrheiten« des modernen wissenschaftlichen Weltbilds, die mathematisch beweisbar und technisch demonstrierbar sind, sich auf keine Weise mehr sprachlich oder gedanklich darstellen lassen. Sobald man versucht, diese »Wahrheiten« in Begriffe zu fassen und in einem sprechendaussagenden Zusammenhang anschaulich zu machen, kommt ein Unsinn heraus,.. (S.10)

"Denn die Wissenschaften reden heute in einer mathematischen Symbolsprache, die ursprünglich nur als Abkürzung für Gesprochenes gemeint war, sich aber hiervon längst emanzipiert hat und aus Formeln besteht, die sich auf keine Weise zurück in Gesprochenes verwandeln lassen. Die Wissenschaftler leben also bereits in einer sprach-losen Welt, aus der sie qua Wissenschaftler nicht mehr herausfinden."
und:
"Und dieser Tatbestand muß, was politische Urteilsfähigkeit betrifft, ein gewisses Mißtrauen erregen." (S.11)

Und dies nicht nur, weil ja offenbar alles politische Handeln, sofern es sich nicht der Mittel der Gewalt bedient, sich durch Sprechen vollzieht ... (S. 36)

H. Arendt über Arbeit und Konsum
Die Eingangsfrage zum Interview bringt perfekt auf den Punkt, wie ich das Buch gelesen habe. Und HA widerspricht dem nicht im geringsten Ansatz. Sie nimmt diese Feststellung als gelungenen Ansatz, um ihre deprimierende Analyse nochmals vorzutragen.
Appollonia Berger Die deprimierende Analyse ist nicht gleichzusetzen mit der Gesamtaussage - sie ist nicht Folge von Grundlagen menschl. Fähigkeiten, die sie entwickelt hat, sondern von Geschichte. Dieses Merkmal scheinst du mE zu gering einzuschätzen; oder halt: Ich halte dies für sehr relevant - mindestens so relevant wie ihre (deprimierende) Analyse der Gegenwart. (Wobei nochmal auch einkalkuliert werden kann, in welcher Gegenwart sie lebte - da nicht alles zu verlieren, ist weitaus schwieriger als heute - mindestens wenn man auf die persönliche Betroffenheit sieht.)
Rolf Todesco Appollonia Berger ja, das finde ich eine wichtige Unterscheidung: menscliche Fähigkeiten versus Geschichte. Aufgrund der Fähigkeit wäre auch eine andere Geschichte möglich gewesen. Mein Punkt ist aber, dass es DIE Geschichtenicht gibt, sondern dass Geschichten erzählt werden. Und HA erzählt die Geschichte eben so. Dass die Betroffenheit individuell und heute anders wäre, dünkt mich, weist sie im Interview zurück, gerade damit, dass die Betroffenheit ja auch wahrgenommen werden muss, wie die jeweilige Geschichte. Und mein übergeordnerter Punkt war: wenn sie sagt, dass es eben so gelaufen ist, dann könnte sie auch sagen (wollen), wie es denn besser hätte laufen können, oder wo (Utopie) sie lieber leben würde.

Geometrie und Mathematik:
"Für Plato bedeutete Mathematik in der Gestalt der Geometrie die unerläßliche Vorbereitung des Geistes für die Wahrnehmung jenes Himmels der Ideen, an dem, Gestirnen gleich, das immerwährende Sein erscheint, ungestört von BiIdernund Schatten, von vergänglicher Materie, die allem Seienden eignet, das aber in seiner reinen Phänomenalität, in seinem bloßen Erscheinen dorthin gerettet ist, nämlich gerettet und gereinigt von menschlicher Sinnlichkeit und Sterblichkeit wie von der Vergänglichkeit der Materie." (S. 339)
"Mit Descartes' analytischer Geometrie, in der räumliche Ausdehnung, die »res extensa« des natürlich und weltlich Gegebenen, »in der komplizierten Mannigfaltigkeit ihrer Beziehungen in algebraischen Formeln ausdrückbar wird«, gelang es der Mathematik, all das, was der Mensch nicht ist, auf Formeln reduzieren und in Symbole zu übersetzen, die den Strukturen entsprechen, die der Mensch in seinem Verstand vorfindet. es schließlich noch der gleichen analytischen Geometrie gez~ beweisen, daß »umgekehrt das numerisch Stimmige ...(S. 339)


 

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