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Lippenlesen oder Absehen bezeichnet das visuelle Erkennen des Gesprochenen über die Lippenbewegungen des Sprechers. Die bei verschiedenen Lauten jeweils unterschiedlichen Stellungen der Lippen und der Mundregion einschließsslich der von außen sichtbaren Zungenstellung werden als Mundbild bezeichnet.

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Quelle: Wikipedia

E. Kapp argumentiert, dass Lippenlesen wie Gebärdenlesen sei und dass darus folge, dass Sprachlaute und Gebärden dasselbe seien - wobei er Gebärden als Händewerkzeug auffasst und Sprache als Werkzeug als Organprojektion bestimmt.

Ein Auszug aus E. Kapp (266):
Der Natur- und der Sprachwissenschaft ist es gelungen, das Geheimnis der Sprachlautbildung zu erschließen. Sehr verschiedenartige von der Lunge bis zu den Lippen fest lokalisierte Muskelbewegungen projizieren sich in ebenso viele nach Größe und Anzahl verschiedene Luftschwingungen. Sind letztere mittels des Ohres als Sprachlaute signalisiert, so bringen sie in Rückbeziehung auf die projizierende Muskeltätigkeit diese selbst nach dem Zusammenhang ihrer örtlichen Verteilung zum Verständnis. Die Entdeckung der Schwingungsverhältnisse der Schallwellen, ausgegangen von Untersuchungen über die Natur der musikalischen Klänge, ist auch die wissenschaftliche Grundlage für die Forschungen über die Bildung der Vokale und der Sprachlaute überhaupt geworden. Die Zuverlässigkeit der betreffenden Resultate hat namentlich in deren Anwendung auf den Taubstummenunterricht sich glänzend herausgestellt. Denn so genau sind die Artikulationsgebiete der Sprachlaute in Mund- und Rachenhöhle ermittelt, dass der Taubstumme die äußerlich wahrnehmbaren Muskelbewegungen des Sprechenden wie Schriftzeichen abliest. Öffentliche Blätter brachten neuerdings folgende Mitteilung über einen wahrhaft staunenswerten Erfolg : „Vor der Heidelberger philosophischen Facultät ist kürzlich ein Doctor-Examen unter Umständen abgelegt worden, welche vielleicht einzig zu nennen sind. Vor einigen Wochen (Juli 1875) kam ein junger Mann dorthin, machte bei den Professoren Besuche und gab dieAbsicht zu erkennen, die akademische Prüfung in den Naturwissenschaften abzulegen. Dergleichen geschieht so häufig, dass nichts Auffallendes dabei wäre, wenn nicht der Candidat vorsichtig geforscht hätte, ob diejenigen Professoren, welche als Examinatoren fungiren würden, – Bärte hätten ! Sollte er bei unbärtigen Lehrern auf grössere Milde gerechnet haben, wegen deren Aehnlichkeit mit Frauen ? Es stellte sich bald der wahre Grund heraus, der junge Mann ist völlig taub geboren und hat nicht mit Hülfe des Gehöres, sondern auf künstlichem Wege sprechen gelernt und solche Uebung im Ablesen des Gesprochenen von den Lippen des Sprechenden erlangt, dass für gewöhnlich von seiner Taubheit, auch nicht einmal durch den Tonfall seiner Rede, etwas zu bemerken ist. Wem solche Energie und solcher Fleiss innewohnt, der hat Recht, die wissenschaftliche Laufbahn zu ergreifen, und es ist erfreulich zu vernehmen, dass er sein Examen mit höchster Auszeichnung bestanden hat.“ Zur Erläuterung, und um jeden Zweifel an der Möglichkeit dieses Vorganges zu benehmen, mag eine Äußerung des Professors Kilian über „Taubstummen-Bildungswesen“ dienen : „Mittels der fixirten Resonanzen der Mundhöhle ist es demnach physisch ermöglicht, der Lautsprache der Taubstummen nicht nur den musikalischen Wohlklang, sondern zugleich eine Ausdehnung von mehreren Octaven zu geben, so dass mit den scharfen Dissonanzen die lästige Monotonie verschwindet. – Die Genesis der Vocale beruht auf dem von Donders entdeckten Gesetz der Hohlräume, nach welchem die Höhe und Tiefe der Vocalklänge der Weite und Enge des Mundraumes entspricht. Jeder Vocal hat seine sogenannte Eigenresonanz, seinen Mundraum, der ihm die normale Fülle und den Glanz seiner Klangfarbe verleiht.“ (Im neuen Reich, 1874, Nr. 8.) Mit Recht wird man diese Methode des aubstummenunterrichtes, wie sie sich in Deutschland im Anschluss an die Lautierung ausgebildet hat, als die organische bezeichnen können, während die außerdeutschen Anstalten, abgesehen von der Beibehaltung natürlicher Gebärden, einer künstlichen, an das Mechanische streifenden Zeichen- und Fingersprache den Vorzug geben. Der oben berührte Zusammenhang zwischen Lautsprache und Schrift tritt hier aufs Neue deutlich hervor. Die Luftschwingungen, vom Hörenden als Laut gehört, werden vom Taubstummen in der Form der die Schwingungen bewirkenden Muskel bewegungen gesehen. Und dieses Gesehenwerden der Laute geht nahezu mit derselben Schnelligkeit vor sich wie ihr Gehörtwerden, eine Fertigkeit, welche, da jedem Sprachlaut seine besondere muskuläre Artikulation entspricht und da im Verlauf einer Minute an die sechshundert Laute ausgesprochen werden, dem Ablesen einer gleichen Anzahl von Muskelzusammenziehungen in gleicher Zeit gewachsen ist. Die Fingersprache ist als Sprachsurrogat eine durch die Lautzeichen hindurchgegangene Fingergebärdensprache. Von der Schrift hat sie das Moment der Sichtbarkeit, von der Lautsprache das des flüchtigen Verschwindens und von der allgemeinen Gebärdensprache, dass sie die auf ein Spezialorgan reduzierte Gebärde ist. Hinter den genannten Deformationen der eigentlichen Schrift, Chiffern und Telegrafie einbegriffen, steht immer der gewaltige Buchstabe und hinter dem Buchstaben der allmächtige Sprachlaut, der verschleierte Logos. Aus diesem treten alle Sprachgestalten, wie verschieden sie nach Gedankeninhalt und nach äußerer und innerer Form sein mögen, hervor, und ihm kehren sich alle wieder zu, | sowohl als vollkommenstes Lehrmittel wie auch als vornehmster Lernstoff.


 
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