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Die Funktion der Handlung

Jede Handlung hat eine konstituierende Funktion in der Absicht des Handelnden. Hier geht es mir aber um die Funktion der Handlung als solcher. Wozu nehme ich Handlungen wahr?

Die Funktion der Handlung besteht darin, mir beim Beobachten eine effiziente Orientierung zu ermöglichen (Anmerkung 1). Wenn ich in einem bestimmten Verhalten eine Handlung erkenne, erkenne ich quasi auf einen Blick eine über sich hinausweisende Gesamtheit. Wo ich beispielsweise - auch nicht ohne Deutungen - sehe, wie ein Mann mit gleichmässiger Bewegung etwas verstreut, das er in einem Beutel mitträgt, kann ich einen Sähmann erkennen, der sein Feld bestellt. Ich sehe dann auf einen Blick das wachsende Korn, den Mähdrescher, die Mühle, die Backstube und das Brot auf meinem Tisch, weil ich die Handlung als Teil in einem Handlungszusammenhang erkenne.

Eine Funktion hat die Handlung für mich als Beobachter der Handlung: Durch "Handlungen" deute ich grosse Cluster in meinen Eigenzuständen. Ich verstehe, was der Sähmann macht, wenn ich darin eine Handlung erkennen kann. Dabei geht es nicht darum, dass das von mir beobachtete System handelt, sondern dass ich dessen Verhalten konsensuell begreifen kann. Ein anderer Beobachter kann das Verhalten des System konsensuell auch als sähen auffassen, also dieselben Aspekte hervorheben und mit denselben Unterscheidungen beobachten (Anmerkung 2). Vor allem kann auch der beobachtete Handelnde sein Handeln sich selbst beobachtnd als Handeln begreifen und und unter diesem Gesichtspunkt beschreiben. Der Sähmann könnte also etwa sagen, dass er säht, damit Korn wächst. Und ich könnte mein eigenes Verhalten unter gegebenen Umständen auch als Sähen wahrnehmen.

Für den Beobachter besteht die Funktion der Handlung also nicht im Resultat der Handlung, als nicht darin, dass Korn wächst, nachdem gesäht wurde, sondern darin, ein konkretes Verhalten in einem Handlungszusammenhang deuten zu können. Die Handlung strukturiert meine Beschreibung, indem sie der Beschreibung eine Perspektive gibt. Der Mann, der etwas verstreut, könnte auch als Arbeiter Salz auf gefrorene Strasse oder Plätze streuen. Mit dieser Wahrnehmung würde ich andere Vermutungen über seinen Hintergrund anstellen, aber ich würde ihn auch in einem sinnvollen Zusammenhang sehen.

  

Ich will die Funktion der Handlung anhand von Braitenberg' s Vehikel veranschaulichen. Dieses Vehikel sind konstruktiv gesehen ganz einfache "Roboter", bei welchen im einfachsten Fall ein Sensor mit einem Effektor verbunden ist, so dass sich das Vehikel beispielsweise über ein angetriebenes Rad zu einer Lichtquelle hin- oder davon wegbewegt. Für den aussenstehenden Beobachter ist das Vehikel eine Blackbox, die ein Verhalten zeigt. Für dieses Verhalten kann ich eine konstruktive Erklärung suchen, die ich eben in der Konstruktion der Vehikel finden kann. Hier geht es mir aber vorerst nicht darum, das Verhalten der Vehikel zu erklären, sondern darum, es zu beschreiben.

Wenn die Vehikel elementar sind, kann ich ihr Verhalten ganz einfach beschreiben. Ich kann aber solche Vehikel beliebig komplizierter konstruieren, indem ich mehrere Sensoren über verschiedene Sensor-Funktionen mit den Effektoren verbinde. Ich kann ausserdem mehrere der Vehikel zusammenbringen und diese so ausrüsten, dass sie beispielsweise ein Licht tragen, das in Abhängigkeit von bestimmten Umständen brennt oder nicht. Da die Vehikel mit Lichtsensoren ausgerüstet sind, reagieren sie so nicht nur auf ihr Milieu, sondern auch gegenseitig aufeinander. Das Verhalten wird dabei zu einem komplexen Phänomen, in welchem sich die Vehikel manchmal verfolgen und manchmal meiden, wobei diese Verhalten beispielsweise in Abhängigkeit der Distanz oder Geschwindigkeitsdifferenzen zwischen den Vehikeln umschlagen können. Das ganze gleicht dann einem Ameisenhaufen, der verschiedene Spiele spielt. Der Vergleich mit einem Ameisenhaufen ist eine vage Beschreibung oder Um-Schreibung dessen, was passiert (Anmerkung 3).

Meine Beschreibung wird einfacher, wenn ich Handlungen und damit verbunden Motivation und Kognition unterstelle. Im elementarsten Fall der Vehikel kann ich deren Verhalten etwa - antropomorphisierend - mit "Zuneigung" oder "Abneigung" umschreiben. Ich kann sagen, dass ein Vehikel Licht liebt oder eben nicht mag und sich deshalb so oder so verhält. In komplexeren Fällen "handeln" die Vehikel in Abhängigkeit von Motivationen wie Liebe oder Hunger unter kognitiver Berücksichtigung der jeweiligen Verhältnisse, indem sie Nahrung suchen, aber agressive Vehikel meiden, usw. Das chaotische Umherfahren bekommt durch die Projektion von Handlungen einen Sinn und wird so beschreibbar (Anmerkung 4).

  
AblehnungZuneigung

Diese Beschreibungen sind keine Erklärungen, sondern Deutungen auf der konsensuellen Ebene des Phänomens. Die Deutungen ermöglichen mir, das Phänomen konsensuell zu beobachten, weil ich wie bei einer eigentlichen Erklärung Erwartungen oder Prognosen aufbauen kann. Motivation und Kognition repräsentieren Pseudo-Erklärungen (Erklärungsprinzipien), die ich beim Beobachten von Handlungen verwende.


 
 

Metakommunikation

Die Frage nach der Funktion ist für die Beschreibung eines Systems ohne Relevanz. Beim System interessiert nur die Funktionsweise. In der Systemtheorie erläutere ich aber auch den pragmatischen Zusammenhang, in welchem ich überhaupt Systeme beobachte. Im konsensuellen Bereich, in welchem ich Systemtheorie schreibe, orientiere ich mich über Funktionen. Und Handlungen begreife ich als funktionale Beschreibungen von Verhalten.

Der Unterschied zwischen Systemtheorien und Handlungstheorien wird im Handlungsbegriff deutlich. Die Funktion der Handlung ist in Handlungstheorien immer inhaltlich gemeint.


 
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