Neue Zürcher Zeitung ZEITFRAGEN Samstag, 23.10.1999 Nr. 247  97

Wissenschaftlicher Wunderglaube

Die Theorie des Urknalls und die Frage nach dem Anfang des Kosmos

Von Gregg Easterbrook*

    Die heute gängigen Theorien über die Anfänge des Kosmos basieren auf extrem unwahrscheinlichen Annahmen. So betrachtet ist der Urknall weniger die Widerlegung einer Schöpfermacht als eine Bestätigung dafür. Zudem liefert Darwin wohl eine gute Theorie über die Entwicklung des Lebens, aber keine über dessen Beginn. In letzter Zeit haben einige Spitzenforscher Zweifel an der Auffassung geäussert, dass die Existenz ein reines Zufallsprodukt sei.

Angenommen, Sie bejahen die Urknalltheorie über die Entstehung des Universums. Was Sie glauben, ist - gestützt auf das Modell von Alan Guth vom Massachusetts Institute of Technology  - folgendes: Sie glauben, dass das ganze Potential des Kosmos - das ganze Potential für ein Firmament von 40 Milliarden Galaxien - ursprünglich in einem Körnchen kleiner als ein Proton zusammengepackt war. Sie glauben, dass es in diesem Nukleus des Kosmos weder hyperkomprimierte Materie noch superdichte Energie, noch irgendeine fassbare Substanz gab. Der Keim des Weltalls war ein «falsches Vakuum», von einem gewichtslosen, leeren quantenmechanischen Wahrscheinlichkeitsgefüge namens «Skalarfeld» durchzogen. Was ein Skalarfeld sein soll, ist schwierig zu verstehen, aber schliesslich geht es den meisten Intellektuellen ebenso.

    Als nächstes glauben Sie, dass sich, als der «Big Bang» ertönte, das Universum in weit weniger als einer Sekunde von einer Nadelspitze zu kosmologischer Grösse ausweitete - der Raum selbst in einem Sturzbach reiner Physik nach aussen raste, wobei die Bugwelle des neuen Kosmos sich in billionenfacher Lichtgeschwindigkeit bewegte. Sie glauben, dass dieser Vorgang so gewaltige Verzerrungen entfesselte, dass das ausschlüpfende Universum einen Moment lang bis zu einem surrealen Grad gekrümmt wurde. Die extreme Krümmung veranlasste seltene «virtuelle Partikel», sich aus der Quantenunterwelt in überreicher Zahl zu materialisieren, so dass der Stoff der Existenz «virtuell aus dem Nichts erschaffen» wurde, wie «Scientific American» es einmal formuliert hat.

Kosmos im Stecknadelkopf

    Sie glauben ferner, dass, als die subatomaren Partikel sich von der unerklärbaren Ur-Realität abzusetzen begannen, sich sowohl Materie als auch Antimaterie bildete. Unverzüglich prallten diese Grundstoffe gegeneinander und zerstörten sich, so dass sie ebenso geheimnisvoll verschwanden, wie sie aufgetaucht waren. Der einzige Grund, weshalb wir unser All heute haben, liegt darin, dass der Bang leicht asymmetrisch war, was der Materie gegenüber der Antimaterie einen Vorteil im Verhältnis von etwa 1:100 Million verschaffte. Somit überlebte, als dieser stupende Eröffnungstag voller auseinanderstrebender, jeden Begriff übersteigender kosmischer Energien zu Ende ging, ein Rest von Standardmaterie, und daraus entwickelten sich die Galaxien. Das heisst: Sie glauben, dass ein mikroskopisch kleiner, transparenter, leerer Punkt im uranfänglichen Zeit-Raum nicht nur ein Universum, sondern das Potential für 100 Millionen Universen enthielt.

    Nun ist es sicher klug, die Urknalltheorie ernst zu nehmen, spricht doch manches dafür. Und doch kann, was deren schiere Unglaublichkeit angeht, nichts aus Theologie oder Metaphysik dem Big Bang das Wasser reichen. Käme diese Schilderung der kosmischen Genese aus der Bibel oder dem Koran statt aus dem Massachusetts Institute of Technology, würde sie ganz sicher als ein überspannter Mythos behandelt.

    Ebenso sicher ist, dass die majestätischen Ereignisse, welche den heutigen Hypothesen über den Urknall zugrunde liegen, anderen, traditionelleren Erzählungen von grandiosen Kräften im Kern der Existenz stark gleichen. Etwas extrem Grosses muss unser Firmament ins Leben gerufen haben, und ob dieses Etwas natürlich oder übernatürlich gewesen ist, dürfte eine rein semantische Frage sein. Allan Sandage, einer der herausragenden Astronomen der Welt, hat schon die Ansicht vertreten, der Big Bang sei am besten als ein Wunder zu verstehen, das von einer übersinnlichen Macht ausgelöst worden sei. Und der Physiker und Nobelpreisträger Charles Townes meinte: «Zu glauben, die Wissenschaft wisse bereits genug, um sicher zu sein, dass es keine übersinnlichen Kräfte gibt, ist unlogisch.» Andere prominente Forscher teilen diese Ansicht.

