Theodor W. Adorno        zurück ]      [ Stichworte ]      [ Die Hyper-Bibliothek ]      [ Systemtheorie ]         [ Meine Bücher ]

Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften (Bd. 7). 832 g. 569 S. 6. A. 1996. Suhrkamp Leinenausg. SFr. 60.00 ISBN 3-518-57083-8

Leseprobe

Zur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht. Die Einbuße an reflexionslos oder unproblematisch zu Tuendem wird nicht kompensiert durch die offene Unendlichkeit des möglich Gewordenen, der die Reflexion sich gegenübersieht. Erweiterung zeigt in vielen Dimensionen sich als Schrumpfung. Das Meer des nie Geahnten, auf das die revolutionären Kunstbewegungen um 1910 sich hinauswagten, hat nicht das verhießene abenteuerliche Glück beschieden. Statt dessen hat der damals ausgelöste Prozeß die Kategorien angefressen, in deren Namen er begonnen wurde. Mehr stets wurde in den Strudel des neu Tabuisierten hineingerissen; allerorten freuten die Künstler weniger sich des neu gewonnenen Reiches der Freiheit, als daß sie sogleich wieder nach vorgeblicher, kaum je tragfähiger Ordnung trachteten. Denn die absolute Freiheit in der Kunst, stets noch einem Partikularen, gerät in Widerspruch zum perennierenden Stande von Unfreiheit im Ganzen. In diesem ist der Ort der Kunst ungewiß geworden. Die Autonomie, die sie erlangte, nachdem sie ihre kultische Funktion und deren Nachbilder abschüttelte, zehrte von der Idee der Humanität. Sie wurde zerrüttet, je weniger Gesellschaft zur humanen wurde. In der Kunst verblaßten kraft ihres eigenen Bewegungsgesetzes die Konstituentien, die ihr aus dem Ideal der Humanität zugewachsen waren. Wohl bleibt ihre Autonomie irrevokabel. Alle Versuche, durch gesellschaftliche Funktion der Kunst zurückzuerstatten, woran sie zweifelt und woran zu zweifeln sie ausdrückt, sind gescheitert. Aber ihre Autonomie beginnt, ein Moment von Blindheit hervorzukehren. Es eignete der Kunst von je; im Zeitalter ihrer Emanzipation überschattet es jedes andere, trotz, wenn nicht wegen der Unnaivetät,- der sie schon nach Hegels Einsicht nicht mehr sich entziehen darf.