75 Jahre Wellenmechanik

Erwin Schrödingers wegweisender Beitrag zur Quantentheorie

Von Daniel Wyler und Karl von Meyenn*

In diesem Jahr feiert die Wissenschaft das 75-jährige Bestehen einer der folgenreichsten Schöpfungen der neueren Physikgeschichte: Unter dem Titel «Quantisierung als Eigenwertproblem» erschienen 1926 vier «Mitteilungen» des Zürcher Physikprofessors Erwin Schrödinger, die einen Zugang zur exakten Behandlung der mikroskopischen Naturvorgänge eröffneten. In Analogie zur Wellentheorie des Lichtes entwarf Schrödinger die Idee einer «Wellenmechanik» für materielle Teilchen wie das Elektron. In der ersten Arbeit stellte er eine Wellengleichung (die spätere Schrödinger-Gleichung) für das Wasserstoffatom auf und zeigte zur Verblüffung aller, dass die beobachteten Energieniveaus des Atoms den Eigenwerten seiner neuen Gleichung entsprechen. Er erweiterte daraufhin die Wellengleichung auf kompliziertere Systeme und entwickelte Näherungsmethoden zu ihrer Lösung. Der Erfolg war beispiellos und brachte in kurzer Zeit eine solche Fülle weiterer Untersuchungen hervor, dass Schrödingers Name, wie Max Born 1961 in einem Nachruf feststellte, bald zu den «meistzitierten in physikalischen Veröffentlichungen» gehörte.

Um diese Leistung zu würdigen, muss man sich den Zustand der Atomphysik vor 1925 vergegenwärtigen. Damals hatte man versucht, die Eigenschaften der Atome (die - wie man bereits wusste - aus einem Kern und den darumkreisenden Elektronen bestehen) aus der klassischen Mechanik und der Elektrodynamik zu berechnen. Aber diese bis dahin sehr erfolgreichen Theorien versagten bei der Anwendung auf Atome. Gemäss der klassischen Physik dürfte es keine stabilen Atome geben, da die Elektronen auf ihrer gekrümmten Bahn kontinuierlich Energie abstrahlen und deshalb innerhalb kürzester Zeit in den Atomkern stürzen sollten.

Zur Überwindung dieser unhaltbaren Situation postulierte Niels Bohr ad hoc, dass die Elektronen beim Vorliegen ganz bestimmter Quantisierungsbedingungen auf stabilen Bahnen umlaufen. Was die Elektronen daran hindert, auf diesen Bahnen kontinuierlich Energie abzustrahlen, konnte Bohr freilich nicht erklären. Die Mängel der Bohr'schen Postulate traten beim Ausbau der Theorie immer klarer zutage, und es wird berichtet, dass sich Otto Stern und Max von Laue in Zürich das Versprechen gegeben hätten, die Physik an den Nagel zu hängen, falls an diesem «Bohr'schen Unsinn» wirklich etwas dran wäre. Pauli nannte dies den Üetli-Schwur.

Die jüngeren Physiker waren davon überzeugt, dass die bisherigen anschaulichen Vorstellungen bei den Atomen versagten und durch völlig andere, nur mathematisch fassbare Begriffe ergänzt werden müssten. Die von Heisenberg im Juni 1925 entdeckte Matrizenmechanik schien diese Forderung zu erfüllen. Sie gestattete es, Ergebnisse der bisherigen provisorischen Theorie ohne deren zusätzliche Hilfsannahmen herzuleiten; doch der vertrackte und ungeläufige mathematische Formalismus fand wenig Anklang. Einstein war zwar beeindruckt, erklärte aber: «In Göttingen glauben sie daran (ich nicht).»

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Schrödinger noch weitgehend im Hintergrund gestanden. 1887 in Wien geboren, hatte er sich während einer relativ langen, nur durch Kriegsdienst unterbrochenen Assistentenzeit vorwiegend mit nicht quantentheoretischen Fragen beschäftigt. Nach mehreren kurzen Aufenthalten an verschiedenen Hochschulen erhielt er schliesslich 1921 eine ihm mehr zusagende Berufung an die Universität Zürich. Mit dem zuvor von Einstein, Debye und von Laue besetzten Lehrstuhl (alles spätere Nobelpreisträger) «bekam er endlich wieder etwas festeren Boden unter die Füsse».

Wegen seiner angeschlagenen Gesundheit verbrachte er mehrmonatige Liegekuren in Arosa. Hier fand er Zeit, seine Antrittsrede vom 9. Dezember 1922 vorzubereiten. Beeinflusst vom Wiener Experimentalphysiker und Naturphilosophen Franz Exner, sah er bereits damals voraus, dass eine neue Theorie des Atoms möglicherweise nicht mit unserer tief verwurzelten Vorstellung einer streng deterministischen Natur zu vereinbaren ist.