    Seit Darwin haben die Wissenschafter den Glauben an alles bekämpft, was jenseits von Genen, Maschinen und Atombewegungen liegt. Viele erwarteten ungeduldig den Moment, da die Wissenschaft obsolete Begriffe wie Sinn und Zweck endgültig widerlegt haben würde. Heute jedoch begegnen die Forscher grossen Rätseln gerade in den Bereichen, welche mit den grundsätzlichen Fragen des Lebens zu tun haben: Was hat das Universum verursacht? Was war davor? Wie fing das Leben an? Auch weil man davon ausging, die Wissenschaft werde unerbittlich beweisen, dass Existenz nichts weiter als eine zufällige Manifestation erbarmungsloser Kräfte sei, hat sich der Hauptstrom des postmodernen Denkens in Philosophie, Literatur, Kunst und den entsprechenden Massenkulturen grau verschlammt.

Wissenschaft und Sinn

    Doch während sich diese trostlosen Weltanschauungen selbst abbauen bis hin zur Leere - wenn nichts wirklich wichtig ist, wozu soll man sich noch die Mühe nehmen, das zu sagen? -, beginnt sich das zeitgenössische Denken zu wandeln. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse vermitteln eine inspirierende Sicht auf das Dasein, eine, in der das Leben begünstigt ist, nicht unwahrscheinlich, und das All ein freundlicher Ort, nicht ein erstarrter Bereich. Jetzt, da die Wissenschaft mehr über die Existenz herausfindet, als man früher begriffen hat, lassen sich vielleicht andere intellektuelle Disziplinen zu einer hoffnungsvolleren Sicht der menschlichen Existenz verlocken. Das westliche Denken könnte so eine Sinn-Erneuerung erleben.

    Ob zu Recht oder Unrecht, die Moderne hat Wissenschaft und Sinn wie zwei verfeindete Supermächte behandelt. Von bürokratischer Politik einmal abgesehen, widerspiegeln einzelne Aspekte dieses Konflikts eine tiefe philosophische Spaltung. Die Nachkriegswissenschaft hat nicht nur nach materiellen Erklärungen für alle Phänomene geforscht, wie sie es ja soll, sondern zeitweise eine geradezu religiöse Begeisterung für den Umsturz des Glaubens an den Tag gelegt. Steven Weinberg, der 1979 den Nobelpreis für Physik gewann, hat den berühmten Satz gesprochen: «Je verständlicher das Universum erscheint, desto sinnloser erscheint es.» Francis Crick, einer der DNS-Entdecker, hat verkündet: «Deine Freuden und Leiden, deine Erinnerungen und Zukunftswünsche, deine Gefühle von persönlicher Identität und freiem Willen sind in Wirklichkeit nichts weiter als das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und den dazu gehörenden Molekülen.» Am einflussreichsten war in dieser Beziehung das 1972 erschienene Buch «Le hasard et la nécessité» des französischen Biologie-Nobelpreisträgers Jacques Monod. Dieser behauptete, alle Phänomene liessen sich heute ohne Rückgriff auf Kriterien wie Zweck und Ziel, Bedeutung oder höhere Mächte erklären. «Der Mensch weiss endlich, dass er allein ist in der gefühllosen Immensität des Alls, aus dem er nur durch Zufall aufgetaucht ist.»

    Die Vorstellung vom Leben als einem blanken Zufall, versehen mit dem Firnis scheinbar objektiver Wissenschaftlichkeit, steht im Mittelpunkt der heutigen intellektuellen Orthodoxie. Obwohl aber Leben etwas Sinnloses sein mag, ist dies eine Meinung und nicht ein Befund, der auf Grund einer unvoreingenommenen Beweisführung zustande gekommen ist. Diese Meinung wird vom Wunsch mancher Denker verstärkt, Vergeltung zu üben dafür, dass der Glaube einst die Wissenschaft herablassend behandelt hat. Wie Alan Dressler, ein prominenter Astronom, festhält: «Viele Wissenschafter scheinen sich auf einem Kreuzzug zu befinden, um den menschlichen Wert zur Strecke zu bringen, weil sie meinen, dies werde die alte religiöse Arroganz, der Mensch sei der Mittelpunkt des Universums, zunichte machen.»

    Dabei geht die Evolutionstheorie über die fesselndste aller biologischen Fragen einfach hinweg: Wie hat der Prozess der natürlichen Auslese überhaupt begonnen? Selbst zellulare Formen von Leben sind so phantastisch komplex, dass man sich kaum vorstellen kann, wie ein unvollständiger, ursprünglicher Organismus funktioniert haben sollte, bevor seine Teile etabliert genug waren, um zu Reproduktion und Entwicklung fähig zu sein. Christian de Duve, ein belgischer Biologie-Nobelpreisträger, schreibt: «Letztlich werden wir begreifen, dass der Ursprung des Lebens nicht ein höchst unwahrscheinlicher kosmischer Scherz war, sondern eher ein fast zwangsläufiges Ergebnis von vorhandenen chemischen Strukturen und richtigen Umweltbedingungen.» Ein allgemein «Komplexitätstheorie» genannter Forschungszweig macht Fortschritte in der Beweisführung, dass hochkomplizierte lebende Moleküle wie etwa die menschlichen DNS überraschend plausibel sind.

    Konventionelle Ansichten über die Bedeutung der Evolution könnten so ebenfalls in sich zusammenfallen. Die Theorie Darwins gehört zu den herausragendsten Errungenschaften der Rationalität. Manche ihrer Verfechter bestehen jedoch darauf, Anpassung sei nicht als grossartige Manifestation der Lebenskraft darzustellen, sondern als ein Mechanismus unter vielen. Gemäss dieser Denkschule gibt es keinen evolutionären Richtungspfeil. Die lebende Welt ist über die Zeit nicht besser oder interessanter oder mannigfaltiger geworden; sie hat lediglich bedeutungslose genetische Antworten auf bedeutungslose Umweltveränderungen hervorgebracht. Der Evolution eine positive Zielrichtung zuzuschreiben, wird als «Anthropozentrismus» verschrien, gälte in diesem Fall der Mensch doch als allen früheren Organismen überlegen. Aber Nobelpreisträger de Duve gibt zu bedenken: «Intellektuelle und manche Wissenschafter vertreten die Ansicht, dass das Ergebnis einer zufälligen Änderung bedeutungslos sein müsse. Wohl spielte der Zufall eine grosse Rolle in der Evolution, aber das Ergebnis ist höchst bedeutungsvoll.»

    Die neue Denkrichtung über den Urknall äussert ausserdem die Meinung, das Universum sei nicht ein indifferentes technisches Gerüst, sondern von einem leuchtenden Geheimnis erfüllt. Nimmt man an, dass wirklich ganze Milchstrassen aus kahlen Winkeln im leeren Raum herausgeplatzt sind, dann muss doch irgendein kreativer Prozess von fast unendlicher Kraft und Grösse dahinter gesteckt haben; das theologische Bild der Schöpfung «aus dem Nichts» sieht da je länger, je besser aus. Und dann ist da noch das kleine Rätsel zu lösen, was denn den Big Bang ausgelöst hat. Jahrelang taten die Forscher dieses Thema mit einem Achselzucken ab, als würden bloss Jungstudenten oder Trottel sich darin verbeissen. Heute heisst es dazu immerhin, dass der Urknall leider alle diesbezüglichen Informationen zerstört habe.

Leuchtendes Geheimnis

    Forscher haben folgende Rechnung angestellt: Hätte das Verhältnis von Materie und Energie zum Raumvolumen, ein «Omega» genannter Wert, im Moment des Urknalls nicht innerhalb eines Billiardstelprozents des Idealwerts gelegen, wäre das werdende Universum wieder in sich zusammengefallen. Wäre die Gravitation nur ein kleines bisschen stärker gewesen, würden die Sterne so heftig strahlen, dass sie in einem einzigen Jahr ausbrennen müssten, statt die zehn Milliarden Jahre lang zu leuchten, die für unsere Sonne erwartet werden. Wäre die «starke» Kraft, die das Innere der Atome zusammenhält, nur ein bisschen schwächer gewesen, so hätten sich subatomare Teilchen zu Dampf verdünnt: Die Sterne hätten von Anfang an nicht geleuchtet.

    Auf der nächsten Ebene stellt sich die Frage, warum es statt kosmischer Anarchie überhaupt physikalische Gesetze gibt. «Es ist eine sehr knifflige Frage, was zuerst dagewesen ist, das physikalische Gesetz oder das erste Universum», räumt der Urknall-Physiker Andrei Linde von der Stanford-Universität ein. «Wo würde man ohne den Kosmos die physikalischen Gesetze festschreiben? Aber wie würde man ohne physikalisches Gesetz den Kosmos starten?»