Schrödingers Hauptinteresse galt jetzt zunehmend der Quantentheorie der Gase. Debye und Einstein machten ihn auf den französischen Physiker Louis de Broglie aufmerksam, der eine eigenartige Beziehung zwischen dem Impuls eines Teilchens und einer «Wellenlänge» gefunden hatte. Ende 1925 beendete Schrödinger eine wichtige Arbeit zur Einstein'schen Gastheorie. Darin wollte er «ernst machen mit der de Broglie-Einstein'schen Ondulationstheorie der bewegten Korpuskel, nach welcher dieselbe [die Korpuskel] nichts weiter als eine Art ‹Schaumkamm› auf einer den Weltgrund bildenden Wellenstrahlung ist». Sechs Wochen später war die erste seiner vier «Mitteilungen zur Wellenmechanik» fertig. Die geheimnisvolle Quantisierungsbedingung Bohrs wird in Schrödingers Theorie sozusagen einen Schritt weiter zurückverfolgt: Sie hat ihren Grund in der Endlichkeit und Eindeutigkeit einer gewissen Raumfunktion. Der Gedanke einer «Wellentheorie der Materie» tritt uns in der zweiten Mitteilung in voller Klarheit entgegen: «Wir wissen doch heute, dass unsere klassische Mechanik bei sehr kleinen Bahndimensionen und sehr starken Bahnkrümmungen versagt. Vielleicht ist dieses Versagen eine volle Analogie zum Versagen der geometrischen Optik, d. h. der ‹Optik mit unendlich kleiner Wellenlänge›, das bekanntlich eintritt, sobald die ‹Hindernisse› der ‹Öffnungen› nicht mehr gross sind gegen die wirkliche, endliche Wellenlänge. Vielleicht ist unsere klassische Mechanik das volle Analogon der geometrischen Optik und als solches falsch, nicht in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, sie versagt, sobald die Krümmungsradien und Dimensionen der Bahn nicht mehr gross sind gegen eine gewisse Wellenlänge . . . Dann gilt es, eine ‹undulatorische Mechanik› zu suchen.» In einer separaten Arbeit «Über das Verhältnis der Heisenberg-Born-Jordan'schen Quantenmechanik zu der meinen» zeigte Schrödinger auch die mathematische Äquivalenz zur Matrizenmechanik Heisenbergs.

Auch über die Interpretation der Wellenfunktion machte sich Schrödinger Gedanken. Im Juni 1926 schreibt er über ihre physikalische Bedeutung: «Das Quadrat der Wellenfunktion ist eine Art Gewichtsfunktion im Konfigurationenraum des Systems. Die wellenmechanische Konfiguration des Systems ist eine Superposition vieler, streng genommen aller, kinematisch möglichen punktmechanischen Konfigurationen. Dabei steuert jede punktmechanische Konfiguration mit einem gewissen Gewicht zur wahren wellenmechanischen Konfiguration bei, welches Gewicht eben durch das Quadrat der Wellenfunktion gegeben ist. Wenn man Paradoxien liebt, kann man sagen, das System befindet sich gleichsam in allen kinematisch denkbaren Lagen gleichzeitig, aber nicht in allen ‹gleich stark›.»

Diese Bemerkung könnte man als wahrscheinlichkeitstheoretische Interpretation der Wellenfunktion auffassen. Allerdings erprobte erst Max Born ein paar Tage später die konsequente Anwendung dieser Idee auf reale physikalische Prozesse (die Stossvorgänge). Er bezeichnete in diesem Zusammenhang die Schrödinger'sche Wellenmechanik als die «tiefste Fassung der Quantengesetze», da mit ihr auch die nichtperiodischen Vorgänge in zwangloser Weise erfasst werden können.

Das in Schrödingers Zürcher Antrittsrede angedeutete Programm einer statistischen Naturbeschreibung war damit durchgeführt. Er selbst allerdings hat sich merkwürdigerweise im Laufe der Zeit immer mehr von dieser Interpretation distanziert. Wir können das u. a. seinem intensiven Briefwechsel mit Planck, Einstein und Lorentz aus der Zeit der Schaffung der Wellenmechanik entnehmen. Mitte 1927 beendete er einen Brief an Planck mit den Zeilen: «Nun, wie Gott will, ich halte still. Das heisst, wenn man wirklich muss, will ich mich an solche Dinge gewöhnen.»

Die Autoren danken G. Rasche für wertvolle Hintergrundinformationen und für die Zusammenstellung der Zitate.

* D. W. ist Professor für Theoretische Physik an der Universität Zürich, K. v. M. ist momentan als Wissenschaftshistoriker am Institut für Theoretische Physik der Universität Ulm tätig.

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Forschung und Technik, 25. April 2001, Nr.95, Seite 81