Rache der Wissenschaft

    Einige führen an, die physikalischen Gesetze seien so, wie man sie heute kennt, weil das vorliegende Ergebnis das einzig mögliche gewesen sei. Die Quantenmechanik dagegen argumentiert anders und hat erhebliche Hinweise dafür vorgelegt, dass das Universum sehr wohl mit zerstörerischer Gravitation, dampfenden Verzerrungen oder anderen unhaltbaren Eigenschaften hätte entstehen können. Bis die Wissenschaft einmal in der Lage sein wird, tiefere Gründe für die physikalischen Gesetze zu erkennen - und «davon sind wir noch sehr, sehr weit entfernt», sagt Saul Perlmutter, Astrophysiker am Lawrence Berkeley National Laboratory -, hat die höhere Macht eine ebenso gute Chance, bestätigt wie widerlegt zu werden, was die Deutung der Welt als eines sinnlosen Zufalls in den Hintergrund treten lässt.

    In den Jahrhunderten, als Aberglaube etwas Alltägliches war und die Kirchen rationales Denken unterdrückten, kam die Ansicht auf, es wäre der Gesellschaft gedient, wenn die Wissenschaft den Glauben umstiesse. Zum Beispiel fand Rousseau, religiöse Überzeugungen würden das soziale Mitgefühl unterhöhlen, weil sie die Menschen zur Auffassung verleiteten, Gott selbst werde für die Geplagten sorgen. Viele Denker der Jahrhundertwende sahen in der wissenschaftlichen Deflation spiritueller Anschauungen einen notwendigen Schritt in der sozialen Weiterentwicklung.

    Auch heute wird die Wissenschaft nach wie vor als eine Disziplin verstanden, welche das Leben als vollautomatisierten Trick blossstellt. Eine sonderbare Art von Reverenz an die Sinnlosigkeit dominiert, besonders unter den Meinungsmachern. Neue wissenschaftliche Hinweise dafür, dass die Welt bar jeder Bedeutung sei, sind willkommen. Andeutungen von einer Bestimmung bringen in Verlegenheit. Sich der Sinnlosigkeit zu verschreiben, mag eine begründete philosophische Entscheidung sein, kann aber bei den westlichen Eliten auch zu einer Rechtfertigung von Egoismus werden. Richard Dawkins, der in Oxford lehrt, hat unter anderem die Auffassung vertreten, die Menschen seien «Maschinen zur Fortpflanzung von DNS»; auch sei es hinzunehmen, dass in einem Universum «blinder physikalischer Kräfte und genetischer Reproduktion die einen Leute verletzt werden und andere Glück haben und man sich keinen Reim darauf machen oder einen Grund dafür finden könne». Wie praktisch, dass jemand, der selber eine bevorzugte Position innehat, einem gefühllosen Universum - nicht etwa fehlendem Handeln von Menschen in bevorzugten Positionen - die Schuld an den Nöten der weniger Glücklichen zuschieben kann! Wenn es eine höhere Bestimmung gibt, dann haben wir gegenseitige Verpflichtungen und werden gerichtet, wenn diese unerfüllt bleiben. Wenn aber sowieso alles sinnlos ist, warum dann nicht sein eigenes ironisches Gehabe, seine Kapitalgewinne und seine sonstigen Pfründen geniessen?

Ein Winzling im Universum

    Die Diskussion über den Lebenssinn wird endlos auf das Nebengeleise der Extreme «Alles oder nichts» geschoben. Der Traditionalismus beharrt darauf, dass die Bestimmung zuerst da war, dass das Universum, als es ins Leben gerufen wurde, bereits seine volle metaphysische Bedeutung besass. Der Postmodernismus hält daran fest, dass eine Bestimmung unmöglich sei: Wir seien per Zufall eingetroffen, und der Zufall werde uns eines Tages zurückfordern, und das Universum kümmere sich weder um das eine noch das andere. Was dabei vernachlässigt wird, ist die Möglichkeit eines Dazwischen: Dass unser Dasein sinnvoll ist, ob es nun höhere Mächte gibt oder nicht.

    «Wenn ich vor Publikum über den Umfang und das Alter des Kosmos spreche», erzählt Astronom Dressler, «dann sagen die Leute oft: ‹Dabei fühle ich mich so unbedeutend.› Darauf antworte ich jeweils: ‹Je grösser und unpersönlicher das Universum ist, desto bedeutsamer seid ihr, denn dieser riesige, unpersönliche Ort braucht etwas Sinnvolles, das ihn auffüllt.› Wir haben den alten Glauben, die Menschheit sei im physikalischen Zentrum des Universums, aufgegeben, doch nun müssen wir zur Überzeugung zurückkehren, dass wir im Mittelpunkt des Sinns stehen.»

    * Der Autor ist als Journalist und Buchautor in den USA tätig. Seine neuste Publikation trägt den Titel: Beside Still Waters: Searching for Meaning in an Age of Doubt. Verlag William Morrow, 1998.